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Ostdeutsche und westdeut­sche Identität

Über Gründe und Sinn einer Differenz;

aus: vorgänge Nr. 187, Heft 3/2009, S. 85-93

Knapp zwanzig Jahre nach dem euphorisch als „Wiedervereinigung“ gefeierten Beitritt der DDR zur Bundesrepublik zeigt sich das vereinigte Deutschland als ein aufs Neue gespaltenes Land. Weder sind der westdeutsche und der ostdeutsche Bevölkerungsteil eins geworden, noch haben sich in der Fläche Ostdeutschlands die wirtschaftlichen Strukturen und Lebensverhältnisse den westdeutschen angeglichen. Es stellt sich also die Frage, woher die Unterschiede zwischen West-Identität und Ost-Identität kommen und wie sie sich heute reproduzieren. Wie ist die Situation in Ostdeutschland zu beschreiben? Welche Ressourcen bietet die ostdeutsche Identität beim Umgang mit historisch neuen Formen der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Schrumpfung?

I. Westdeut­sche und ostdeutsche Identität

I.1. Zwei konkurrierende Leit-Erzählungen

Die Frage, warum Deutschland nach der erfolgreichen friedlichen Revolution und seiner Vereinigung immer noch so spannungsvoll die „innere Einheit“ diskutiert, verweist in ideologische und mentale Tiefenschichten und damit auf die Geschichte der beiden rivalisierenden deutschen Nachkriegsgründungen. Während im Westen die Strukturen einer bürgerlichen Gesellschaft rekonstruiert und die Westdeutschen mental und ideologisch entsprechend geprägt wurden, entwickelte man die ostdeutsche Konkurrenzgründung in eine andere Richtung. In der ostdeutschen Diktatur entstand eine arbeiterliche Gesellschaft, die auch die Mentalität nichtarbeiterlicher Schichten bestimmte. Die Leit-Erzählungen beider Länder prägten mehrere West- und Ostdeutsche Generationen, insbesondere die „Kulturträger“, also jene Menschen, die in Politik und Administration, in Kultur, Bildung, Wissenschaft und in den Medien arbeiteten. Obwohl nach dem Beitritt die materiellen und die sozialpsychologisch bestimmenden Strukturen der arbeiterlichen Gesellschaft verschwanden, obwohl das Bildungs- und Mediensystem die Deutungsmuster der ostdeutschen Leit-Erzählung nicht mehr unterstützte, wirkte diese Sozialisation noch lange, auch transgenerationell, weiter. Das zeigt sich nicht nur an den anders codierten Werten und Sinnvorstellungen, sondern auch in der von den Westdeutschen abweichenden „subjektiven Schichteinstufung“ der Ostdeutschen. Westdeutsche wie Ostdeutsche ordnen sich – im Vergleich zu objektiven soziologischen Schichtkriterien überproportional oft – jener Schicht zu, die entsprechend der jeweiligen Leit-Erzählungen als ehrbare Stütze der Gesellschaft galt und gilt. Im Osten war das die „Arbeiterklasse“, im Westen war und ist das der bürgerliche Mittelstand.

I.2. Kontur und Differenz der unter­schied­li­chen Identitäten im Alltag

In den Jahren nach dem Beitritt prallten die – bis dahin zumeist unreflektierten – westdeutschen und ostdeutschen Normalitätsvorstellungen aufeinander. Das ist inzwischen in einer kaum noch übersehbaren Fülle von Erfahrungsberichten, Reportagen und wissenschaftlichen Studien aufgearbeitet worden. Sehr instruktiv ist die Analyse des Politikwissenschaftlers und Therapeuten Wolf Wagner. Er wechselte von West-Berlin an eine Fachhochschule nach Erfurt und rekonstruierte dort die Spannungen, die sich in den neunziger Jahren zwischen westdeutschen und ostdeutschen Kommunikationsstilen aufgebaut hatten. In „Kulturschock Deutschland“ illustriert er an einfachen Beispielen, wie sich in den neunziger Jahren die Unterschiede zwischen ostdeutscher und westdeutscher Sozialisation ebenso prägnant wie konfliktträchtig zeigten: Während es im ostdeutschen Kulturraum üblich ist, sich beim ersten Treffen am Tage sowie bei der Verabschiedung die Hand zu geben, tut man das in der westdeutschen Kultur seltener. Dies führt in den alltäglichen interkulturellen Interaktionen zu Frustrationen. So meinten die Ostdeutschen, dass die Westdeutschen ihnen den Händedruck „verweigern“, dass jene arrogant, distanziert und unhöflich seien. Die Westdeutschen hingegen erlebten die Ostdeutschen, welche ständig „nach ihren Händen griffen“ als undistanziert, altmodisch und piefig. Ähnliche Differenzen zwischen der westdeutschen und der ostdeutschen Sozialisation zeigen sich in der Art, wie in Gruppen Konflikte behandelt werden. Während bei den Ostdeutschen die Tendenz zum stillschweigenden Ausgleich, zu Kompromissen aber auch zum Überdecken von Konflikten vorherrscht, orientieren sind die Westdeutschen stärker am Modell von miteinander konkurrierenden Individuen. Die Austragung von Konflikten gilt hier nicht als Störung, sondern als Normalität. Beim Zusammentreffen der beiden Kommunikationsstile nehmen die Ostdeutschen die Westdeutschen als aggressiv, dominant und egozentrisch wahr, während sie sich selbst als solidarisch, kompromissbereit und zum Blick aufs große Ganze befähigt beschreiben. Den Westdeutschen hingegen erscheinen die Ostdeutschen als feige, scheinheilig, konformistisch und verdruckst – während sie sich selbst als offen, mutig und authentisch bezeichnen.

