Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 186: Die Krisen hinter der Krise

Der Staat als Gesamt­be­trieb

Auf dem Weg in die neue formierte Gesellschaft,

aus: vorgänge Nr. 186, Heft 2/2009, S. 60-71

Der Neoliberalismus hat eine Bataille verloren. Ruhe ist die erste Bürgerpflicht. Bei der Hessenwahl im Januar 2009 verzeichnete die FDP mit 16,2 Prozent ein triumphales Ergebnis -6,8 Prozent mehr als noch 2008. Allein die Differenz ist größer als der Stimmenanteil für die Linkspartei. Den Kleinmütigen aber ist Psychologie anzuraten. Man stelle sich nur, wie die Modemacherin Gabriele Strehle, ein Bild von Trümmerfrauen auf. Ging es denen nicht schlechter? Und hat die gegenwärtige Finanzkrise nicht auch ihr Gutes?

Diese Krise ist in aller Munde. Dagegen fehlt, von Fachleuten abgesehen, die öffentliche Wahrnehmung einer ganz anderen, seit Jahren schwelenden Krise, die sich hinter Verlegenheitsfloskeln wie „Malaise“ und der auffällig häufigen Verwendung der Vorsilbe „Post“ verbirgt: Postdemokratie (Colin Crouch), Postparlamentarismus, Postfaschismus. Weil aber dieses „Post“ eine analytische Unschlüssigkeit darüber erkennen lässt, ob wir uns in einem Übergang zu einem neuen politischen System oder nur in einer Phase der Weiterentwicklung des alten befinden, stellt sich Unbehagen ein, sei es über den Verfall der Staatskapazität (Claus Offe), die Parteien- oder Politikverdrossenheit, die schwindende Integrationskraft der Volksparteien, die selbstreferentielle politische Klasse und nicht zuletzt die Globalisierung als Letztverursacherin. Während die Finanz- und Wirtschaftskrise von vielen sehr konkret erfahren wird, vollzieht sich die Krise der Demokratie eher diffus.

Der Staat als Gesamt­be­trieb

Der Staat als Erfindung der Neuzeit hat das mittelalterliche Personenverbandssystem mit seiner polyzentrischen Herrschaftsstruktur abgelöst. Als Gewalt monopolisierender Zweckverband zur Sicherung von Leib, Leben und Eigentum konstituiert er sich nach den je spezifischen Aufgaben einer historischen Epoche. Für die frühe Neuzeit wurde dies in das Bild vom Staat als Kaserne gefasst. Militarisierung und die Herausbildung Karin Priester Der Staat als Gesamtbetrieb der „Polizey“ als obrigkeitsstaatliches Ordnungsorgan nach innen waren seine Bestimmungsmerkmale. Unter den Bedingungen des Industriekapitalismus wurde die Kasernenmetapher vom Bild der Gesellschaft als Fabrik (society-as-factory, Charles S. Maier) abgelöst und konnte bis zum Ende des Fordismus Gültigkeit beanspruchen. Ihr Ziel war die Überwindung des Klassenkampfes durch korporatistische Konfliktregelung und die Ausrichtung von Staat, Gesellschaft und Nation am Ziel der Produktivitätssteigerung.

Ludwig Erhards Konzept der Formierten Gesellschaft aus den 60er Jahren leitet von der Gesellschaft als Fabrik zum Staat als kooperativem Gesamtbetrieb über. Im „Programm für Deutschland“, vorgetragen auf dem CDU-Parteitag von 1965, wird die Formierte Gesellschaft als eine kooperative Gesellschaft „von hochgradiger Interdependenz“ vorgestellt: „Die industriellen Produktionsmittel erfordern bei ihrem Gebrauch die Zusammenarbeit einer mehr oder weniger großen Zahl von Menschen. Diese für die industrielle Betriebsform charakteristische Abhängigkeit dehnt sich auf die Gesamtgesellschaft aus. Diese wird somit zu einem Gesamtbetrieb; eine freie Gesellschaft wird gewissermaßen zum ´Gesamtbetrieb ohne Unternehmer´…“ (zit. nach Opitz, 1965: 756) Erhards großer Plan war aber von vornherein nicht als nationalstaatliches, sondern als europaweites Projekt konzipiert.

Was damals noch utopische Züge trug, ist heute weitgehend Realität: Einbeziehung so genannter „befestigter“ Gruppen in das Staatshandeln, Primat der unideologischen Leistungsgemeinschaft, Abbau des Parlaments durch Umdefinition seiner Aufgaben, Transformation von Wahlkämpfen zur „Prämiierung der besten Vortragskunst.“ (Opitz, 1965: 760)

Mehr als vierzig Jahre nach Erhards Initiative ist heute nicht mehr von Formierter Gesellschaft die Rede, sondern in verhüllender Terminologie von organic governance: „Der moderne Staat vermag ohne Kooperation, ohne ein „Management von Interdependenzen“ […] die von ihm erwarteten Leistungen nicht zu erfüllen.“ (Benz, 2001: 271) Hatten die intellektuellen Herolde der Formierten Gesellschaft eine größere Autonomie des Parlaments von den organisierten Interessen gefordert, so heißt es heute, das Parlament sei nicht das „Aggregat von partikularen Interessen“, sondern lediglich eine diskutierende Bürgervereinigung zwecks „öffentlicher Beobachtung“ des kooperativen Regierungshandelns. Kontrolle der Regierung, also die ureigenste Aufgabe des Parlaments, könne, so Benz, sogar schädlich sein, „wenn [die Regierungen, K.P.] dadurch in ihrer Kooperationsfähigkeit beeinträchtigt werden. […] Regierungen müssen stärker aus der Distanz kontrolliert werden.“ (Benz, 2001: 277)

