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Die doppelte Öffent­lich­keit

Ursachen der Ost-West-Unterschiede bei der Mediennutzung

aus: vorgänge Nr. 187, Heft 3/2009, S. 76-94

SuperIllu vs. Spiegel: Es gibt kaum ein besseres Bild für die unsichtbare Grenze zwischen dem Osten und dem Westen Deutschlands. Nachrichtenmagazine sowie überregionale Zeitungen kommen in den „neuen“ Ländern nach wie vor auf deutlich geringere Reichweiten als im Alt-Bundesgebiet, und dass die Ostdeutschen anders fernsehen als die Westdeutschen, ist schon deshalb Teil der Allgemeinbildung geworden, weil dieser kleine Unterschied vor allem die Medienforscher in den öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten stark beschäftigt hat (vgl. Spielhagen 1995, Darschin & Zubayr 2000, Frey-Vor et al. 2002a, b). Die Intendanten Dieter Stolte (ZDF) und Hansjürgen Rosenbauer (ORB) sprachen bereits vor knapp anderthalb Jahrzehnten von einer „doppelten Öffentlichkeit“ (vgl. Stolte & Rosenbauer 1995). Wie kann ein Land zusammenwachsen, wenn die Menschen auf der einen Seite „themenmüde“ sind, „kritische Dinge“ verweigern und stattdessen eine „Ostille“ kaufen, die „auf Schicksale, Klatsch und Service setzt“ (Bouhs 2009)? Wie soll Gemeinsamkeit entstehen und wie ein gemeinsames kulturelles Gedächtnis, wenn die Ostdeutschen andere Informationsquellen nutzen und damit zwangsläufig andere Relevanzstrukturen entwickeln als die Westdeutschen? Und vor allem: Was bleibt an Begründungen, wenn man kaum noch der DDR die Schuld geben kann, weil die Unterschiede sehr stabil sind und auch in den Geburtskohorten auftreten, die nicht mehr in einer gelenkten und kontrollierten Medienumgebung aufgewachsen sind?

Dieser Beitrag liefert zwei Deutungsangebote: Ostdeutsche nutzen Medien anders als Westdeutsche, weil sie erstens ihre soziale Position und ihre Aufstiegschancen schlechter einschätzen und weil die gesamtdeutschen Leitmedien zweitens ein Bild der DDR zeichnen, in dem sich viele einstige Bürger dieses Landes nicht wiederfinden und so auf andere Angebote ausweichen müssen, um diesen Teil ihrer Identität angemessen bearbeiten zu können. Um diese beiden Thesen zu untermauern, werden zunächst die aktuellen Muster der Mediennutzung skizziert sowie die Erklärungsversuche, die es für den Ost-West-Graben in diesem Bereich gibt. Es folgen die Befunde einer medienbiografischen Studie (vgl. Meyen 2003) und einer repräsentativen Telefonbefragung zur Mediennutzung (vgl. Jandura & Meyen 2009), die zeigen, dass die Frage nach regionalen Unterschieden in die Irre führt, weil Ost und West lediglich Synonyme für die soziale Position der Menschen sind.

Medien­nut­zung im Osten: Unter­hal­tung und Identität

In Ostdeutschland wird seit der Wiedervereinigung anders ferngesehen als in Westdeutschland. An den drei wichtigsten Unterschieden hat sich in den vergangenen zwanzig Jahren wenig geändert. Die Ostdeutschen sehen nach wie vor länger fern, sie bevorzugen andere Sender und sind dabei stärker auf Regionalangebote fixiert als die Westdeutschen (vgl. Abbildungen 1 und 2). Die Dominanz von RTL im Osten hat sich in den letzten Jahren zwar etwas verringert, Das Erste und das ZDF sind aber trotzdem lediglich gesamtdeutsche Marktführer und nicht ostdeutsche. In dieses Bild passt, dass die Ostdeutschen den öffentlich-rechtlichen Programmen deutlich weniger Nachrichtenkompetenz zuschreiben als die Westdeutschen und dass RTL hier sogar vor dem ZDF rangiert (vgl. Zubayr & Geese 2009: 164).

