Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 186: Die Krisen hinter der Krise

Die Moral des Geldes und die Zukunft des europä­i­schen Kapita­lismus

aus: vorgänge Nr. 186, Heft 2/2009, S. 4-22

Hatte Karl Marx am Ende doch Recht?

Die Finanz- und Wirtschaftkrise hat neue Fragen über die Zukunft des kapitalistischen Systems aufgeworfen. 20 Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer kann die Alternative selbstverständlich nicht mehr Planwirtschaft im sowjetischen Stil sein. Die Zerbrechlichkeit des kapitalistischen Systems ist aber wieder für jedermann offensichtlich. Kurioserweise verstand Marx nie völlig die Natur des Geldes, der Finanzmärkte und des Kapitals. Er erklärte die Krise des Kapitalismus durch den Fall der Profitrate auf das Realkapital. Die systemische Instabilität des Systems wohnt aber in der Finanzsphäre.

Finanzkrisen waren nicht selten in der Geschichte des Kapitalismus. Ihre Häufigkeit hat zwar abgenommen, nachdem Zentralbanken zur ultimativen Liquiditätsquelle, zum „Lender of last resort“ wurden, aber die Zwischenkriegsperiode sah dennoch größere Finanzkrisen 1919-20 (Großbritannien), 1924 (Frankreich), 1929 (die Vereinigten Staaten, Deutschland, Österreich, Ungarn) (siehe Kindleberger, 1984). Die Periode von Bretton Woods war durch außergewöhnliche Stabilität gekennzeichnet, aber nach seinem Zusammenbruch 1971 häuften sich die Krisenwellen wieder: auf die Devisenmarktturbulenzen 1972-73 folgte die Herstatt-Pleite in Deutschland 1974 und die Bankkrise in Großbritannien 1974-75; die Schuldenkrise der Entwicklungsländer bedrohte die Stabilität des Weltfinanzsystems zu Beginn der 1980er Jahre. Die 1990er Jahre sahen die Krise des Europäischen Währungssystems (1992-93), der japanischen und schwedischen Banken, die mexikanische Peso-Krise 1994, die asiatische Krise 1997, den russischen Crash 1998, gefolgt vom Beinahe-Bankrott des LTCM-Hedgefonds (Goodhart und Illing, 2002).

Es kann kein Zufall sein, dass sich diese Störungen in einer Ära häuften, in der der Neoliberalismus zur international vorherrschenden Doktrin wurde. Die Zukunft des Kapitalismus neu zu überdenken verlangt heute die grundlegenden Annahmen, auf die sich das ökonomische Modell und die Politik der letzten 40 Jahren stützten, neu infrage zustellen.

I. Die Norma­ti­vität des Geldes und des Kapitals

Sind Geld, Banken und Finanzen gut oder schlecht? Viele Menschen hat die Finanzkrise erbost. Billionen Euro sind für bailouts an Banken ausgegeben worden, die für das Wirtschaftschaos als verantwortlich gelten, während kein Geld für Schulen, Krankenhäuser oder höhere Löhne zur Verfügung steht. Nach den Exzessen der Finanzblase gibt es nun einen konservativen back-lash, der das Zurück zur Realwirtschaft fordert. So hat der französische Präsident Nicolas Sarkozy erklärt, der angelsächsische Kapitalismus sei tot[1], und im Gefolge hat er die „Moralisierung des Kapitalismus“ ausgerufen. Aber was bedeutet das? Ist es moralisch, wenn Profit mit Ökologie erwirtschaftet wird, aber gierig, wenn er durch Finanzderivate erlangt wird? Ist die Quelle allen Elends die ökonomische Rationalität von Preisen und Märkten, die knappe Mittel der Befriedigung grenzenloser Wünsche zuordnet, oder ist es der „irrationale Übermut“ der Finanzmärkte? Sollen Firmen sich einem Katechismus ethischer Corporate governance unterwerfen? Wenn öffentliche Güter mit privaten im Konflikt stehen, sind die ersten moralisch und die zweiten schlecht? Oder ist es andersrum? In der verwirrenden Debatte über diese Probleme fühlt man sich an den Satz des französischen Satirikers Coluche erinnert: „Kapitalismus ist die Ausbeutung von Menschen durch Menschen, Sozialismus ist das Gegenteil.“

Marx schrieb 1845: „Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es kommt darauf an, sie zu verändern.“ Er verstand jedoch nicht, dass wie wir die Welt interpretieren, bestimmt, wie die Welt ist. Normen und Werte geben Sinn und Richtung für menschliches Handeln und sind die intentionalen Inhalte von Institutionen (Searle, 1995). Deshalb gestalten ökonomische Lehren, Paradigmen und Prinzipien die Welt, in der wir leben. Der Kapitalismus hat sein eigenes Ethos, d.h. eine Normativität, die für das System funktional ist und die zahlreiche andere Werte der modernen Gesellschaft bestimmt. Einige Werte, insbesondere Freiheit und Gleichheit, sind der modernen kapitalistischen Wirtschaft immanent; andere haben ihre Wurzeln in traditionellen hierarchischen ökonomischen Systemen und stehen im Gegensatz zu einer modernen demokratischen Gesellschaft.

Der Kapitalismus hat seine historischen Wurzeln im Finanzsystem. Zusammen mit der Einführung der doppelten Buchführung in der Renaissance, waren es die Erfindung des Bankwesens, die Straffreiheit des Wuchers und die Freiheit, Zins zu verlangen, die die repressive Kultur des Mittelalters beendete und die Individuen befreite: die Revolution, die zwischen dem 17. und dem 19. Jahrhundert in Europa stattfand, war die allmähliche und manchmal gewaltsame Ersetzung von traditionellen Normen der Hierarchie durch das moderne Prinzip des Vertrages.

Das Vertragsprinzip setzt Freiheit und Gleichheit als politische Normen voraus, und verbreitet deren Akzeptanz. Wirtschaftsakteure müssen frei sein, Verträge schließen zu können (oder nicht), und sie sind in ihrer Freiheit gleich. Infolgedessen stellen Freiheit und Gleichheit zwei Dimensionen dar, die den modernen politischen Raum definieren, in dem Selbstständigkeit und individuelle Emanzipation möglich werden. Die ganze politische Philosophie der Moderne beruht auf diesen zwei Werten. Ohne Vertragswirtschaft und Finanzmärkte bleibt Modernität unbegreiflich.

Diese modernen Werte wurden nach der amerikanischen und französischen Revolution gesellschaftlich vorherrschend – Gramsci hätte sie hegemonial genannt. Während der Ruf nach „Freiheit“ zum Slogan des Liberalismus wurde, forderten Sozialdemokraten und Sozialisten die materielle Realisierung der Freiheit ein. Jedoch erwuchsen beide politische Ideologien und Bewegungen aus demselben ökonomischen Prinzip: dem vertragsbegründeten Individualismus. Sie standen im deutlichen Kontrast zu den Normen des konservativen Paternalismus, der die Unterordnung der Individuen unter die Gemeinschaft und die Zuweisung von Ressourcen nach Kriterien von Hierarchie, Rang und Status betonte. John Locke (1988/1689) war der erste, der ein klares und modernes Gegenprogramm zur konservativen und von seinem Gegner Robert Filmer (1991/1680) verteidigten Tory-Ideologie entwarf. Es beruhte auf dem privaten Eigentum von freien und gleichen Individuen. Karl Popper (1995) hat später den Widerspruch von modernem Individualismus und traditionellem Holismus als den Konflikt zwischen „der offenen Gesellschaft und ihren Feinden“ beschrieben.