Andersen und Burns konstatierten vor mehr als zehn Jahren eine „systematische Erosion“ des westlichen politischen Systems durch das Anwachsen von semiautonomen, spezialisierten Segmenten und Sektoren. „Das System der post-parlamentarischen governance tendiert zunehmend dazu, eines von Organisationen, durch Organisationen und für Organisationen zu sein. Expertensouveränität überwiegt vor Volkssouveränität und parlamentarischer Souveränität.“ (Andersen/Burns, 1996: 229) Dies sei aber funktional notwendig aus Gründen größerer Effizienz, auch wenn die Frage der fehlenden Legitimation noch ungelöst sei. Daher wird das Parlament nicht einfach abgeschafft; seine Funktionen werden lediglich in „integrative“ und beobachtende umdefiniert. „Zum Nutzen der Demokratie ist es wichtig, diese symbolische Aktivität beizubehalten.“ (Andersen/Burns, 1996: 250)

Wo Höreth einen „aufgeklärten Absolutismus“ herannahen sieht, läuft die post-parlamentarische oder organische governance eher auf eine zeitgemäße Form des Korporativismus hinaus, der ja nichts anderes als ein „System von, durch und für Organisationen“ sein wollte, jenseits des individualistischen Mehrheitsprinzips. Das parlamentarische System spiele, so Andersen/Burns, eine zu diffuse Rolle als Agent „für alle Jahreszeiten und Themen“. Wachsender Komplexität sei es ebenso wenig gewachsen wie der Notwendigkeit von hoch spezialisiertem Expertenwissen, kurz: es mangele ihm an Effizienz. Diese Parlamentarismuskritik ist nicht neu. Das Effektivitätsprinzip oder Prinzip der Leistungsstärke war ein Kerngedanke der antiparlamentarischen Korporativismustheoretiker vor dem Aufkommen des Faschismus. „Als ein Hauptargument der Effektivitätskritik erweist sich […] der Hinweis auf den geringen Sachverstand der auf der Grundlage des allgemeinen Stimmrechts gewählten Parteien-Parlamente. […] Im Zeichen des Prinzips der Leistungsstärke erfolgt aber nicht nur die Kritik an der Sachkompetenz der Parlamente, sondern auch die Kritik an der Belastung der Parlamente mit den Aufgaben der Sozial- und Wirtschaftsgesetzgebung.“ (Mayer-Tasch, 1971: 70 f.)

Schat­ten­welten, Grauzonen

Etwa seit den 80er Jahren wird das Bild vom Staat als Gesamtbetrieb mit einem Weichzeichner behandelt; es zeigt ihn mit verwischten Konturen als großen Kommunikator. Gesellschaft und Staat gehen als kooperatives Netzwerk in Analogie zu neuen, anti-hierarchischen Managementtechniken eine Symbiose ein. Der Staat handelt nicht mehr hierarchisch von oben nach unten, sondern schlüpft in das Gewand des kooperativen Partners von Interessenvertretern aus Wirtschaft und Verbänden. Für diese Grauzone hat sich der Euphemismus „im Schatten der (staatlichen) Hierarchie und des Mehrheitsprinzips“ eingebürgert. Diese Form der „organischen“ governance privilegiert aber in hohem Maße mächtige und gut organisierte Gruppen (Marcus Höreth).

Die Erhardsche kooperative Leistungsgemeinschaft ist dem Planungsstadium entwachsen und macht scheinbar nur demokratischen Gewinn: Abbau von Hierarchie, Transformation des Regierungshandelns vom befehlenden zum kooperierenden Staat (in der hermetischen Eingeweihtensprache Governancealisierung genannt), mehr Kompetenz durch Einbeziehung privater ´Experten´, symbolische Aufwertung der Zivilgesellschaft. Nur einer bleibt auf der Strecke: das Parlament. Die Zukunft liege, so Benz, bei einer „postparlamentarischen Demokratie“, die auf das Parlament nicht mehr angewiesen ist, es sich aber der Optik wegen als Debattierclub hält. Während sich der Fokus von Pädagogen und Schulbüchern noch auf den von den linken oder rechten Rändern ausgehenden Antiparlamentarismus richtet, vollzieht dieser sich quasi unbemerkt durch die veränderte Art des Regierens selbst. Wir erleben heute einen „Antiparlamentarismus von oben, mit elitärer Tendenz.“ (Zöpel, 2005: 2) Dabei erodiert die Unterscheidung zwischen privat und öffentlich in einer Grauzone von Teilprivatisierung, Halböffentlichkeit, Parastaatlichkeit, verschwimmenden Loyalitäten und unklarer Verantwortlichkeit. Diese Tendenz zu polyzentrischem politischem Handeln wird seit Ende der 70er Jahre von Autoren wie Umberto Eco, Alain Minc und anderen unter dem Schlagwort „neues Mittelalter“ diskutiert.