Abbildung 1: Fernsehnutzungsdauer in Ost und West (2008)
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Abbildung 2: TV-Marktanteile nach Programmen
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Wenn man das Fernsehen insgesamt als Unterhaltungsmedium begreift und den kommerziellen Anbietern gerade auf diesem Gebiet eine besondere Kompetenz zuschreibt, dann lassen sich die Unterschiede zu dem Befund verdichten, dass Ostdeutsche stärker unterhaltungsorientiert sind als Westdeutsche – ein Befund, der durch die Schwierigkeiten von (anstrengenden) Qualitätsblättern gestützt wird, im Osten Leser zu erreichen. Dazu kommt eine zweite Besonderheit: die Suche nach einer regionalen (ostdeutschen) Identität, die keineswegs nur von der SuperIllu bedient wird – unter anderem durch Berichte über DDR-Größen und aktuelle Stars und Sternchen aus dem Osten sowie durch eine Haltung, die Chefredakteur Jochen Wolff auf die Formel „Respekt vor der Lebensleistung der Menschen in der DDR“ bringt (Bouhs 2009). Wer immer sich im Westen über die TV-und Hörfunkprogramme von MDR und RBB aufregt oder amüsiert (vgl. exemplarisch Tuma 2000): Genau wie die regionalen Abonnementzeitungen, die im Osten zwar mit Auflagenrückgängen kämpfen, aber kaum weniger Reichweite haben als ihre Pendants im Westen, spiegeln diese Sendungen offenbar die ostdeutschen Befindlichkeiten besser als die öffentlich-rechtlichen TV-Hauptprogramme.

Den Unter­schieden auf der Spur: Erklä­rungs­ver­suche in der Literatur

Die Forschung bietet drei Erklärungen für die unterschiedliche Mediennutzung. Eine erste Gruppe von Studien argumentiert mit dem, was gesendet und gedruckt wird. Auf den Punkt gebracht: Die Ostdeutschen finden im Fernsehen weder ihre Probleme noch ihre Perspektiven, vor allem in den Sendungen nicht, die im Westen produziert werden, auch weil es zum Beispiel bei der Tagesschau in Hamburg nur wenige Journalisten mit ostdeutschen Wurzeln gibt. Inhaltsanalysen haben diese Behauptung zum Teil bestätigt, zum Teil aber auch deutlich differenziert, weil der Osten auch in den reichweitenstarken Unterhaltungsangeboten der kommerziellen Sender deutlich unterrepräsentiert war (vgl. Früh et al. 1999, Frey-Vor et al. 2002b, Früh & Stiehler 2002).

Eine zweite Gruppe von Untersuchungen stellt eher soziodemografische Ursachen heraus. Auch hier wieder auf den Punkt gebracht: Im Osten Deutschlands sind die Bevölkerungsgruppen stärker vertreten, die überall in Deutschland eher unterhaltungsorientiert sind – Arbeitslose, Rentner und Menschen mit wenig Geld, die ihre Freizeit vor allem daheim verbringen (vgl. Spielhagen 1995, Stolte & Rosenbauer 1995, Schulz 1997, Darschin & Zubayr 2000). Wolfgang Donsbach hat vermutet, das sich „das Fiktionale“ hier als „Scheinwelt“ anbiete – als Gegenpol „zur eigenen, oft negativ erlebten Realität“, aber auch als Gegenpol zu der Realität, die in öffentlich-rechtlichen Nachrichtensendungen oder Politiktalks konstruiert werde (Donsbach 2007: 53f.).

Die dritte Erklärung überschneidet sich mit diesem letzten Punkt, denn das häusliche Freizeitverhalten könnte in der DDR habitualisiert worden sein. Vor 1989 gab es dort zum einen deutlich weniger funktionale Alternativen zum Fernsehabend daheim (Sportplätze und Schwimmhallen, Gaststätten, Autos und Telefone), und zum anderen war das Freizeitbudget insgesamt knapper als in der alten Bundesrepublik, weil in der DDR länger gearbeitet wurde, weil die Menschen länger unterwegs waren und weil die Mangelwirtschaft und der geringe Technisierungsgrad der Haushalte zusätzlich Zeit kosteten (vgl. Donsbach 2007, Meyen 2003). Das Fernsehen dominierte den Feierabend der DDR-Bürger, weil Medienangebote und hier vor allem Fernsehsendungen besonders geeignet sind, wertlose Zeitlöcher zu stopfen, weil sie Entspannung bringen (vgl. Steinmetz & Viehoff 2008) und weil es hier fast überall im Land mit den Westprogrammen eine Alternative zu den DDR-Medien gab.