Die Tausch­wirt­schaft

Politische Werte müssen mit den funktionellen Normen vereinbar sein, auf denen das reproduktive System einer Gesellschaft beruht. Aber die spezifische Ausformung einer Wirtschaftsmoral hängt von der Deutung der ökonomischen Paradigmen ab[2]. Das beherrschende Paradigma der ökonomischen Theorie ist die Tauschwirtschaft, in der die Menschen ihre Wohlfahrt durch den Tausch von Waren verbessern, von denen sie mehr herstellen, als sie brauchen. Geld wird als neutrales Tauschmittel gedacht, das zwar den Tausch erleichtert, aber ansonsten eher nur Schaden verursachen und zum „realen Reichtum“ nichts beitragen kann.[3] Wenn zu viel von diesem Geld zirkuliert, verzerrt die Inflation die effiziente Allokation von Ressourcen durch Märkte. Deswegen fordern Monetaristen die Kontrolle der Geldmenge und Preisstabilität als primäres Ziel für Währungspolitik. Das ist der Kern der Ideen von Milton Friedman, welche tiefe Wurzeln im Tauschparadigma der klassischen Ökonomie haben, das von John Locke, Adam Smith und David Hume begründet wurde.

In der Fortsetzung dieser Gedankenlinie hat die neoklassische Wirtschaftstheorie gezeigt, dass der Tausch von Waren auf Spot-Märkten in Verhältnis zu ihrem Grenznutzen die Wohlfahrt der Individuen maximiert. In der Folge hat die Revolution der rationalen Erwartung eine intertemporale Dimension in die Tauschwirtschaft eingeführt. Dabei wird Nutzen nicht nur durch Marktransaktionen heute maximiert, sondern auch durch Austausch in eine unbestimmte Zukunft. Infolgedessen nimmt die moderne ökonomische Theorie „vollständige Märkte“ an, d.h. ein System, in dem es Märkte für jedes Gut gibt. Indem sie ein Gut so definieren, dass es das spezifische Datum und Umfeld einschließt, in dem es konsumiert wird, können Ökonomen Entscheidungen über Konsum, Produktion und Investitionen in einer multi-periodischen und risikoreichen Welt analysieren. Dabei können sie weitgehend dieselbe Nutzentheorie verwenden, die ursprünglich zur Analyse von zeitloser Sicherheit entwickelt wurde (Flood, 1991). Durch die Einführung der Zeitdimension und von Zukunftsmärkten ergibt sich lediglich die Möglichkeit, gegenwärtigen gegen zukünftigen Verbrauch zu tauschen, wobei das Tauschverhältnis die Zeitpräferenz reflektiert.

Vollständige Märkte ermöglichen Verbrauchern, Produzenten und Investoren vollkommene Flexibilität bei der Allokation von Ressourcen, so dass Vermögenspreise immer und überall die „korrekten“ Preise sind. Diese Annahme wird „Marktefffizienzhypothese“ genannt. Futures und Options-Märkte sind dann notwendig, um die Leistungsfähigkeit der Marktwirtschaft zu verbessern. Selbst wenn man anerkennt, dass in der realen Welt Märkte nicht vollständig sind, gilt die Markteffizienzhypothese dennoch als ein theoretischer Bezugspunkt. Sie hat deshalb auch weit reichende Konsequenzen für eine Politik der Regulierung von Märkten. Dieser neoklassische Ansatz hat Unsicherheit auf kalkulierbares Risiko reduziert und damit die enorme Entwicklung von derivativen Finanzprodukten und Märkten durch Hedgefonds, Futures, Optionen, etc. möglich gemacht.

Im Bereich der Politik hat die Idee, dass jeder mögliche Zustand der Welt durch einen Markt abgebildet werden kann, die neo-liberale Verzerrung des Liberalismus bewirkt. Wenn Märkte vollständig und effizient sind, kann alles – einschließlich Externalitäten – ausgetauscht werden, und es gibt keinen Platz für Umverteilung oder die Infragestellung von materieller Ungleichheit. Alle einflussreichen Wirtschaftstheoretiker (New Classics und Neo-Keynesianer) haben mit dem „vollständigen Marktparadigma“ gearbeitet. Aber wie Buiter (2009) gezeigt hat, in einer Welt, in der es perfekte Märkte für unvorhergesehene Ansprüche gibt, sind Bankrott und Insolvenz unmöglich.

Und wenn Privatisierung, Liberalisierung, Deregulierung und Monetarismus das dominierende politische Glaubensbekenntnis werden, welche Rolle bleibt dann noch für Politik?[4]

Die Vertrags­wirt­schaft

Ein alternatives ökonomisches Paradigma zur Neoklassik ist die Vertragswirtschaft, in der die Wirtschaft als ein Netzwerk von Verträgen angesehen wird. Diese Verträge werden zwar aus Tauschtransaktion abgeleitet, aber sie haben doch ihre eigene Logik. In diesem Zusammenhang muss Geld eine entscheidende Rolle zugemessen werden. Dieses Geldparadigma ist vom „banking view“ der Geldtheorie beeinflusst. Es geht auf Keynes zurück und wurde von Minsky, Shackle (1991), Goodhart (1989), Stiglitz und Riese (2001) weiterentwickelt. Es versteht Marktagenten als durch unvollständige Information beschränkt und erklärt den Bedarf an Geld aus seiner Funktion als Zahlungsmittel, welche durch das Bestehen von Unsicherheit verursacht ist (Goodhart, 1989). In einer unsicheren Welt, in der die Menschen wenig Vertrauen in die Bereitschaft und Fähigkeit ihrer Handelspartner haben, versprochene Bezahlungen auch tatsächlich zu tätigen, verlangen Verkäufer von sofort lieferbaren Waren sofortige Bezahlung durch die Übertragung eines sicheren und liquiden Vermögensgegenstands. Das Asset, durch dessen Übertragung die Schuldverpflichtungen gelöscht wird, ist Geld (Keynes, 1930), weil Geld Liquidität ist und den „Vorteil der Sofortigkeit“ (Demsetz, 1968) hat.[5]

Geld zu besitzen, bedeutet Sicherheit zu haben. Wer auf diesen Vorteil verzichtet, will dafür kompensiert werden. Der Preis, der für diesen Vorteil zu zahlen ist, ist der Zinssatz. Je höher die Unsicherheit ist, desto höher ist der Vorteil, und demnach der Preis für die Sicherheit von Liquidität. Ein hoher Preis wird die Nachfrage nach Kredit senken, könnte aber auch ein adverse selection bias verursachen, wodurch das Kreditangebot rationiert würde. So ist Vertrauen und Stabilität in der Volkswirtschaft notwendig, damit Menschen mit Geld zahlen und Geld verleihen.

Geld ist nicht bedrucktes Papier, das aus Hubschraubern geworfen wird. In einer modernen Wirtschaft ist Geld ein Nebenprodukt des Kredites. Es ist Liquidität, die durch Zentralbanken bereitgestellt wird. Die Verbindlichkeiten der Zentralbank löschen die Schuld aus, weil sie gesetzliches Zahlungsmittel sind, d. h. sie stellen legal bescheinigte Ansprüche auf das Vermögen der Zentralbank dar. Geschäftsbanken erlangen Liquidität in dem sie Wertpapiere, d.h. eigene Schuldtitel gegen Zentralbankgeld diskontieren.[6] Mit anderen Worten, sie verwandeln ihre eigenen Ansprüche auf die zukünftigen Geldzahlungen ihrer Klienten in einen sofortigen Vorteil, d.h. sie können sofort Zahlungen leisten. Der Bedarf der Banken und anderer Agenten liquides Vermögen als Reserven zu halten, erlaubt der Zentralbank, den Zinssatz im Geldmarkt und indirekt für die ganze Wirtschaft zu steuern.