Nun sind Verhandeln, Deliberieren, Kooperieren, Kommunizieren zweifellos wünschenswertere Vorgehensweisen als Konfrontation und Gewalt. Dies verleiht ihnen a priori eine (schein-)demokratische Aura und lässt die Frage gar nicht erst aufkommen, wer mit wem kooperiert und was daran fragwürdig sein könnte. Die Krise der Repräsentation wird nicht von den üblichen Verdächtigen am linken oder rechten Rand ausgelöst, sondern ist ein Elitenprojekt, bei dem, analog zur Deregulierung der Wirtschaft seit den 80er Jahren, auch staatliches Handeln dereguliert, informalisiert und enthierarchisiert wird. An die Stelle einer parlamentarisch-demokratischen Legitimation trete, so Höreth, die post-parlamentarische und expertenbasierte Deliberation.

Die Morphologie des Staates formt sich nach gesellschaftlichen Herausforderungen und politischen Machtverhältnissen. Eine dieser Herausforderungen ist heute die Globalisierung, die einerseits real, andererseits aber ein Vorwand für Demokratieabbau ist. Real ist zweifellos die zunehmende Verschachtelung des politischen Handelns in einem Mehrebenensystem (lokal, regional, national, trans- und supranational). Dass dies aber unausweichlich zum Abbau der Repräsentationsdemokratie führe, erscheint eher als Vorwand, zumal Tendenzen zu einer kooperativen Formierung ja nicht erst jüngeren Datums sind. Bereits in den 60er Jahren setzten ihre Verfechter zum großen Sprung nach vorn an, auch wenn die Formierte Gesellschaft damals vielen noch nebulös erschien, weil man sie als privat-öffentliche Expertokratie mit rhetorischer Anrufung des Betriebsgemeinschaftsgeistes nicht in die Schubladen der Regimenlehre einordnen konnte. Erhards Trivialmetapher „Wir sitzen alle in einem Boot“ stand für das große, ineinander greifende Räderwerk funktionaler Abhängigkeiten und Interdependenzen, bei denen es gilt, die vom Parlament oder von nicht-befestigten Gruppen ausgehenden Reibungsverluste zu vermeiden.

Paras­taat­liche Grauzonen – im Reich des „Quasi“

In Großbritannien machen immer wieder die sogenannten Quangos von sich reden. Sie werden hier nur exemplarisch als nationale Ausprägungen der „Euroquangos“ in Brüssel angeführt. Schon der Name verrät ihren Status in einer Grauzone: Quasigovernmental organisations, also staatliche Organisationen, aber nur quasi. Weder gehören sie zum staatlich-öffentlichen noch zum privatwirtschaftlichen Bereich. Als Verwaltungsorgane sind Quangos dem staatlichen Sektor zugeordnet, arbeiten aber nicht nach dessen Richtlinien, sondern sind selbständige, gewinnorientierte Unternehmen. Seit den 80er Jahren gibt es in Großbritannien fast 600 solcher quasi-staatlichen Einrichtungen. Nachdem die Labour-Regierung unter Tony Blair 1996 versprochen hatte, sie dorthin zu befördern, wo sie hingehörten, in den Mülleimer der Geschichte, stiegen sie während Blairs Regierungszeit munter um weitere 300 an und lagen 2006 bei knapp 900.[1]

Die wichtigsten Argumente gegen diese Quangos im Nebelfeld des „Quasi“ beziehen sich auf die Verdoppelung von Aufgabenbereichen und damit auf die Verschwendung öffentlicher Ressourcen. Um ihre Existenzberechtigung unter Beweis zu stellen, geben sie einen Großteil ihres Budgets für Kommunikation in eigener Sache aus und verfolgen nicht selten einander widersprechende, verbandsegoistische Ziele. So ist beispielsweise eine Quango im Gesundheitsbereich für die Propagierung fettarmer Nahrung zuständig, während eine andere, der viel belächelte „Britische Kartoffelrat“, für den Verzehr von Kartoffelchips mit dem rabulistischen Argument wirbt, es gebe eben gesunde und weniger gesunde Arten von Chips. Unter demokratietheoretischen Aspekten viel bedenklicher ist ihre ungeklärte Legitimation. Weder haben sie ein öffentliches Mandat noch unterliegen sie öffentlicher Kontrolle, auch wenn in letzter Instanz der Minister, dem sie zugeordnet sind, rechenschaftspflichtig ist. Ursprünglich waren sie als Beratungsorgane der Verwaltung zuständig für Expertisen und Langzeitstudien oder zur Implementierung von teils sinnvollen, teils aparten Zielsetzungen wie der Förderung der britischen Honigbiene. Inzwischen fungieren viele von ihnen als Quasi-Lobby regionaler oder branchenspezifischer Unternehmerinteressen.