Wie der Einfluss der Mediensozialisation interpretiert wird, hängt offenbar vom Auftraggeber ab. RTL-Vermarkter IP Deutschland (2000) präsentierte eine entsprechende Studie mit dem Slogan „Von den Ostdeutschen lernen, heißt genießen lernen“. In der DDR habe man die Debatten um das duale Rundfunksystem nicht verfolgt und könne deshalb weit unverkrampfter zwischen öffentlich-rechtlichen und privaten Sendern wechseln. Was im Westen als „Quotenjagd“ oft verpönt sei, werde im Osten als „direkte Zuschaueransprache“ erlebt und honoriert. Der Informationsbegriff der Ostdeutschen sei außerdem weiter und schließe Seifenopern, Boulevardmagazine und Quizshows ein – Domänen der kommerziellen Stationen. ARD und ZDF hätten dagegen schon bald nach 1990 das Image des „Staatsfernsehens“ bekommen. Die öffentlich-rechtlichen Medienforscher haben dagegen einen Nachholbedarf in Sachen Kommerz-Fernsehen vermutet und den Ostdeutschen unterstellt, in der politischen Kultur des Westens zu fremdeln. Man sei mit dem Informationsangebot überfordert, weil in der DDR erlernte Nutzungstechniken (etwa das Lesen von hinten oder das Umschalten zum „Klassenfeind“) nicht mehr funktionieren würden, weil man Ironie und Sarkasmus nicht erkenne, Streit nicht gewohnt sei und sich vor den „Strippenziehern“ aus Politik und Wirtschaft fürchte. Außerdem würden sich die Ostdeutschen eher als Unterschichtangehörige wahrnehmen – als Menschen, für die Qualitätsmagazine genau wie Qualitätszeitungen nicht unbedingt bestimmt seien (vgl. Frey-Vor et al. 2002b).

Medien­nut­zung in der DDR: Unter­hal­tung und Zweifel

In einer Serie von 100 medienbiografischen Interviews, die fast zeitgleich mit den gerade zitierten Studien gelaufen ist, war wenig zu spüren von einer Überforderung durch das Informationsangebot. Natürlich wurde in diesen Gesprächen über die Medien geklagt, über Gewalt und Sensationen, über Klatsch und Tratsch, über die vielen Werbespots und darüber, dass die Zeitung heutzutage so dick sei, dass man sie beim besten Willen nicht schaffen könne. Vielleicht liegt das tatsächlich auch an der Gewohnheit von einst, getrost jede Überschrift ansehen zu können und trotzdem nach 15 Minuten mit den acht Seiten fertig zu sein. Für fast alle Ostdeutschen gehörten aber westliche Funkmedien genauso zur Sozialisation wie die SED-Presse. Die biographischen Interviews haben gezeigt, dass die meisten DDR-Bürger nicht unbedingt „umgeschaltet“ haben, um Informationen zu suchen. Man hat die Nachrichten und Magazine mitgenommen, in erster Linie aber ging es um Unterhaltung und Entspannung. Anders als oft angenommen worden ist, sind ARD und ZDF außerdem keineswegs mit einem Glaubwürdigkeitsbonus in die deutsche Einheit gestartet. In der DDR hat nur eine Minderheit ohne Einschränkungen den Nachrichtensendungen aus der Bundesrepublik vertraut – vor allem bestimmte Gruppen von Künstlern und Intellektuellen sowie Menschen, die mit dem Staat und ihrem Leben insgesamt unzufrieden waren (wie Teile der technischen und medizinischen Eliten) oder dem System schon deshalb fern standen, weil sie engen Kontakt zur Kirche hatten. Selbst diese Mediennutzertypen, die, die SED-Medienpolitik ablehnten und sich vor allem im Westen orientierten, haben auch hinter den Informationen von der anderen Seite bestimmte Interessen vermutet und folglich mit Vorsicht und Skepsis reagiert (vgl. Meyen 2003).