Es scheint also, dass westdeutsche Identität stärker vom Streben nach Individualität und Selbstverwirklichung und mehr vom Konkurrenzverhalten geprägt ist. Ostdeutsche Identität hingegen zeigt sich Wagner zufolge eher darin, dass die Gemeinschaft und der Ausgleich über Individualität (auch die eigene) gestellt wird beziehungsweise werden soll, und dass der Zusammenhalt und die ‚Gestimmtheit‘ des Kollektivs höher angesetzt wird.

Die oben beschriebenen Dissonanzen sind typisch für die Konflikte zwischen Angehörigen der ostdeutschen und westdeutschen Mittelschicht. Die größte Lücke zwischen Kommunikationsstilen und Selbstpräsentationsformen tat sich zwischen Angestellten, qualifiziertem Fachpersonal und Akademikern auf. In der Welt der ostdeutschen Industriearbeiter hingegen zeigten sich andere West-Ost-Konflikte. Hier ging es weniger um Formen und Stile, sondern darum, dass die ostdeutsche Industriearbeiterschaft ihre Verhandlungsmacht, ihre in der DDR noch bestehende „passive Stärke“ wie auch ihren symbolischen Status als wichtigste, als „führende“ Klasse, verloren hatte. So beschreibt der Industriesoziologe Werner Schmidt nicht nur die üblichen Interessenskonflikte zwischen Arbeitern und Managern, sonder auch den Zusammenprall der durch die bürgerliche und die arbeiterliche Gesellschaft sozialisierten Akteure. In seinen Studien zum Transformationsprozess in der Metall verarbeitenden Industrie entdeckte er bei den ostdeutschen Industriearbeitern eine so genannte „Ideologie der produktiven Arbeit“. Hierzu gehöre Schmidt zufolge „die schwer korrigierbare Überzeugung, dass die eigene Gruppe die einzig wirklich produktive, (…) und damit wichtigste sei, auf die niemand verzichten könne.“[1] Zugleich wurden nach dieser Ideologie die Gruppen definiert, die nicht wirklich arbeiteten: Nach unten grenzte man sich von den „Faulen“, den „Assis“ und den Arbeitsscheuen“ ab und in der anderen Richtung von dem „Wasserkopf“ und den „Pfeifen da oben.“[2] Dieses arbeiterliche Selbstbewusstsein und die „Ideologie der produktiven Arbeit“ kollidierten nach 1990 mit den neuen Abläufen und Hierarchien. Eine leitende ostdeutsche Angestellte in einem Wälzlagerwerk kommentiert die 19921994 asymmetrische eingeführten Privilegien und den Abbau von Zuwendung an die Arbeiter so: „Wir haben also, wir haben immer gelernt: ein Mensch ist ein Mensch! Egal, ob der nun Werkleiter ist oder ein Kumpel an der Maschine, du hast die alle gleich behandelt. So. Und das ist hier (im nun westlich gemanagten Wälzlagerwerk – T.A.) nicht so.“[3]

Beide Beispiele aus den neunziger Jahren zeigen schlaglichtartig, wie man sich die Resultate der Sozialisation in der arbeiterlichen Gesellschaft im Unterschied zur bürgerlichen Gesellschaft – oder eben die Differenz zwischen westdeutscher und ostdeutscher Identität – vorstellen kann. Auch heute, zwei Jahrzehnte nachdem die DDR in der Bundesrepublik aufging, finden sich noch typische West-Ost-Unterschiede – vom Fertilitätsverhalten bis zur Vereinbarkeit von Mutterschaft und Beruf. Ein weiteres Feld, wo sich West- und Ost-Identität unterscheiden, ist das gesellschaftsbezogener Werte. Insgesamt sind die Ostdeutschen etatistischer sowie stärker auf Gerechtigkeit und Chancengleichheit hin orientiert.[4] Die Unterschiede zwischen Ostdeutschland entspringen aber nicht nur sozialstrukturellen, sondern auch ideologischen und kulturellen Differenzen. Das illustriert der Politikwissenschaftler Gunnar Hinck in seinem systematischen Vergleich zwischen westdeutschen, ostdeutschen und schwedischen Wertvorstellungen: Ähnlich wie beispielsweise in Schweden definieren in Ostdeutschland deutlich mehr Menschen als in den alten Bundesländern“ Freiheit „als Freiheit von Not“; während im Westen umgekehrt und mit gleich großem Abstand zum Osten „Freiheit als Handlungsfreiheit“ verstanden wird.[5]