Alarmiert von immer höheren, zum Teil astronomischen Managergehältern, stellt sich in Deutschland reflexartig die Assoziation mit Managern im privaten Bank- oder Industriesektor ein. Das britische Beispiel zeigt indessen, dass die Selbstbedienermentalität auch in dieser quasi-staatlichen Schattenwelt günstige Entfaltungsbedingungen antrifft. Beamtete Staatsmanager verdienen mitunter sogar das Fünffache des britischen Premierministers, wie die Chefs der Eisenbahn, der Post, des staatseigenen Senders Channel 4 und des Staatsunternehmens British Nuclear Fuel. Aber auch das Sozial- und Gesundheitswesen ist eine begehrte Pfründe für die quasi-staatliche Nomenklatura. Dass sich dagegen die Leistungen bei der britischen Post oder Bahn, im Gesundheitswesen oder im britischen Kartoffelanbau durch die Leistungsanreize ihrer Beamtenmanager verbessert hätten, ist bisher nicht aktenkundig geworden. Zu bezweifeln ist auch, dass es sich um unterhintergehbare Folgen der Globalisierung und um Auswirkungen des Mehrebenenregierens handelt. In Italien ist dieses Phänomen des Pfründenklüngels in den parastaatlichen enti pubblici nämlich, und zwar als Erbe des Faschismus, schon seit dem Zweiten Weltkrieg bekannt. Werden einige dieser Einrichtungen abgeschafft, bilden sich hydraartig neue zur Überwachung der Auflösung der alten.

Der Ruf nach dem Staat als Retter in der Not wird heute allenthalben erhoben. Es sei aber daran erinnert, dass die derzeitige Finanzkrise nicht durch die Privatbank Lehman Bros. ausgelöst wurde. Deren Bankrott war bereits der zweite Akt des Dramas. Der erste ging von den quasi-staatlichen Hypotheken-Agenturen Freddie Mac und Fannie Mae aus, die die Kriterien für die Kreditvergabe aufgeweicht, und, vom amerikanischen Staat durchaus ermuntert, auf die Wertsteigerung von Eigenheimen und die Zahlungsfähigkeit ihrer Erwerber spekuliert hatten. Beide Agenturen wurden unter den seriöser klingenden Namen Federal National Mortgage Association und Federal Home Mortgage Corporation 1938 als Kinder des New Deal geboren und sollten den Eigenheimerwerb unterer und mittlerer Schichten fördern. 1968 wurden sie unter Präsident Johnson privatisiert, aber wiederum nur „quasi“. Obwohl börsennotiert, wurden sie nämlich nicht dem rauen Wind des Marktes ausgesetzt. Vielmehr erfreuten sie sich als GSE (Government sponsored enterprise) eines privilegierten Status: Befreiung von Einkommenssteuer, fehlende Finanzaufsicht, keine öffentliche Auskunftspflicht über eventuelle Schieflagen, implizite staatliche Rückendeckung, Marktvorteile gegenüber anderen Investoren auf einem staatlich geförderten Zweitmarkt. Aber nicht erst in der aktuellen Krise, sondern schon vor sechs Jahren schalteten sich die Behörden und der Kongress wegen Buchungsfälschungen in Höhe von etwa 4,5 Milliarden Dollar ein. Drei Spitzenmanager wurden entlassen. Der dritte Akt erfolgte im September 2008. Freddie und Fannie wurden wieder verstaatlicht, obwohl doch gerade der Staat in seiner Aufsichtsfunktion über die Grauzonenkonstruktion der GSE’s versagt hatte. Aber schon jetzt kann prognostiziert werden, dass ihre Verstaatlichung nicht ewig währen wird und sie nach entsprechender Rundum-Sanierung wieder ins Schattenreich des „Quasi“ entlassen werden.

Nostal­gi­sche Erinne­rungen an die Soziale Markt­wirt­schaft

In den meisten europäischen Ländern steht Keynesianismus für sozialdemokratische Politik und den modernen Wohlfahrtsstaat, allerdings auch für Inflation. Bekannt ist das Wort des Altbundeskanzlers Helmut Schmidt, das deutsche Volk könne eher fünf Prozent Preisanstieg vertragen als fünf Prozent Arbeitslosigkeit. In Deutschland gab und gibt es indessen wenig Neigung zu einem keynesianischen dritten Weg. Vorbehalte gegenüber dem Staatsinterventionismus, der in der auf die DDR gerichteten Optik im Ruch eines staatsdirigistischen Sozialismus stand, waren ebenso maßgeblich wie die kollektive Erinnerung an die Hyperinflation zu Beginn der 20er Jahre. Erst zwischen 1967 und 1972 kam es unter dem damaligen Wirtschafts- und Finanzminister Karl Schiller (SPD) zu einer keynesianischen Globalsteuerung auf makroökonomischer Ebene. Das Stabilitäts- und Wachstumsgesetz von 1967 verpflichtete das Regierungshandeln auf das magische Viereck von Preisstabilität, ökonomischem Wachstum, außenwirtschaftlichem Gleichgewicht und Vollbeschäftigung, wobei letztere nur im Kleingedruckten erschein. Nicht nur als flankierende Maßnahme, sondern als unverzichtbarer Kern des keynesianischen Planungsoptimismus wurde darüber hinaus die Konzertierte Aktion als Organ einer neokorporatistischen Absprachenpolitik eingerichtet. Sie sollte die soziale Symmetrie wiederherstellen, wurde aber von den Gewerkschaften zunehmend kritisiert und schließlich verlassen. Überdies zeigte sich damals schon, dass Staatsverschuldung nicht nur, wie eigentlich vorgesehen, für Investitionsaufgaben eingesetzt wurde, sondern zunehmend auch für den Staatsverbrauch. Schließlich forderte 1976 der Sachverständigenrat einen Paradigmenwechsel zu einer angebotsorientierten Politik unter dem Primat des knappen Geldes und des Abbaus der Staatsdefizite.