Dies hat drei Folgen:

Erstens: es gibt einen strukturellen Nachfrageüberschuss auf dem Geldmarkt. Er resultiert daraus, dass wenn ein Darlehen plus Zins zurückgezahlt wird, mehr Geld erforderlich ist, um die Schuld einzulösen als zuerst ausgeliehen worden ist.[7] Dieses zusätzliche Geld muss selbst von der Zentralbank kommen. Daher mangelt es den Geschäftsbanken im Aggregat immer an Liquidität, und die Zentralbank ist der Monopolanbieter des Geldes. Das macht Geld „das knappe Vermögen“ par excellence, nicht weil Geld im Angebot streng begrenzt ist – wie Monetaristen fordern – sondern, weil die Art, wodurch das Geld in die Wirtschaft gelangt, den Nachfrageüberhang verursacht.

Zweitens: wenn der Zinssatz den Knappheitspreis des Geldes widerspiegelt, wird die Geldwirtschaft dysfunktional, wenn der Zins auf Null fällt. Genauer gesagt, die Geldwirtschaft verkommt dann zur Tauschwirtschaft.[8] Da Geld und Kredit dann vollkommene Substitute sind, ist jedes Versprechen von zukünftiger Geldzahlung gleichwertig mit sofortiger Bezahlung. Aber das bedeutet, dass es keinen Bedarf gibt, Geld als Reservevermögen zum Schutz gegen Unsicherheit zu halten und um zukünftige Zahlungen durchführen zu können; die Nachfrage nach Geld wird dann nur vom Transaktionsmotiv, d. h. vom Tausch abgeleitet, und nicht von seiner Funktion als Zahlungsmittel.

Drittens: in einer Nullzinswirtschaft herrscht wirtschaftlicher Besitz über Eigentum, und die Verteilung der Ressourcen geschieht nicht durch Verträge, sondern durch Hierarchien. Dies ändert nicht nur die langfristige Entwicklungsdynamik der Wirtschaft, sondern auch die politische Normativität der Gesellschaft. Die Tauschwirtschaft hat als politisches Pendant Hierarchie und Autorität, da das Einhalten von Regeln und Normen sich aus dem Trade-off zwischen Eigennutzen und Strafen ableitet. Die Vertragswirtschaft stützt sich dagegen auf freie und gleiche Individuen, die demokratisch den Sozialvertrag abschließen, um ihre gemeinsamen Interessen effizient zu verwalten.

Die Folge ist, dass im Kapitalismus ein Zins von Null dysfunktional ist. Geld funktioniert dann wie seinerzeit in der Sowjetunion: es ist nicht mehr die harte Budgetbeschränkung.[9] Deshalb führt die Nullzinspolitik langfristig zur Euthanasie des Kapitalismus, aber nicht zu der der Tauschwirtschaft. Letzeres ist vielleicht der Grund, warum Wirtschaftler, die mit dem Tauschparadigma arbeiten, keinen Nachteil in einer Nullzinspolitik in der Depression sehen. Aber bei einer gleichgewichtigen Zinsrate von Null schaltet sich der Wachstumsmotor ab. Während in der Sowjetunion das Wachstum durch eine zentralisierte Autorität geplant wurde, haben klassische Wirtschaftler die Expansion der Produktion in einer dezentralisierten Tauschwirtschaft durch Gewinnsucht erklärt. Aber Habgier erklärt nicht, warum Individuen auch dann noch unter Stress und Widrigkeiten weiterarbeiten, wenn die Habgier längst befriedigt ist. Ohne diese Beharrlichkeit hätte der Kapitalismus nie überlebt. Habsucht ist kein Gleichgewichtsphänomen. Der Menschenverstand ist unbeständig und so wäre es auch die Wahl zwischen Arbeit und Freizeit, wenn Habsucht die einzige Motivation wäre. In der Vertragswirtschaft sind Profit und Nutzen der Anreiz, Produktion aufzunehmen[10], aber es sind die Schuldverpflichtung und der moralische Druck, sie zu honorieren, die die Menschen dazu zwingen, den Reichtum beständig auszuweiten und immer mehr zu produzieren.[11]

Ein positiver Zinssatz ist deshalb eine notwendige Voraussetzung dafür, dass Geld knapp bleibt und langfristig für die Expansion des Kapitalismus. Der ökonomische Mechanismus ist einfach und mächtig. Damit ein Kreditnehmer seinen Kredit plus Zinsen zurückzahlen kann, muss er einen Überschuss generieren, d.h. er braucht ein Einkommen, das höher ist als sein unmittelbarer Verbrauch. Die Differenz zwischen Einkommen und Verbrauch ist definitionsgemäß die Ersparnis, und der Teil des Einkommens, das für zukünftigen Verbrauch zu Verfügung steht, ist die gesamtwirtschaftliche Investition. Solange die Haushalte allein zum Zweck des privaten Verbrauches gegenseitig von einander Geld leihen, werden die Ersparnisse des einen durch den Konsum des anderen aufgebraucht und der Nettoeffekt ist Null. Im Aggregat sind die Ersparnisse nur dann positiv, wenn das Gesamteinkommen höher ist als der gesamte Verbrauch. Dies kann der Effekt einer intertemporalen Substitution von Verbrauch sein, oder es kann dadurch entstehen, dass das gesamt Einkommen zunimmt (Reichtumseffekt). Nun gibt es aber bei einer gegebenen Zinsrate, d.h. bei unveränderter Zeitpräferenz, keinen Substitutionseffekt. In diesem Fall ist es notwendig, dass zusätzliche Produktion gegen Geld verkauft wird um die Schuldverpflichtungen bedienen zu können.

Dies erklärt, warum Geld historisch zu einem Wachstumsmotor werden musste. Da im dynamischen Gleichgewicht die Wachstumsrate gleich der Zinsrate ist (Blanchard und Fischer, 1989), ist ein positiver Zins die beste Garantie für langfristiges Wachstum. Marx, der in der klassischen Tradition stand, hat korrekt den Mechanismus beschrieben durch den der Produktionsüberschuss erwirtschaftet wird. Aber er verstand nicht den Zusammenhang zwischen Liquidität, Unsicherheit und Kreditverträgen und der Notwendigkeit mehr Wert zu produzieren. Keynes dagegen, der ein Philosoph der Wahrscheinlichkeit war, verstand die Natur der Unsicherheit und hat sie durch seine Liquiditätstheorie für die Wirtschaftwissenschaft operationsfähig gemacht. Er sah die Instabilität der Finanzmärkte und erkannte, dass es Aufgabe der Politik ist, die Volkswirtschaft zu stabilisieren. Sein Denken war subtiler als das der nachfolgenden Keynesianer, die seine Vision einer monetären Produktionswirtschaft auf die so genannte „neoklassische Synthese“ mit dem Schwerpunkt der Fiskalpolitik reduziert haben.[12]

Der zentrale Unterschied zwischen den zwei Paradigmen besteht darin, wie sie mit Unsicherheiten umgehen: in der klassisch-, neoklassisch-monetaristischen Tradition wird Unsicherheit auf vorübergehende Störungen und Schocks reduziert, welche automatisch verwinden.[13] Im Keynesianischen Informationsparadigma ist Unsicherheit Teil der menschlichen Grundbedingung und es gibt keine Garantie, dass die Wahrscheinlichkeitsmerkmale vergangener Ereignisse auch die Wahrscheinlichkeitsverteilung von zukünftigen Ereignissen bestimmen. Wenn dies so ist, dann erfordert Unsicherheit Management und weist der Politik eine Rolle zu. Dies ist von höchster Bedeutung für die Wirtschaftspolitik. Wenn Märkte und somit der Kapitalismus die natürliche Tendenz haben, zu einem langfristigen Gleichgewicht zurückzukehren, so ist die Rolle für Politik und Regierung begrenzt: sie darf nicht intervenieren und sollte die Rahmenbedingungen von Märkten flexibel machen, da Nutzen maximierende Marktagenten alles nötige tun werden, um den Schock zu überwinden. Aber wenn Unsicherheit eine Naturgegebenheit ist, welche die Rückkehr zum Gleichgewicht verzerren und verhindern kann, dann muss der Staat die Wirtschaft stabilisieren.