Der Uses-and-Gratifications-Approach, mit dem die Kommunikationswissenschaft Mediennutzung untersucht, geht davon aus, dass die Bedeutung der Medien ganz entscheidend von den Erfordernissen abhängt, die sich aus dem Alltag und aus der sozialen und aus der psychologischen Situation des Einzelnen ergeben. Zu dieser Situation gehören sicher immer auch erlernte Techniken im Umgang mit Medien, bei den DDR-Bürgern von einst etwa der Vergleich unterschiedlicher Quellen, das Suchen der „Wahrheit“ in der Mitte und im Gespräch mit Nachbarn, Kollegen, Freunden. Die Bedeutung der sozialen Situation kann allerdings gar nicht überschätzt werden. Wo weniger verdient wird[1], bleibt weniger Geld übrig für mögliche Alternativen zum Fernsehen – für Theater und für Gaststätten, für Ausflüge und für Freizeitsport. Vielleicht erschwert die von Dörfern und kleinen Städten geprägte Siedlungsstruktur auch den Zugang zu solchen Freizeitmöglichkeiten. Und wo weniger verdient wird, gehen die Aktiven. Der Bevölkerungsrückgang in Ostdeutschland verteilt sich keineswegs gleichmäßig auf alle gesellschaftlichen Gruppen, sondern betrifft erneut, genau wie vor dem Mauerbau und wie vor dem Mauerfall, vor allem die Jungen, die Mobilen, die besser Ausgebildeten.

Die DDR war ohnehin ein Land der „kleinen Leute“. Gehörten die Ostdeutschen schon wegen ihrer Herkunft eher zu den unterhaltungsorientierten Mediennutzern, wurde diese Tendenz durch die Begleitumstände des Systemwechsels noch verstärkt. Die Mehrheit der Ostdeutschen hat allein dadurch einen Statusverlust erlitten, dass sie sich plötzlich mit Schichten konfrontiert sahen, die es in der DDR nicht oder bestenfalls in Ansätzen gegeben hatte. An die Spitze vieler Hierarchien sind Westdeutsche gerückt, und die privaten Netzwerke, die sich die Ost-Bürger über Jahrzehnte aufgebaut hatten, waren plötzlich nur noch die Hälfte wert, weil die Kontaktpersonen nicht mehr weiterhelfen konnten und weil viele den Arbeitsplatz wechseln mussten. Mit dem Verlust von Positionen und sozialen Funktionen sind die Chancen auf ein sinnerfülltes Leben geschwunden, besonders für diejenigen, das haben die biographischen Interviews gezeigt, die sich um die Früchte ihres Tuns gebracht sahen. Diese Machteinbußen haben natürlich zunächst die Generationen betroffen, die 1989/90 im Arbeitsleben standen, die Folgen aber spüren auch die Nachwachsenden – wenn Vaters Beziehungen nicht reichen, eine Karriere anzubahnen oder wenigstens eine Lehrstelle zu besorgen, wenn es nur um „sozialverträglichen“ Stellenabbau geht und nicht um Aufstiegsperspektiven für die Jugend. Jeder Wandel von Machtverhältnissen verunsichert die Betroffenen und beeinflusst das Selbstwertgefühl. Schlagworte wie „Besserwessis“ oder „westdeutsche Besatzer“ spiegeln diesen Prozess. In Sonntagsreden zur „inneren Einheit“ wird ebenso wie in Debatten über Politikverdrossenheit oder Fremdenfeindlichkeit ausgeblendet, dass sich viele der Ostbürger, vielleicht die meisten, als „Deutsche zweiter Klasse“ bewertet sehen. Verwundert da die Anziehungskraft der Fernseh-Unterhaltung, verwundert da die Beliebtheit der „Heimatsender“, zumal wenn diese sich zum Anwalt der Bevölkerung machen und die wieder gefundene regionale Identität als Sachse oder Thüringerin bedienen?