Während man in Schweden und in den USA – hier aber erst im so genannten second New Deal ab 1938 -schon in den 30er Jahren zur keynesianischen Steuerung über Staatsverschuldung griff, blieb dieser „dritte Weg“ hierzulande eine Minderheitenposition, und dies aus einem einfachen Grund: Seit den 30er Jahren gab es nämlich in Deutschland einen anderen „dritten Weg“ – den der Sozialen Marktwirtschaft. Der Wohlfahrtsstaat wird in Deutschland nicht mit Keynes in Verbindung gebracht, sondern mit einer Doktrin, die auf dem Primat der Geldwertstabilität und eines paternalistischen Wohlfahrtsstaates beruhte. Nicht technokratischer Planungsoptimismus stand Pate, sondern die katholische Soziallehre.

Nun hatten aber die Theoretiker der Sozialen Marktwirtschaft ihren dritten Weg höchst missverständlich Neoliberalismus genannt, ein Begriff, der heute negative, von den Autoren nicht intendierte Assoziationen hervorruft. Seit den 80er Jahren steht Neoliberalismus für Thatcherismus, Reaganomics und Marktfundamentalismus (Anthony Giddens), kurz: für eine Rückkehr zu dem, was die Soziale Marktwirtschaft gerade überwinden wollte. Man muss also zunächst semantische Aufräumarbeit leisten, um das „Dritte“ an diesem dritten Weg freizulegen.

Alexander Rüstow verstand unter freier – im Gegensatz zur sozialen -Marktwirtschaft den Manchester-Liberalismus des Laissez-faire und nannte ihn Paläoliberalismus. Dieser habe bereits im 19. Jahrhundert versagt und sei inzwischen ein ´Schimpfwort´. Die Annahme einer prästabilierten Harmonie des Marktgeschehens habe sich als falsch erweisen; daher müsse das Verhältnis von Staat und Markt neu bestimmt werden: „Der Markt hat lediglich eine dienende Funktion.“ (Rüstow, 1960: 50) Ihm stellte Rüstow den „Marktrand“ gegenüber, der aber gesellschaftspolitisch keineswegs ein Randphänomen, sondern die Hauptsache sei. „Der Markt ist ein Mittel zum Zweck, ist kein Selbstzweck, während der Rand eine Menge Dinge umfasst, die Selbstzweck sind, die menschliche Eigenwerte sind – Kultur, Erziehung usw.“ (ibid.) Als Marktpolizei hat der Staat für faire Leistungskonkurrenz zu sorgen, aber auch für Bereiche, die dem Marktmechanismus „unzugänglich, aber von größter Wichtigkeit für die menschlichen Belange sind.“ (ibid.) Dazu rechnete Rüstow damals, 1960, Sozialpolitik, Erziehung, Raumplanung und Energiewirtschaft. Staatliche Eingriffe sind allenfalls als Anpassungsinterventionismus vorgesehen, um den Weg zu großen, strukturellen Anpassungen zu glätten, nicht aber als Steuerungsinterventionismus. Der Staat fungiert nicht als ökonomischer Mitspieler, sondern als unparteilicher Schiedsrichter, der jedem das Seine zuteilt: dem Markt, was des Marktes ist (Steigerung der Produktivität und des Volkswohlstandes) und dem Staat, was des Staates ist (Marktaufsicht, Hüter der dem Markt entzogenen ´Vitalpolitik´). Daneben hat er aber auch die soziale Integration zu fördern, „[d]ie Bildung eines echten Gemeinschaftsbewusstseins und die innere Integration, die organische Einbettung ins Gemeinschaftsgefüge.“ (ibid.: 51)

Überschie­bungs­tek­tonik nach rechts

Nach dem Zusammenbruch der Systemalternative des Kommunismus verschob sich die politische Angebotspalette nach rechts. Das bürgerliche Lager, vertreten durch die CDU, verabschiedete sich zunehmend von der im weitesten Sinne ordoliberalen (seinerzeit missverständlich neoliberal genannten) Sozialen Marktwirtschaft hin zu einer freien Marktwirtschaft, für die die FDP steht. Die katholische Soziallehre führt die CDU nur noch in amputierter Form im Munde: Das Subsidiaritätsprinzip tritt als Erfüllungsgehilfe eines „überforderten“ Staates auf; dagegen wurde der Gedanke der marktenthobenen „Vitalpolitik“ (Rüstow) und der „marktfreien Sphären“ (Röpke) zunehmend fallen gelassen zugunsten einer gesamtgesellschaftlichen Vermarktwirtschaftlichung.