Öffentliche Schuld

Wir haben uns bisher auf die Wirtschaftsmoral von privaten Verträgen konzentriert. Wir müssen nun den Staat explizit in unser Modell einführen. Öffentliche Schulden und Fiskalpolitik waren für Keynes wichtig, wenn sich eine Volkswirtschaft in der Liquiditätsfalle befindet, d.h. wenn Zinsen nahe bei Null liegen. Aber wegen der hohen Bedeutung die Keynes dem Geld zuwies, sah er die Fiskalpolitik nicht als das wichtigste wirtschaftpolitische Instrument an. Dies erklärt sich aus einem fundamentalen Unterschied zwischen privater und öffentlicher Schuld. Private Schuld wird aus zusätzlichem Einkommen getilgt; öffentliche Schuld wird dagegen aus Steuern bedient, welche zukünftig verfügbares Einkommen reduzieren. Privater Kredit zu Zwecken von Investitionen trägt deshalb zu wirtschaftlichem Wachstum bei, staatliche Anleihen dagegen nicht.[14]
Das Theorem der ricardianischen Äquivalenz wurde davon abgeleitet, dass staatliche Anleihen kein Nettovermögen sind (Barro 1974). Es bedeutet, dass Konsumenten auf der Grundlage bestimmter Informationsannahmen die Budgetbeschränkung der Regierung internalisieren, so dass der Gegenwartswert zukünftiger Steuerverbindlichkeiten dem Wert der staatlichen Neuverschuldung entspricht. Steuerzahler werden dann ihren heutigen Verbrauch reduzieren und sparen, um ihre zukünftigen Steuern bezahlen zu können. Die Nettoverschuldung der Regierung wird dann zu einem Substitutionseffekt und nicht zu einem Vermögenseffekt führen. Diese hier beschriebene Logik der öffentlichen Verschuldung entspricht dem Tauschparadigma insofern Individuen gegenwärtigen Verbrauch gegen zukünftigen eintauschen. In diesem Fall haben Fiskaldefizite keinen Einkommenseffekt und können die gesamtwirtschaftliche Nachfrage nicht stimulieren.

Barro (1974) hat allerdings zugestanden, dass die ricardianische Äquivalenz nicht länger gültig ist, wenn die Regierung ein Monopol auf Liquiditätsdienstleistungen hat. Nun ist es aber genau dies, was die Vertragswirtschaft erfordert. Denn nur Geld, das gesetzliches Zahlungsmittel ist, kann in letzter Instanz Schuldverträge auflösen. Von größter Bedeutung ist jedoch, dass wenn Regierungsanleihen von der Zentralbank gekauft werden, der Zins der von Regierungen gezahlt wird, ihr eigenes Einkommen (seignorage) ist, da die meisten Notenbanken im Besitz der Regierungen stehen. Dies bedeutet nichts anderes, als dass monetarisierte Staatsschuld zinsfrei ist. Somit repräsentieren Staatsausgaben, die durch staatliche Neuverschuldung finanziert werden, eine Zunahme des gesamtwirtschaftlichen Verbrauchs und eine Nettoreduzierung der Ersparnisse. Dadurch wird die Nachfrage stimuliert. Wenn Regierungsschulden nur partiell monetarisiert werden, so sind die Kosten der öffentlichen Neuverschuldung in Wirklichkeit subventioniert und Staatsanleihen sind positives Nettovermögen. Unten diesen extremen Bedingungen ist die Neuverschuldung des Staates unzweideutig ein Instrument für makroökonomische Stabilisierungspolitik.[15] Nichtsdestoweniger führt die staatliche Neuverschuldung nicht zu einem langfristigen Wachstumseffekt, da der Schuldendienst am Ende durch Steuern beglichen wird, d.h. durch eine Reduktion des verfügbaren Einkommens und nicht durch eine Erhöhung der Produktion.

Vom normativen Standpunkt einer monetären Wirtschaftsmoral tragen öffentliche Schuldtitel deshalb auch nicht dazu bei, Verträge zwischen freien und gleichen Bürgern zu generieren. Vielmehr fordern sie eine Unterordnung der Bürger unter die Steuerbehörden. Nur in einer Demokratie können Bürger die modernen Werte von Freiheit und Gleichheit realisieren, wonach sie der Souverän und damit der letztendliche Besitzer der Republik sind.

Politische Norma­ti­vität

Unsere beiden Wirtschaftsparadigmen haben Konsequenzen für politische Werte und Wirtschaftsmoral. In der neoklassischen Welt suchen Individuen ihren Nutzen zu maximieren, wobei mehr besser ist. Der politische Wert, der dies ermöglicht, ist was Isaiah Berlin (1958) „negative Freiheit“ genannt hat, d.h. Schutz gegen Einmischung von anderen. Aus ökonomischer Sicht bedeutet negative Freiheit freie Märkte. Dieses ist das beständige Thema der wirtschaftlichen Freiheit von Locke bis zu Adam Smiths unsichtbarer Hand, von der neoklassischen Property Rights Schule bis zum Neoliberalismus: der öffentliche Sektor muss reduziert werden. Die Reduktion der Freiheit auf negative Freiheit ist das Definitionsmerkmal des Neoliberalismus. Dabei werden wenige Fragen über den Charakter von Regierungen gestellt, solange sie erfolgreich freie Märkte schaffen. Friedman (1987) konnte folglich Pinochets Chile „ein erstaunliches politisches Wunder“ nennen.

Im alternativen Keynesianischen Paradigma hat der Staat eine Rolle als Garant der politischen Stabilität. Regierungen müssen Unsicherheit minimieren. Das ist die Rolle der makroökonomischen Politik. Dies ist jedoch nicht alles. Die Geldwirtschaft bestimmt ihre eigene Normativität für die gesamte Gesellschaft. Sie öffnet die Tür für „positive“ Freiheit, d.h. dafür, dass Individuen ihre Leben als freie und gleiche und emanzipierte Menschen selbst bestimmen können. Dabei ist die wichtigste Institution einer modernen Wirtschaft der Vertrag. Indem Geld als Zahlungsmittel verstanden wird, dass Schulden auslöscht, sieht das Keynesianische Paradigma die Geldwirtschaft in einem weiten Netz von Verträgen begründet. Wie beschrieben bedeutet dies, dass die normative Begründung aus Freiheit und Gleichheit besteht. Der Keynesianische Liberalismus ist der politische Liberalismus von gleichen Individuen und es ist sicher kein Zufall, dass amerikanische Neokonservative den politischen Liberalismus in politischem Spektrum „links“ ansiedeln.

Dieser normative Rahmen der Modernität unterscheidet sich von den holistischen Werten, die die traditionellen Gesellschaften bestimmten, und die heutzutage in neokonservativen Ideologien wieder aufflackern. In der traditionellen Gesellschaft ist es die Pflicht von Individuen dem Gesamtwesen zu dienen; für das moderne Individuum ist die Gesellschaft der Rahmen, der individuelle Entfaltung ermöglicht.[16] Im vormodernen Paradigma werden Ressourcen durch Hierarchie und Macht verteilt und die holistische Gesellschaft fordert, dass Individuen sich der Autorität eines Führers, dem Dogma des Glaubens oder den Imperativen der Gemeinschaft unterwerfen.

Diese beiden Ansätze spiegeln sich in verschiedenen Interpretationen von Staat und Regierung wider. In der traditionellen holistischen Perspektive ist der Staat die Inkarnation hierarchischer Autorität. Er hat das Gewaltmonopol und kann legitimerweise die Freiheit der Individuen einschränken. Aus moderner Sicht ist der Staat im Sozialvertrag freier und gleicher Bürger begründet. Diese Bürger sind die Besitzer der öffentlichen Güter, ebenso wie sie Besitzer privater Güter sind, und sie haben die Freiheit zu entscheiden, wie sie diese Güter verwenden wollen. Aus diesem Grund ist der moderne Staat demokratisch, der traditionelle autoritär. Es ist die gemeinschaftliche Bestimmung öffentlicher Güter durch demokratische Prozesse und Wahlmöglichkeiten, die es den Bürgern ermöglicht, ihre eigenen Lebenspläne zu bestimmen und Herren ihres eigenen Schicksals zu sein. Diese Unterscheidung zwischen einem autoritären und demokratischen Staat ist fundamentaler als der Konflikt zwischen Freiheit und Gleichheit, zwischen Liberalismus und Sozialdemokratie, der das politische Leben der Moderne prägt.