Soziale Position, Aufstiegs­mo­ti­va­tion und Medien­nut­zung

Die These, dass die Ostdeutschen Medien stärker unterhaltungsorientiert nutzen als die Westdeutschen, weil sie (objektiv und subjektiv) im sozialen Raum weiter unten stehen und ihre Aufstiegschancen schlechter einschätzen, wurde in einer repräsentativen Telefonbefragung geprüft, die sich auf Pierre Bourdieu (1987) stützt. Der französische Soziologe setzt bei einem Menschen an, der sich von anderen abheben will und nach Kapital strebt, um seine Position zu verbessern. Über Mediennutzung lassen sich dabei zwei Kapitalformen akkumulieren:

  • Kulturelles Kapital. Hier geht es vor allem um die Fähigkeit, mitreden zu können, wenn über Politiker- und Trainerschicksale gesprochen wird, über Ausstellungen, Bauprojekte oder Trends auf dem Finanzmarkt. Wie jede Form der Kapitalakkumulation kostet diese Fähigkeit Aufwand und Mühe.
  • Symbolisches Kapital. In jeder Gesellschaft gibt es ein kollektives Wissen, welche Medienangebote mit Arbeit verbunden (und folglich anstrengend) sind und welche eher nicht. Dieses kollektive Wissen garantiert, dass Medienrepertoires und Medienwissen genau wie Automarke, Wohnform oder Kleidung signalisieren, welche soziale Position ein Mensch anstrebt und welcher Gruppe er sich verbunden fühlt, welche Einstellungen und Werte er teilt und welche nicht.

Der Versuch, über Mediennutzung Kapital zu akkumulieren, macht nur dann Sinn, wenn es die reale Chance gibt, dadurch die eigene Position zu verbessern. Da in Bourdieus sozialem Raum ökonomisches Kapital dominiert, dürfte die Aufstiegsmotivation gering sein, wenn man wenig Geld hat und auch die anderen Voraussetzungen (etwa: das soziale Kapital) vergleichsweise schlecht sind. Die Dispositionen eines Menschen erfasst Bourdieu mit dem Habitus-Konzept. Der Habitus ist dabei nicht angeboren, sondern speist sich aus den Erfahrungen, die ein Mensch in seinem Leben macht. Diese (individuellen und kollektiven) Erfahrungen wiederum hängen in erster Linie von der sozialen Position ab und führen zu „Systemen dauerhafter Dispositionen“, die als „strukturierende Strukturen“ wirken (Bourdieu 1976: 165) und damit helfen können, Mediennutzung zu erklären.

In einer repräsentativen Telefonbefragung (Januar 2008, Grundgesamtheit: erwachsene Deutsche, N=479) wurden Habitus und soziale Position (Kapital) als unabhängige Variablen konzeptualisiert und Mediennutzung sowie Medienbewertung als abhängige. Es ist hier weder der Ort, die Operationalisierungen der komplexen Grundbegriffe Bourdieus sowie des Medienverhaltens im Detail vorzustellen, noch können die Ergebnisse in ganzer Breite diskutiert werden (vgl. Jandura & Meyen 2009).

Abbildung 3: Soziale Position in Ost- und Westdeutschland
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Zunächst bestätigen die Daten das bekannte Bild – sowohl zur regionalen Verteilung der Schichtzugehörigkeit (Abbildung 3) als auch zu den Mustern der Mediennutzung. Befragte mit hoher sozialer Position meiden genau wie Westdeutsche unterhaltende Angebote und nutzen Medien deutlich stärker zur Distinktion (zur Akkumulation von kulturellem und symbolischem Kapital) als Befragte mit einer niedrigen sozialen Position und Ostdeutsche.

Da die Differenzen zwischen Ost- und Westdeutschland sowie zwischen Personen mit niedrigem und hohem sozialen Status sehr ähnlich waren, wurde mit einer multiplen hierarchischen Regression untersucht, was die soziale Position besser erklärt: Herkunft oder soziale Position. Grundlage war ein Modell, in dem die Dauer der Fernsehnutzung sowie die Zuwendung zu Medieninhalten, die sich zur Kapitalakkumulation eignen (abhängige Variablen), von zahlreichen unabhängigen Variablen beeinflusst werden. Gefragt wurde dabei, welche Gruppen unabhängiger Variablen die Varianz der abhängigen Variablen besser erklären können. Die Befunde sind eindeutig: Alle Variablen-Blöcke haben Einfluss – bis auf die regionale Herkunft. Bei der TV-Dauer zum Beispiel erklären Soziodemographie und soziale Position zusammen 60 Prozent der Varianz, die Nutzungsmotive neun Prozent, die Bedeutung der Medien für die Befragten 16 Prozent und die regionale Herkunft gerade einmal zwei Prozent.