Parallel dazu fand auch bei den neuen Sozialdemokratien eine Verschiebung nach rechts statt. Die Perspektive eines keynesianischen Staatsinterventionismus wurde in die Schublade verbannt. Stattdessen besetzten sie seit den 90er Jahren mit Anthony Giddens als ihrem Haupttheoretiker das von den Konservativen verlassene Terrain der Sozialen Marktwirtschaft. Nach Art einer Überschneidungstektonik ist der ehemals „dritte Weg“ der Christdemokraten nun der „dritte Weg“ der Sozialdemokratie. Die Gegenpole lauten heute nicht mehr Kommunismus einerseits und Paläoliberalismus andererseits, sondern die alte keynesianische Linke mit dem Wohlfahrtsstaat auf der einen und der free-market liberalism mit dem Minimalstaat auf der anderen Seite.

Die Politik der neuen Mitte kann indessen nicht umstandslos an die Doktrin der Rüstow, Eucken oder Röpke anknüpfen, richtete sich diese doch an den alten Mittelstand, an den auch die unteren sozialen Schichten durch Eigentumsbildung angehoben werden sollten. Dagegen hat die Sozialdemokratie heute eine neue soziale Mitte[2] im Visier und muss auch die Modernisierungsschübe seit den 60er Jahren, vor allem die steigende Frauenerwerbstätigkeit, berücksichtigen.

Rüstow vertrat in dieser Hinsicht einen so antiquierten Konservatismus, dass er sogar gegen das Kindergeld „allerschwerste“ Einwände erhob und vor den „Sozialisierungsbestrebungen“ der „Mütterarbeit“ warnte. Wenn also die Soziale Marktwirtschaft zum Bezugspunkt der neuen Sozialdemokratie avancieren soll, dann nur in entstaubter Form. Dies geschieht bei Giddens durch die Bestimmung des Staates als social investment state, eines Staates also, der in das Soziale (Bildung, Umwelt, Raumplanung etc.) investiert. Davon aber, dass es dem Markt enthobene Sphären gäbe oder geben solle, ist auch hier nicht mehr die Rede.

Bei diesem Aggiornamento wird die noch an eine paternalistische Volksgemeinschaft gemahnende Sprache eines Rüstow („organische Einbettung ins Gemeinschaftsgefüge“) abgelegt zugunsten der zeitgemäßen, enthierarchisierten Sprache des Kommunitarismus: „Innere Integration“ und „Gemeinschaftsbewusstsein“ sind nicht länger ein vom Staat zu fördernder, von oben nach unten verlaufender Bildungsauftrag, sondern entstehen aus der Zivilgesellschaft heraus in lokaler Kleinteiligkeit, in Nachbarschaftshilfe, Selbstorganisation und Ehrenamtlichkeit.

Diese tektonischen Verschiebungen zeigen: Uraltlinks (Verstaatlichung, Zentralverwaltungswirtschaft) ist historisch obsolet; altlinks (alter dritter Weg, keynesianischer Wohlfahrtsstaat) wurde von den sozialdemokratischen Parteien aufgegeben und war in Deutschland ohnehin nur ein Intermezzo. In diese Lücke stößt inzwischen die neue Alt-linke, die Linkspartei, vor. Neurechts dagegen bedeutet Minimalstaat und Marktradikalismus, deren Krise wir derzeit erleben. Dabei ist das Krisenmanagement so alt wie der organisierte Kapitalismus selbst: Die Gewinne werden privatisiert, die Verluste werden sozialisiert. Staatsverschuldung, Ankurbelung der Notenpresse und Inflation, eben noch verteufelt, sind nun die Lösung. Bei Merkels Regierungsantritt hatte der Abbau der Staatsverschuldung noch höchste Priorität; inzwischen ist sie so hoch wie nie zuvor in der Geschichte der Bundesrepublik. Aber Ironie der Geschichte: Inzwischen besinnt man sich allenthalben wieder auf die Soziale Marktwirtschaft, als sei dies eine Alternative. „Deutschland hat eine neue Religion: die Soziale Marktwirtschaft“, schreibt Thomas Strobl in einem flammenden Plädoyer für Ludwig Erhard. Also Rolle rückwärts? Alle Mann kehrt und zurückrudern zum Goldenen Zeitalter unter Erhard? Davon ist nur das Versprechen „Wohlstand für alle“ in Erinnerung geblieben. Von der Formierten Gesellschaft ist dagegen nicht die Rede, denn die haben wir tendenziell bereits. Aber just unter Berufung auf Erhard soll das nun anders werden. „Wir sollten der Politik und den Verbänden nicht länger gestatten, uns mit der wohlklingenden, aber inhaltsleeren Chiffre „Soziale Marktwirtschaft“ für dumm zu verkaufen.“ (Strobl, 2009:31)