Die ökonomische Fundierung der modernen Demokratie ist die Vertragswirtschaft. Wenn freie und gleiche Bürger einen Sozialvertrag schließen, müssen sie alle die gleichen Rechte haben, Regierungen als ihre Agenten ernennen zu dürfen, und sie mit der Durchführung von Politiken beauftragen zu können, die ihre kollektiven Präferenzen reflektieren. Sie brauchen deshalb eine Regierung, die ihnen Rechenschaft schuldig ist. Im Gegensatz zur Rolle der Regierung in traditionellen Gesellschaften, wo politische Legitimität aus kollektiver Identität und kultureller Homogenität abgeleitet wird, ist eine moderne Regierung funktional und auf die Präferenzen der Bürger orientiert.

Diese normativen Überlegungen haben wichtige Konsequenzen dafür, wie man die Interaktion von Staat und Markt begreift. Die anti-keynesianische Revolution von Friedman und den Monetaristen in den siebziger Jahren hat dem Tauschwirtschaftsparadigma der Mikroökonomie Priorität gegeben und die Notwendigkeit von gesamtwirtschaftlicher Politik zur Minimierung von Unsicherheit ignoriert. Die Reduktion von Freiheit auf das negative Konzept von Einmischung hat es verhindert, den demokratischen Staat als Instrument für die positive Bestimmung kollektiver Präferenzen durch individuelle Bürger zu nutzen. Sie hat deshalb auch die umverteilenden Funktionen des Staates minimiert. Neoliberalismus ist so zum Programm für den Abbau des Sozialstaates verkommen. Die Neudefinition einer politischen Agenda für die post-neoliberale Ära erfordert ein Zurück zu den Quellen der Grundnormen der Modernität.

II. Kapita­lis­mus-­Mo­delle

Obwohl die Kreditwirtschaft historisch der Wachstumsmotor des Kapitalismus war, hat sie auch soziale Ungleichheit hervorgebracht. Wertpapierbesitzer (Kapitalisten) haben einen Anspruch auf zusätzliches Einkommen und Reichtum. Die Akkumulation des Kapitals konzentriert Eigentum in der Hand von einigen Wenigen, es sei denn, Umverteilung in der einen oder anderen Form gleicht diesen Effekt wieder aus. Die Freiheit des ökonomischen Liberalismus bleibt mithin rein formal, wenn sie nicht durch die Prinzipien von Gleichheit und Fairness ein Gegengewicht findet. Der moderne demokratische Staat dient als Instrument zur Umverteilung, wenn Gesetze die Präferenzen der Bürger für Gleichheit und Freiheit widerspiegeln, auch wenn das genaue Verhältnis zwischen diesen beiden Prinzipien sich über die Zeit verändern mag.

Da die Bürger in einem demokratischen Staat souverän sind, muss sich die Gesetzgebung dem allgemeinen Willen der Bürger anpassen und dies strukturiert zugleich Marktprozesse. Die konservative Interpretation des Staates benützt die Staatsautorität, legitimiert durch kommunitaristische Identität, um die unbeschränkte Freiheit der Bürger und des Marktes zu kontrollieren. In diesem Model muss sich deshalb der Wille des Volkes der Autorität anpassen. Wenn jedoch die Geldwirtschaft Freiheit und Gleichheit als fundamentale Normen eines modernen Vertragsindividualismus geschaffen hat, so hat sie auch den modernen demokratischen Staat geprägt. In anderen Worten, die politischen Normen der modernen Vertragswirtschaft und die der traditionellen Tauschwirtschaft können vielfältig artikuliert werden, je nachdem, welche der jeweiligen Normen vorherrschend wird. Wenn Konservativismus die Oberhand gewinnt, wird Individualismus unterdrückt. Kommunismus, Faschismus und heutzutage islamisches Fundamentalismus sind Versuche, mit Gewalt zu einem traditionellen Autoritarismus und hierarchische Formen der gesellschaftlichen Verhältnisse zurückzukehren und Individualismus zu unterdrücken. In Westeuropa, wie in den Vereinigten Staaten, hat sich der moderne Individualismus durchgesetzt, auch wenn holistischer Konservativismus dabei häufig ein untergeordneter Alliierter entweder des ökonomischen Liberalismus oder des Sozialismus wurde. Allerdings koexistieren in allen Gesellschaften traditionelle und moderne Normen und beide müssen miteinander in Einklang gebracht werden. Diese Logik hat sich in verschiedenen sozialen Modellen niedergeschlagen. Mit Hilfe der Amerikaner hat Europa nach dem Zweiten Weltkrieg ein soziales Gleichgewicht gefunden, das individuelle Freiheit und Gleichheit im Kontext einer stabilen Geldwirtschaft garantiert. Europas Währungsunion ist der Höhepunkt dieses langen Prozesses.

Modelle des Wohlfahrts­ka­pi­ta­lismus

Das Entstehen des modernen Kapitalismus als dominierendem gesellschaftlichem Modell bedeutet nicht, dass Europa auf ein einziges Kapitalismusmodell zusteuern muss. In der Tat sind die Sozialmodelle in Europa äußerst verschieden, auch wenn sie auf der gemeinsamen normativen Struktur der Vertragswirtschaft basieren. Einige Länder haben der liberalen Marktsfreiheit größeres Gewicht gegeben, andere der sozialen Gleichheit. Diese politischen Normen drücken sich in verschiedenen institutionellen Regulationsformen des Kapitalismus aus. Jedes Land hat seine eigenen Mechanismen entwickelt, um sozialen Schutz für weniger privilegierte Gruppen und Klassen zu gewähren. Nichtsdestoweniger lassen sich drei grundlegende Modelle des Wohlfahrtskapitalismus unterscheiden (Esping-Anderson, 1990): das liberale angelsächsische Modell, das sozialdemokratische skandinavische Modell und das konservative Modell in Zentraleuropa. Zusätzlich gib es einige Spielarten in Süd- und Ost-Europa, die aber im Wesentlichen von den traditionellen Werten des Patriarchats und des politischen Klientelismus beherrscht werden.

Gibt es ein optimales Gesellschaftsmodell? Was ist die „best practise“ des Kapitalismus in Anbetracht globaler Märkte, nicht nur für Firmen, sondern auch für die Überlebensfähigkeit von Institutionen im Globalisierungsprozess? Die politische Ökonomie hat eine Vielzahl von Antworten diskutiert.[17] Hervor sticht der Ansatz von Peter Hall und David Soskice (2001), die gezeigt haben, dass die Wahl eines Sozialmodells nicht zufällig ist und auch nicht willkürlich umgeschaltet werden kann, da institutionelle Einrichtungen in ihrem Funktionszusammenhang gesehen werden müssen. So ist zum Beispiel das angelsächsische Model, welches sie liberale Marktwirtschaft nennen, auf Grund der beherrschenden Rolle der Finanzmärkte mehr auf Kurzfristigkeit orientiert und dies erfordert hochflexibel Arbeitsmärkte; diese institutionelle Verfasstheit unterstützt Produktinnovation. Im Gegensatz dazu, ist das deutsche Modell einer koordinierten Marktwirtschaft mit ihrem höheren Grad an Finanzregulierung und einer größeren Rolle der Hausbanken auf Langfristigkeit orientiert. Dazu passt ein Arbeitsmarkt, der die Ausbildung von Fachkräften fördert und dadurch einen relativen Vorteil für Produktentwicklung schafft.