Fazit und Ausblick

Dass die Ostdeutschen ihre Aufstiegschancen schlechter einschätzen und dass sich hier 50 Prozent der Arbeiterschicht zuordnen (im Westen: 31 Prozent) sowie nur drei Prozent der Mittel- und Oberschicht (West: 13 Prozent, vgl. Gesis 2009: 16), könnte neben den objektiven Gegebenheiten auch mit dem subjektiven Blick auf den Einheitsdiskurs zu tun haben. „Stellen wir gleich eingangs das Selbstverständliche klar“, schrieb zum Beispiel Peter Paul Kubitz zum Thema „50 Jahre deutsches Fernsehen“ Ende 2002. „Jawohl, das DDR-Fernsehen war zu 70, nein 80, 90 (oder sogar 99?) Prozent Propaganda“ (Kubitz 2002: 24f.). Solche „Selbstverständlichkeiten“ vernebeln den Blick dafür, dass viele der Sendungen aus Berlin-Adlershof sehr wohl bestimmte Bedürfnisse der Zuschauer erfüllt haben. Der Polizeiruf oder Ein Kessel Buntes gehörten in der DDR genauso zum Alltag wie Radio DDR, die SED-Bezirkszeitung, die Wochenpost und für nicht wenige auch die Junge Welt oder das Neue Deutschland – Dinge, die da sind, die einen hin und wieder ärgern, über die man sich ansonsten aber nicht sehr viele Gedanken macht. Der Systemwechsel hat auch diesen Teil des Alltags verändert – eine Veränderung, die in diesem Ausmaß niemand ohne Not von sich aus anstoßen würde.

Der Mensch braucht in seinem Tagesablauf Fixpunkte zur Orientierung, Gewohnheiten und Routinen. Die Stimme im Radio, die Sportmeldungen zu einer bestimmten Zeit, die Zeitung aus dem Kasten holen, die Kolumne der Lieblingsautorin. Es ist kein Zufall, dass die regionalen Tageszeitungen im Osten nach wie vor sehr viele Leser erreichen. In dem Bereich, in dem es formal die wenigsten Umstellungen gab (längst nicht alle SED-Blätter haben den Namen gewechselt, und je unattraktiver der Standort für westdeutsche Journalisten war, desto größer ist der Anteil der Redakteure mit Ost- und zum Teil mit Bezirkszeitungs-Herkunft), in diesem Bereich sind die Unterschiede am geringsten, und das, obwohl die wirtschaftliche Lage im Osten die Familien viel eher zwingt, über den Sinn eines Zeitungsabonnements nachzudenken.

Man mag Argwohn hegen gegen die „alten Seilschaften“ in der Presse und man kann die Anzeigenblätter, die in den neuen Ländern hohe Reichweiten haben und vielen Lesern inzwischen die Tageszeitung ersetzen, als „ein Refugium für alte SED-Journalisten“ beschreiben, wie der Filmregisseur Konrad Weiß, der die Unzufriedenheit im Osten als ein Produkt der „permanenten ideologischen Diversion“ gesehen hat (vgl. Holzweißig 2002: 178f.). Man kann aber auch fragen, ob Bürgerrechtler und Journalisten aus der Bundesrepublik die Menschen genauso hätten erreichen können. Den Medien aus dem anderen Teil des Landes ist oft vorgeworfen worden, zu wenig über den Osten zu berichten und wenn, dann eher einseitig, durch die „Westbrille“ (vgl. Früh et al. 1999). Bei allem Bemühen und bei ehrlichem Wollen dürfte es Menschen, die in der alten Bundesrepublik sozialisiert worden sind, nicht möglich sein, den Erfahrungshorizont der Ostdeutschen zu treffen, erst recht nicht von denen, die sich in der DDR eingerichtet hatten, dort zufrieden oder gar glücklich waren. Diese Situation dürfte sich nicht „biologisch“ ändern lassen, sondern nur über einen Wohlstandsschub. „Die Unterschiede in der Mediennutzung zwischen Ost- und Westdeutschland“ werden so lange „bestehen“ bleiben (Zubayr 2009: 112), wie die sozialen Positionen in Ost und West unterschiedlich verteilt sind.