Die Krise der Linken

Es ist kein Geheimnis: die Reformlinke ist europaweit in einer Krise. Mag auch jeder Fall anders gelagert sein, so lassen sich doch gemeinsame Symptome erkennen: Die Sozialdemokratien sind Eliteparteien einer bürgerlichen Mitte im Angestellten- und Beamtensektor geworden. In Frankreich war die Stammklientel des Parti Socialiste mit rund 30 Prozent immer schon stark im öffentlichen Sektor verankert. Die SPD ist auf dem besten Wege dorthin. Diese Parteien haben den Kontakt zu ihrer ehemaligen Wählerbasis in den unteren Volksschichten verloren, nehmen damit aber, wenn auch missbilligend, in Kauf, dass andere Kräfte in dieses Vakuum eindringen. Und das werden eher rechte als linke sein. Hinzu kommen intellektuelle Unbeweglichkeit und im Falle der französischen Reformlinken ein nahezu vollständiger Immobilismus. Die Europawahl vom Juni 2009 hat deutlich gezeigt, dass die erhoffte Linkswende ausgeblieben ist. In ökonomischen Krisenphasen wendet sich die Wählerschaft nicht – wie es eine naive Annahme will – nach links, sondern dorthin, wo die größere wirtschaftspolitische Kompetenz vermutet wird. Und das sind immer noch die bürgerlichen Kräfte, wohingegen die Reformlinke bisher keinen Ausweg aus der Zwickmühle gefunden hat, als „Nothelfer der Beladenen“ antreten und zugleich als „Helfershelfer der Missmanager“ (P. Dausend) agieren zu müssen.

Auf ihrem Weg zur Wissensgesellschaft stoßen die Parteien der neuen Mitte industriegesellschaftliche Altlasten ab. Neben der schrumpfenden Industriearbeiterschaft formieren sich aber neue Gruppen, auf deren Existenz sie bisher kaum reagieren. Das neue Prekariat umfasst ja nicht nur die langzeitarbeitslosen, unqualifizierten Hilfsarbeiter des Industriezeitalters. „Prekariat ist überall“, schrieb Pierre Bourdieu schon vor zehn Jahren. Dazu gehören nicht nur Arbeitslose, sondern auch prekär Beschäftigte, nicht nur Unterschichtangehörige, sondern ebenso Angestellte im unteren Dienstleistungssektor in Handel und Industrie, nicht nur ethnisch überformtes Subproletariat, sondern auch Akademiker (Journalisten, Künstler, Studenten, Dauerpraktikanten, und, wie man ohne allzu viel Empathie feststellen kann, neuerdings auch Banker und Börsenmakler). „Man wird den Verdacht nicht los, dass Prekarität gar nicht das Produkt einer mit der […] vielzitierten „Globalisierung“ gleichgesetzten ökonomischen Fatalität ist, sondern vielmehr das Produkt eines politischen Willens.“ (Bourdieu, 2004:110, Hervorhebung vom Verf.)

Michel Foucault hat die These vertreten, dass sich unter den Bedingungen der Liberalisierung die Formen von Widerstand verändern. Widerstand findet nicht mehr in direkter Auseinandersetzung mit dem staatlichen Machtapparat statt, sondern verläuft über Diskurse in schwach organisierten, informellen Netzwerken und losen Interaktionsprozessen. Die Sphäre des Diskursiven wird damit gegenüber der Realität nicht nur aufgewertet, sondern diese selbst erscheint nur noch als diskursives Konstrukt. Zu dem damit verbundenen ideologischen Eskapismus der heutigen kulturellen Linken stellt Richard Rorty fest: „[Sie] beschäftigt sich mehr mit dem Stigma als mit dem Geld, mehr mit tief liegenden und verborgenen psychosexuellen Motiven als mit prosaischer und offensichtlicher Habsucht. […] Ihr Hauptfeind ist ein geistiges und kein Wirtschaftssystem.“ (zit. nach Bauman, 2009: 77) Daher bleibe es, so Rorty, Demagogen überlassen, aus der wachsenden Kluft zwischen Arm und Reich politisches Kapital zu schlagen. Das ist aber nur die eine Seite. Die andere zeigt einen kopf- und konzeptlosen, anarchischen Widerstand auf den Straßen von Seattle über London bis Neapel als „diffuses Basisrauschen“. „Warum läuft eine Protestbewegung, die ihre neuen Medien so beherrscht und deswegen so perfekt organisieren könnte, dermaßen ins Leere?“ fragt der Journalist Andrian Kreye und gibt selbst die Antwort: „Von links kommt nichts nach.“ (Kreye, 2009:11)

Gruppenbild mit Betriebs­leiter

In Italien, dem politischen Laboratorium Europas, hat die Krise der Linken paradigmatische Formen angenommen, und dies gerade deswegen, weil sie nicht nur die Reformlinke, sondern auch die radikale Linke betrifft. Die Umorientierung der dortigen Linken begann lange vor 1989; diese Zäsur beschleunigte nur ihre Identitätsdiffusion. Mehr als dreißig Jahre feilte sie an ihrer Identität und bekannte sich erst 2007 zu dem, was sie inzwischen längst geworden war: eine Partei der Mitte mit Schwerpunkt im Angestelltensektor. Der Weg dorthin führte von einer ehemals stalinistischen, dann eurokommunistischen, dann linkssozialistischen, dann linkssozialdemokratischen, dann sozialdemokratischen Partei hin zu einer, die auch das Soziale im Namen noch zu lang fand und sich nur noch Partito Democratico (PD) nennt. Auf dieser ideologischen Ballonfahrt wurde viel Gepäck als Ballast abgeworfen, darunter auch unerlässliches Navigationsgerät. Aber statt nun wieder an Fahrt zu gewinnen, ging dem Ballon die Luft aus. Auf seiner Talfahrt blieb er irgendwo im Gestrüpp der Hahnenkämpfe von Parteigranden hängen. Auch seiner linken Abspaltung, der Rifondazione comunista, erging es nicht besser. Sie war im Bündnis mit anderen Kleinparteien zwischen 2006 und 2008 in die Mitte- Links-Koalition unter Romano Prodi eingetreten, was sich als selbstmörderisch erwies. Prodi, vordem Präsident der europäischen Kommission, trat als Sparkommissar auf, um die Maastrichtkriterien -Abbau der italienischen Staatsverschuldung, nach Griechenland die höchste in Europa, von rd. 107 Prozent des BIP auf die von der EU vorgegebenen 60 Prozent – zu erfüllen. Die Bilanz: die Löhne sind unter Prodi gefallen und zählen zu den niedrigsten in ganz Europa; dagegen sind die Preise für Grundnahrungsmittel
gestiegen. Fünf Mio. Italiener sind in prekären Arbeitsverhältnissen beschäftigt; das Renteneintrittsalter wurde hinaufgesetzt.