Edwards und Fischer (1994) haben die Auffassung in Frage gestellt, wonach das angelsächsische Model Kapital-orientiert und das deutsche Bank-finanziert sei. Banken seien in Deutschland nicht stärker mit dem Management von Firmen beschäftigt, als beispielsweise in den USA. Die Ansteckung deutscher Banken mit amerikanischen subprime Hypotheken ist ein Beweis dafür, dass auch in Deutschland die Verbriefung von Wertpapieren stark zugenommen hatte. Vitols (1998) fand, dass zumindest bis 1990 die Besonderheit des deutschen Banksystems darin bestand, dass es, erstens, eine ungewöhnlich hohe Fähigkeit hatte, langfristiges Kapital zur Industriefinanzierung bereitzustellen und, zweitens, dass es spekulative Kreditbooms und Crashs verhinderte, welche sich in den meisten Industrieländern in den achtziger und neunziger Jahren ereigneten. Diese zwei Schlüsselcharakteristiken sind einem Regulierungsrahmen geschuldet, welcher relativ strenge Finanzsaufsicht mit der langfristigen Finanzierung von kurzfristigen Krediten verbindet.

Diese Strukturen wurden jedoch in der jüngeren Zeit zunehmend stärker aufgebrochen, zum Teil wegen der Schaffung des einheitlichen europäischen Bankenmarktes, zum Teil auch wegen der Globalisierung der Kapitalmärkte und der neoliberalen Wirtschaftspolitiken. Nichtsdestoweniger haben diese institutionellen Charakteristiken einen wichtigen Beitrag zu Deutschlands Wirtschaftsstabilität nach der Einführung der sozialen Marktwirtschaft 1949 geleistet. Selbst wenn es keinen Weg zurück in die finanzielle Frühgeschichte der Bundesrepublik gibt, so mag das deutsche Modell doch einige Lektionen für die Restrukturierung des europäischen Finanzsystems bieten.

III. Eine neue Policy Agenda für Europa

Welche Zukunft hat der Kapitalismus nach der Krise? Die Finanzkrise stellt die Funktionsfähigkeit des Systems nicht in Frage, aber sie erfordert ein Überdenken der Annahmen darüber, wie das System funktioniert. Konservative fordern ein Zurück zur Realwirtschaft und zu den guten alten moralischen Werten von Anstand und Vertrauen. Aber Vertrauen hängt von der systemischen Stabilität ab und erfordert staatliche Aktion. Es besteht gegenwärtig die Gefahr, dass die Übertreibungen des letzten Jahrzehnts nun zu einer übermäßigen Repression vertraglicher Freiheit führen und die Ansprüche nach sozialer und politischer Gleichheit unterminieren. Der konservative Backlash weist die Schuld für die Krise gierigen Bankern, fantastischen Boni und komplizierten Finanzderivaten zu. Es sucht zu vormodernen Formen der Regulation zurückzukehren, entweder durch autoritäre Regeln oder durch oppressive Moralität. Im europäischen Kontext nimmt dieser Backlash die Form von ökonomischem Protektionismus und Verteidigung nationaler Identitäten an. Wenn der französische Präsident erklärt[18], „wir können nicht naiv sein, wir müssen unsere Industrie schützen“, dann fügt er französischen und europäischen Bürgern doppelten Schaden zu: er verhindert, dass internationaler Handel die Nachfrage im europäischen Markt stimuliert, obwohl dies französische Firmen unterstützen würde, welche nicht das Privileg haben „beschützt“ zu werden; und er verweigert französischen Verbrauchern das Recht, Güter und Dienstleistungen zu niedrigeren Preisen und besserer Qualität zu kaufen. In ähnlicher Weise würden Beschränkungen wie viel ein Mensch verdienen darf, wie sie in Deutschland und sogar in Amerika diskutiert werden, nicht die zunehmende Lücke zwischen Reich und Arm schließen. In Wirklichkeit lenken solche Protektionismen lediglich von einer fairen Einkommenspolitik ab.

Diese ideologischen Reflexe sind mit einem europäischen Binnenmarkt oder der Währungsunion unvereinbar. Per Definition bedeutet ein einheitlicher Markt die Entwicklung von freien und gleichen Möglichkeiten, Verträge und Transaktionen ohne Hindernisse durch Grenzen abzuschließen oder einem regulativen Wettbewerb durch lokale Autoritäten ausgesetzt zu sein. Aber der demokratische Wille von freien und gleichen Bürgern muss das gesetzliche Rahmenwerk setzen, in welchem private Verträge ausgehandelt werden können, ohne dass andere davon Nachteile haben. In einem europäischen Binnenmarkt kann ein solcher gesetzlicher Rahmen nur europäisch sein und nicht national.

Der Staat und europäische Demokratie

Ein Überdenken europäischer Politiken erfordert es, die Beziehung zwischen dem Binnenmarkt und den vielen Staaten in Europa neu zu definieren. Die eigentliche Funktion des Staates ist es, Externalitäten zu regulieren, welche durch individuelle Handlungen entstehen. Wie wir gesehen haben, leistet der moderne Staat dies, indem er individuellen Bürgern, die von Politikentscheidungen betroffen sind, ein Mitspracherecht garantiert. Es sind somit die Bürger, die die letzte Autorität (Souveränität) haben, darüber zu entscheiden, wie sie ihre Interessen durchsetzen wollen. Da ökonomische Paradigmen Politikkonsequenzen haben, entscheiden Bürger letztendlich auch darüber, welche Paradigmen dominieren. Die erste ökonomische Priorität muss es heute sein, das Finanzsystem zu stabilisieren, so dass Unsicherheit reduziert wird und Kreditverträge wieder zum Wachstumsmotor werden. Damit würde zugleich die emanzipative Normativität der Geldwirtschaft gestärkt. Dies bedeutet, dass Regeln für die Finanzregulierung das Vertrauen in die Banken re-etablieren müssen, aber auch, dass makroökonomische Politik notwendig ist, um die Wirtschaft zu stabilisieren. Die zweite politische Priorität muss es sein, den Konservativismus daran zu hindern, individuelle Freiräume und politische und soziale Gleichheit einzuschränken. Die Verengung politischer Diskurse auf den Provinzialismus lokaler Identitäten[19] trägt dazu ebenso bei wie der Protektionismus von nationalen Gemeinschaften durch autoritäre, staatliche Maßnahmen.

Märkte können nicht ohne Staat existieren, denn der Staat garantiert ihre Funktionsfähigkeit. Regierungen sind die Eigentümer von Zentralbanken; sie setzen fest, was gesetzliches Zahlungsmittel ist und bestimmen die Regeln für Märkte. Diese Einsicht ist nicht neu, aber zwei verschiedene Dimensionen von Staats- und Regierungseinmischung müssen dabei berücksichtigt werden. So haben zum Beispiel deutsche Ordoliberale immer die Notwendigkeit eines starken Staates als Garanten der Marktfunktionsfähigkeit anerkannt, aber sie haben sich zugleich immer auch gegen keynesianische Marktinterventionen ausgesprochen, weil Regierungen dadurch zu Marktteilnehmer würden (Tietmayer, 1999). Auf der anderen Seite hat französischer Dirigismus immer eine Vorliebe für einen aktiven Staat gehabt und hat es abgelehnt, dass Regierungen in ihrem Handeln durch Märkte eingeschränkt werden. Die korrekte Form einer effizienten europäischen Marktwirtschaft muss jedoch makroökonomisches Management für die gesamte Eurozone mit Aufsichtsregelungen verbinden, ohne dadurch den privaten Zugang zum europäischen Binnenmarkt zu behindern.