[1] Monatliches Haushaltseinkommen in Ost und West 2008. Unter 1500 Euro: 50,2 vs. 36,6 Prozent; 1500 bis 2600 Euro: 33,0 vs.

32,9 Prozent, über 2600 Euro: 16,5 vs. 29,9 Prozent. Quelle: Statistisches Bundesamt.

Literatur

Bouhs, Daniel 2009: Super brisant: Boulevard aus dem Osten, in: taz vom 12. August.

Bourdieu, Pierre 1976 : Entwurf einer Theorie der Praxis auf der ethnologischen Grundlage der kabylischen Gesellschaft, Frankfurt.

Bourdieu, Pierre 1987: Die feinen Unterschiede, Frankfurt.

Darschin, Wolfgang; Zubayr, Camille 2000: Warum sehen die Ostdeutschen anders fern als die Westdeutschen? in: Media Perspektiven, S. 249-257.

Donsbach, Wolfgang 2007: Möglichkeiten der Veränderung des politischen Klimas in den neuen Ländern. In: Borchard, Michael (Hrsg.) Politische Kultur in den Neuen Ländern., Sankt Augustin, Berlin, S. 43-59.

Frey-Vor, Gerlinde; Gerhard, Heinz; Mende, Annette 2002a: Daten der Mediennutzung in Ost-und Westdeutschland. Ergebnisse von 1992 bis 2001 im Vergleich, in: Media Perspektiven, S. 54-69.

Frey- Vor, Gerlinde; Gerhard, Heinz; Mohr, Inge 2002b: Mehr Unterschiede als Annäherung? Informationsnutzung in Ost- und Westdeutschland, in: Media Perspektiven, S. 70-76.

Früh, Werner; Hasebrink, Uwe; Krotz, Friedrich; Kuhlmann, Christoph; Stiehler, Hans-Jörg (1999): Ostdeutschland im Fernsehen, München.

Früh, Werner; Stiehler, Hans-Jörg 2002: Fernsehen in Ostdeutschland. Eine Untersuchung zum Zusammenhang zwischen Programmangebot und Rezeption, Berlin.

Holzweißig, Gunter 2002: Die schärfste Waffe der Partei. Eine Mediengeschichte der DDR, Köln

IP Deutschland 2000: Deutschland – einig Fernsehland? Köln.

Jandura, Olaf; Meyen, Michael 2009: Warum sieht der Osten anders fern? Eine repräsentative Studie zum Zusammenhang zwischen sozialer Position und Mediennutzung. Unveröffentlichtes Manuskript (bei Bedarf bei den Autoren anzufordern).

Kubitz, Peter Paul 2002: DDR-Fernsehen birgt viele verlorene Schätze, in: Tendenz, H. 4, S. 24f.

Meyen, Michael 2003: Denver Clan und Neues Deutschland. Mediennutzung in der DDR, Berlin.

Schulz, Winfried 1997: Vielseher im dualen Rundfunksystem. Sekundäranalyse zur Langzeitstudie Massenkommunikation, in: Media Perspektiven, S. 92-102.

Spielhagen, Edith 1995: Ergebnisse der Oststudie der ARD/ZDF-Medienkommission, in: Media Perspektiven, S. 362-392.

Steinmetz, Rüdiger; Viehoff, Reinhold 2008: Deutsches Fernsehen Ost, Berlin.

Stolte, Dieter; Rosenbauer, Hansjürgen 1995: Die doppelte Öffentlichkeit, in: Media Perspektiven, S. 358-361.

Tuma, Thomas 2000: Mach dich raus! Die DDR lebt – zumindest im TV-Programm des Mitteldeutschen Rundfunk, in: Der Spiegel, H. 20, S. 118-121.

Zubayr, Camille; Geese, Stefan 2009: Die Informationsqualität der Fernsehnachrichten aus Zuschauersicht, in: Media Perspektiven, S. 158-173.

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