Die Parlamentswahl vom April 2008 brachte die Quittung für eine radikale Linke, die an diesen Einschnitten mitgewirkt hatte. Die rechtspopulistische Lega Nord, die in den letzten Jahren zu einer Regionalpartei geschrumpft war, konnte ihre Stimmenanteile, darunter viele Stimmen von Arbeitern, fast verdoppeln und statt vorher 26 nun 60 Abgeordnete ins Parlament schicken. Ihr Führer Umberto Bossi verkündete: „Wir sind jetzt die Arbeiterpartei.“ Wut und Demoralisierung zeigten sich vor allem unter Arbeitern und prekär Beschäftigten, die sich von der Linken verraten fühlten. Die noch junge, aber schon von Wahlniederlagen und Führungskämpfen gebeutelte PD stellt zwar die Opposition, hat sich aber so weit an das Programm Berlusconis angenähert, dass dieser höhnisch feststellte, rund 90 Prozent ihrer Forderungen hätte sie von ihm übernommen, darunter Steuersenkungen und Abbau der Staatsverschuldung. Womit der Cavaliere durchaus Recht hat!

Während es Berlusconi gelungen ist, das bürgerliche Lager weit nach rechts zu verschieben und nicht nur die post-faschistische Alleanza Nazionale, sondern auch andere rechte Kleinparteien, darunter die der Duce-Enkelin Alessandra Mussolini, in seine Partei „Volk der Freiheit“ zu integrieren, zeigt ein Blick auf das Mitte-Links-Lager grassierendes Spalterunwesen, Führungsschwäche, Wahlniederlagen, Theorie- und Perspektivlosigkeit, labile Wahlbündnisse, Abwanderung eines Großteils der Arbeiterklientel nach rechts, was aber weder der Globalisierung noch der Fatalität eines ´Staatsversagens´ geschuldet ist.

Schon 1965 forderte Ludwig Erhard in Düsseldorf: „Eine solche [i. e. formierte, K.P.] Gesellschaft braucht andere, moderne Techniken des Regierens und der politischen Willensbildung.“ Und Rüdiger Altmann, einer seiner intellektuellen Vordenker, übersetzte vom Wolkigen ins Konkrete: „Dieses Modell ist nicht mehr der liberale Verfassungsstaat mit seinem parlamentarischen System.“ (zit. nach Opitz, 1965: 758 und 754) Es ist der „Gesamtbetrieb ohne Unternehmer“. Stellt sich aber, wie in Italien, ein veritabler Unternehmer an seine Spitze, ist das zumindest kein Nachteil.

[1] Eine genaue Bezifferung ist schwierig. Zahlenangaben variieren, je nachdem, ob nur Organisationen im Bereich des Verwaltungshandelns dazu gerechnet werden oder auch teilprivatisierte, ehemals staatliche Unternehmen wie die Bahn, die Post etc.

[2] Fach- und Führungskräfte, technische Intelligenz, Vertreter der soziokulturellen Berufe in den Medien und in ´kreativen´ Bereichen, im Gesundheitswesen, im pädagogischen Sektor etc.

Literatur

Andersen, Svein S./Burns, Tom R. 1996: The European Union and the Erosion of Parliamentary Democracy: A Study of Post-parliamentary Governance, in: Andersen, Svein S./Eliasson, Kjell A. (Hg.): The European Union: How Democratic Is It?, London, S. 227-251.

Bauman, Zygmunt 2009: Gemeinschaften, Frankfurt/M.

Benz, Arthur 2001: Postparlamentarische Demokratie und kooperativer Staat, in: Leggewie, Claus/Münch, Richard (Hg.): Politik im 21. Jahrhundert, Frankfurt/M., S. 263-280.

Bourdieu, Pierre 2004: Prekariat ist überall, in: Gegenfeuer, Konstanz, S. 96-102.

Crouch, Colin 2008: Postdemokratie, Frankfurt/M.

Höreth, Marcus 2002: Das Demokratiedefizit lässt sich nicht weg reformieren. Über Sinn und Unsinn der europäischen Verfassungsdebatte, in: Internationale Politik und Gesellschaft, 4, S. 11-38.

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