Als Folge des europäischen Binnenmarktes und der einheitlichen Währung gibt es heute eine zunehmende Anzahl von Politiken, die alle europäischen Bürger betreffen. Aber in der europäischen Union werden Politikentscheidungen nicht im europäischen Gesamtinteresse entschieden, sondern im Interesse nationaler Regierungen, die ihre Usurpation der Macht zum Nachteil der Bürger oftmals damit begründen, dass sie nationale Identitäten verteidigen. Diese Form zu regieren ist unvereinbar mit der modernen Idee von freien und gleichen Bürgern, die die Herren ihres eigenen Schicksals sind. Der Durchbruch der französischen Revolution, der durch den Liberalismus der ersten niederländischen Republik inspiriert war (Israel, 2004) bestand in dem Prinzip, dass die Bürger als Ganzes der Souverän sind und nicht die Regierung. Bürger schließen miteinander einen Sozialvertrag, um ihre Interesse zu fördern und nicht, weil sie einer Gemeinschaft mit einer gegebenen Identität angehören. Mithin müssen europäische Bürger die Autorität haben, eine europäische Regierung als ihren Agenten benennen zu können und darüber zu entscheiden dürfen, wie sie ihre gemeinsamen Interessen durchsetzen wollen.

Eine Wirtschafts­re­gie­rung für Europa?

Die Wirtschaftskrise eröffnet Prospektiven für eine Neubegründung des europäischen Politiksystems. Die Kohärenz des europäischen Normensystems erfordert, dass eine europäische Regierung Verantwortung für makroökonomische Politik übernimmt. Intergouvernementale Politikkoordinierung kann nicht länger den Wohlstand in Europa garantieren, da viele makroökonomische Politikprobleme eine kohärente und diskretionäre Entscheidung erfordern. Bindende Richtlinien oder offene Formen der Koordination können diese Entscheidungen nicht gewährleisten (Collignon, 2004). Wichtiger noch, wenn die Liquiditätsprämie, die im Preis für Geld enthalten ist, makroökonomische Unsicherheit reflektiert, dann ist es unverantwortlich, keine Institution zu haben, die Verantwortung für die gesamtwirtschaftliche Stabilität der Eurozone übernimmt. Die EZB kann dies nicht leisten, da sie primär für Preisstabilität zuständig ist.

Politische Eliten in Frankreich haben ein gouvernement économique vorgeschlagen, ohne jemals im Einzelnen zu erklären, was man sich darunter vorstellen muss. Das Problem dieses Vorschlages besteht darin, dass eine solche Regierung notwendigerweise bürokratisch und autoritär sein muss, da sie technokratisch allein auf den Wirtschaftsbereich reduziert ist. Ähnlich wie das Ancien Régime bürokratische Politik Frankreich aufgestülpt hat, würde ein gouvernement économique europäischen Bürgern keine demokratische Wahl lassen, sondern ihnen elitäre Politiken aufdrücken. Um mit den Normen einer modernen Gesellschaft kohärent zu sein, muss eine Regierung demokratisch sein und den Bürgern Rechenschaft schulden. Das Zeitalter des Paternalismus ist vorbei. Bürger müssen die Freiheit einer Wahl zwischen verschieden Optionen haben, und kollektiv entscheiden können, welche Politiken sie wollen. Das bedeutet auch, dass politische Parteien ihnen Programme vorlegen müssen, damit sie diese Wahloptionen gemeinsam diskutieren können. Die Natur von Regierungen ist politisch, und ein unpolitisches Europa ist unregierbar. Zudem muss eine demokratische Regierung die Möglichkeit haben, Politikkompromisse über verschiede Politikfelder zusammenschnüren zu können und diese Felder schließen Wirtschaft, Sicherheit und Außenpolitik ein. Nur wenn das der Fall ist, werden Bürger, die ihre Präferenzen in spezifischen Fragen nicht realisiert sehen, Politiken akzeptieren, die von ihren eigenen Wünschen abweichen, weil sie in anderen Bereichen kompensiert werden. Wenn diese Kompensation nicht möglich ist, wird ein demokratischer Politikkonsensus, der für eine funktionierende Demokratie notwendig ist, unmöglich. Es ist deshalb an der Zeit, dass europäische Demokraten darüber nachdenken, wie eine demokratische gewählte Regierung für diejenigen Politikbereiche, die alle Bürger in gleicher Weise betreffen, Verantwortung übernehmen kann.

Geldpolitik

Die Aufgabe einer europäischen Regierung muss es sein, finanzielle und wirtschaftliche Stabilität in der Eurozone zu gewährleisten, und die allgemeine Unsicherheit bei Investitionsentscheidungen zu minimieren. Makroökonomische Stabilität ist eine Vorbedingung, um die Kapitalakkumulation zu beschleunigen, neue Arbeitsplätze zu schaffen, die Produktivität zu erhöhen und um den Lebensstandard dauerhaft und fair zu erhöhen. Ich habe gezeigt, dass die Fiskalpolitik dazu einen kleinen Beitrag leisten kann, wenn sie wirtschaftliches Wachstum durch Einkommensumverteilung unterstützt, und wenn zumindest ein Teil der öffentlichen Schuld monetarisiert wird. Aber dies bedeutet, dass die Geldpolitik ein zentrales Instrument der Wirtschaftspolitik ist, nicht nur um kurzfristige Konjunkturschwankungen zu glätten, sondern auch langfristig. Da in einer Währungsunion alle Finanzkontrakte in der gleichen Währung denominiert sind und somit die meisten wirtschaftlichen Entscheidungen von Geld- und Zinsentscheidungen der Zentralbank abhängen, muss die Haushaltspolitik mit der Geldpolitik interagieren. Deshalb ist das gegenwärtige institutionelle Arrangement der Eurozone mit unkoordinierten nationalen Haushaltspolitiken und ihrer einzigen Begrenzung durch den Stabilitäts- und Wachstumspakt nicht optimal.

Monetaristen haben argumentiert, dass unbegrenzte Liquidität in das Bankensystem zu pumpen, das beste Instrument zur Überwindung der Finanzkrise sei. Sie sehen die Ursache für die Krise im Schrumpfen der Geldmenge und suchen die Geldversorgung der Wirtschaft durch Offenmarktoperationen und quantitative easing wieder im Gang zu setzen. Nach ihrer Ansicht wird die wirtschaftliche Aktivität wieder im Gang kommen, wenn die Zentralbank nur genug Geld druckt. Nun ist aber eine wesentliche Voraussetzung für diese Strategie, dass Finanzmärkte korrekt funktionieren. Dies ist in der gegenwärtigen Krise nicht der Fall. Banken reichen die Liquidität, die sie von den Zentralbanken bekommen, nicht notwendiger an den Unternehmenssektor weiter.

Der „banking view“ als alternatives Paradigma versteht Geld als ein Informationsinstrument in unsicherem Umfeld. Dieser Ansatz erlaubt eine bessere Funktionszuordnung für Geldpolitik. Asymmetrische Information und mangelndes Vertrauen haben den Geldmarkt gelähmt. In diesem Zusammenhang ist die wichtigste Aufgabe die Funktionsfähigkeit von Geld als Reserve Asset zu bewahren. Wegen der asymmetrischen Information und der Externalitäten im Geldmarkt kann es geschehen, dass Banken nur unzureichend Zugang zu Liquidität haben, auch wenn sie weiterhin solvent sind. Deshalb brauchen sie Unterstützung. Die Zentralbank muss als lender of last resort funktionieren. Der IMF könnte im internationalen Kontext eine ähnliche Funktion erfüllen, wenn die Regierungen bereit wären, ihn mit ausreichenden internationalen reserve assets auszurüsten. Die Notwendigkeit für Zentralbanken als lender of last resort zu funktionieren wurde bereits von Bagehot im Jahr 1873 formuliert[20]. Die entsprechende Geldpolitik in einer Finanzkrise wurde von Goodhart (2002: 227) in drei Sätzen zusammengefasst:

1. Gib großzügig Kredit,
2. zu hohen Zinsraten,
3. gegen gute Banksicherheiten.

Die Antwort der Zentralbanken auf die Finanzkrise hat sich stärker dem monetaristischen Ansatz angenähert. Sie haben großzügig Kredit gegeben, zu geringen Zinsen, mit schlechten Sicherheiten.[21] Diese Politik wiederholt die Fehler des Tauschparadigmas, welche eine der Ursachen der Wirtschaftkrise waren.

IV. Die Zukunft des Kapita­lismus, oder die Moral von der Geschichte

Um es zusammenzufassen, die Zukunft des Kapitalismus ist seine Vergangenheit: Kredit und Zins sind der Wachstumsmotor einer modernen Wirtschaft, aber auch die normative Fundierung des Kapitalismus. Wie alle Moralität ist auch die Wirtschaftsmoral des Geldes ambivalent: seine Funktionsbedingungen beruhen auf den Normen von Freiheit und Gleichheit, aber die faktische Realität sind materielle Beschränkung und Ungleichheit. Das durchschnittliche Einkommen pro Person ist heute zwölfmal höher als es vor 200 Jahren war (Clark, 2007), und diese Entwicklung des Realvermögens wäre ohne die Entwicklung des Finanzwesens unmöglich gewesen. Aber die systemimmanente Tendenz des Kapitalismus erfordert eine Institution, die sich dieser Tendenz entgegenstellt, soziale Unsicherheiten korrigiert und einen stabilen Rechtsrahmen garantiert.

Der Kapitalismus bleibt ein zerbrechliches Konstrukt: Unsicherheit macht ihn potentiell instabil und die Akkumulation des Reichtums in der Hand einiger Weniger ist eine beständige Herausforderung für moderne Ideen von Gerechtigkeit, welche auf Freiheit und Gleichheit basieren. Der moderne demokratische Staat ist letztendlich die Garantie für die dauerhafte Fähigkeit des Kapitalismus. Er bedeutet nicht das autoritäre Überstülpen von traditionellen Werten auf eine liberale Ökonomie, sondern er ist das Instrument, durch welches freie und gleiche Bürger gemeinsam ihre Präferenzen bestimmen und das relative Gewicht von Gleichheit und Freiheit festsetzen. Der demokratische Staat integriert die Externalitäten von Politikentscheidungen, die alle Bürger betreffen. Aber wie wir alle wissen, garantiert die Gültigkeit moderner Normen nicht ihre Durchsetzung im tatsächlichen Leben. In Europa gibt es zu viele Regierungen, die sich wie autoritäre Institutionen verhalten und sich wenig um die Präferenzen und die Erwartungen von Bürgern außerhalb ihrer Jurisdiktion kümmern, auch wenn alle Bürger in Europa von ihren Entscheidungen betroffen sind. Europas Bürgern wird eine europäische Regierung versagt, die es ihnen erlauben würde, gemeinsam die politischen Entscheidungen zu treffen, die ihren Wohlstand und zukünftigen Reichtum bestimmen. Es ist an der Zeit, dass sich das ändert.

[1] Während des G20 Meetings in London, am 2. März 2009.

[2] Der Ausdruck „moral economy“ wurde erstmals von Edward Palmer Thompson (1971) und James Scott (1977) geprägt. Für eine Anwendung auf die Geldwirtschaft, siehe auch Muldrew 1998. Wir übersetzen hier „moral economy“ durch Wirtschaftsmoral.

[3] Die Geldnachfrage leitet sich aus dem Realkasseneffekt ab, d.h. Wirtschaftsagenten halten Geld zu Transaktionszwecken.

[4] Michael Heseltine, Minister in Margaret Thatchers Regierung, sagte einmal in meiner Gegenwart: „Ideally government will meet once a year to hand out the subcontracts.“

[5] Wirtschaftswissenschaftler sprechen von „Liquidität“, während Rechtswissenschaftler sich auf „Besitz“ beziehen. Beide Konzepte drücken den Vorteil Unmittelbarkeit aus. Shackle (1991: 12-13) hat es so zusammengefasst: „Money does have a value in use, for it has value in possession, and is not merely a mechanical and token value for perpetual exchange.“

[6] Ich gebrauche hier den Begriff „discounting“ in einem allgemeinen Sinn, der Open Market Operations, reverse tenders etc. einschließt.

[7] Dies bedeutet im übrigen wegen Walras‘ Law, dass der Arbeitsmarkt ein strukturelles Überangebot hat. Aus Platzgründen kann dies hier nicht weiter ausgeführt werden. Siehe Riese 2003.

[8] Die Tauschwirtschaft ist somit ein Sonderfall der Geldwirtschaft, wenn die Zinsrate Null ist.

[9] Siehe Riese (1990).

[10] Keynes (1930) war sich dessen bewusst; seine „entrepreneurial profits“ waren überdurchschnittliche Unternehmergewinne, oder quasi-rents, die im Gleichgewicht verschwanden.

[11] Offensichtlich halten die Menschen ihr Wort nicht immer. Gesellschaft hat deshalb Mechanismen entwickelt, die das Einhalten von Verpflichtungen fördern, meistens basierend auf Sozialausschluss. In diesem Zusammenhang würde die von Max Weber beobachtete Verbindung zwischen Kapitalismus und Protestantismus eine neue Interpretation verdienen (Religion als commitment device).

[12] Keynes hat seine Theorie der monetären Produktionswirtschaft in der Festschrift von Spiethoff 1933 erklärt. Die neoklassische Synthese wurde von Hicks (1937) entwickelt und wurde später von Paul Samuelson formalisiert und popularisiert.

[13] In den meisten ökonometrischen Modellen sind Shocks berechenbar und normal verteilt. Diese Annahme liefert die Grundlage für die oftmals sehr komplexen mathematischen Modelle hinter Finanzderivaten.

[14] Im Randbereich ist diese Unterscheidung manchmal weniger klar. Wenn Steuerzahler höhere Steuern erwarten (Ricardianische Äquivalenz) und wenn sie statt ihren Konsum zurückzuschrauben die Produktion erhöhen um ihre Steuern zu bezahlen, dann wird öffentliche Schuld ebenfalls zum Wachstum beitragen. Auf der anderen Seite funktioniert öffentliche Schuld tatsächlich wie Unternehmensschuld, wenn Regierungen öffentlich Kredit zu Investitionszwecken aufnehmen, und dadurch Produktivität und Wirtschaftswachstum erhöhen.

[15] Zudem hat öffentliche Verschuldung wichtige Verteilungseffekte, die für die Vermögensakkumulation von Bedeutung sein können. Wenn Regierungsanleihen von Individuen mit hohem Einkommen gekauft und gehalten werden, und wenn der Schuldendienst der Regierung durch Steuern finanziert wird, so überträgt öffentliche Schuld Vermögen von den Armen an die Reichen. Alle zahlen Steuern, aber nur die reichen Staatsanleihenbesitzer finden ihr Einkommen durch die Couponzahlung erhöht.

[16] Siehe Popper (1995) für eine vollständigere Beschreibung dieser Idee.

[17] Siehe Sopart (2005) für eine Übersicht über das Thema.

[18] Rede von dem europäischen Parlament am 21.10.2008.

[19] Italiens Finanzminister Giulio Tremonti (2008) hat es wunderbar beschrieben: „Die Menschen glauben nicht mehr an die Zukunft, sondern am morgen; sie glauben nicht länger an die Nation, sondern an das Dorf.“
[20] Siehe Goodhart und Illing 2002, die Auszüge seines Buches drucken.

[21] In den meisten Industrieländern sind die Zinsraten gegenwärtig nah bei Null und die real Zinsen oft sogar negativ. Die EZB hat 10 Milliarden in Toxic Assets verloren und der EZB Präsident Jean Claude Trichet (2009) hat das gesamt Risiko auf 600 Milliarden Euro beziffert, was 6 Prozent des BSP der Eurozone entspricht.

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