I.3. Die diskursive Konstruk­tion westdeut­scher und ostdeut­scher Identität

Die Ost-Diskurse

Die Ost-Diskurse setzten 1990 ein und dauern bis heute an. Durch die Öffnung der Grenze zwischen der DDR und Bundesrepublik wurde die westdeutsche Bevölkerung und ihre Medien gewissermaßen über Nacht mit einem neuen Gegenstand konfrontiert: Ostdeutschland und die Ostdeutschen. Diese überschwemmten wortwörtlich die grenznahen Städte. Neu war aber nicht nur der Besucherstrom, der ja auch bald abbebte. Nach der Grenzöffnung und dem allmählichen Zusammenbruch der Diktatur war es nun auch möglich, die Ostdeutschen in ihrer heimischen Umgebung ihr Land und dessen Institutionen ungehindert zu erforschen.

Die Medien der Bundesrepublik näherten sich diesem neuen Gegenstand, wie es Medien einer modernen Reflexionskultur immer tun: Das Fremde wurde vermessen, erforscht, interpretiert und dabei dem Eigenen gegenübergestellt. So entwickelte sich eine diskursive Ko- Konstruktion westdeutscher und ostdeutscher Identität. In dem über die Ostdeutschen – Fremde, Andere, vom Eigenen Abweichende – gesprochen wurde, sprach man implizite über die eigene Identität. Alterität stabilisiert Identität. Seit November 1989 entfalteten sich lang anhaltende und von besonderen Rahmenbedingungen geprägte Diskurse, die Darstellungen über die Ostdeutschen und deren Kultur liefern – die so genannten „Ost-Diskurse“.[6]

Zu diesen Rahmenbedingungen gehörten unter anderem der Transfer von Eliten und Fachkräften nach Ostdeutschland. Nachdem die kleinere DDR den Beitritt zur größeren (Alt-)BRD und die vollständige Übernahme bundesdeutscher Institutionen und Normen beschlossen hatte, wurden die alten ostdeutschen Eliten, das Fach- und Führungspersonal durch Sonderrecht, Abwicklungen und durch den Aufbau neuer Strukturen verdrängt. Ihre Stelle nahmen Westdeutsche oder deren neuen ostdeutsche Statthalter ein, zum Teil auch Angehörige jener ostdeutschen Subelite, deren Professionalisierung oder Aufstieg durch die Machthaber in der DDR verhindert worden war. Insgesamt blieben jedoch Ostdeutsche auf der Ebene der Eliten und der Führungskräfte deutlich unterrepräsentiert.[7] Insgesamt lag die Leitung des ,operativen Geschäfts‘ der Behörden, der Wirtschaft, in Wissenschaft, Medien und Kultur der Neuen Bundesländer bei den sogenannten „Wessis“. Inzwischen reproduziert sich diese personelle und ideologische Struktur von selbst. So kann für das Jahr 2004 festgestellt werden, dass die Quote westdeutscher Führungspersonen in Wirtschaft und öffentlichem Dienst noch einmal angewachsen ist.[8] Zum anderen ist nach dem Ende der neunziger Jahre die erste Generation von ostdeutschen Journalisten, Sozialwissenschaftlern und Zeitgeschichtlern durch ihre westdeutschen Mentoren professionalisiert, promoviert und habilitiert worden, so dass sie nun selbst Einfluss auf die Ost-Diskurse ausüben. Insofern verliert die Frage ostdeutscher oder westdeutscher Herkünfte etwas an Bedeutung. Statt ihrer dürfte es in den folgenden Jahren mehr um Identifikationen gehen, also um die Frage, an welchen Werten und Leit-Erzählungen sich die neuen Angehörigen der „medienpolitischen Klasse“ (Siegfried Jäger) orientieren werden.

Durch die Verwestlichung der ostdeutschen Medienlandschaft sahen die Ostdeutschen sich, ihre DDR-Vergangenheit, ihre Kultur sowie ihre „Erfolge“ oder ihr „Versagen“ beim „Aufbau Ost“ vor allem aus westdeutscher Perspektive beschrieben und bewertet. So vermissten viele Ostdeutsche abermals ein Forum, auf dem ihre Sichtweisen verhandelt wurden – ihre besonderen Ost-Erfahrungen im Transformationsprozess oder ihre neu gewonnenen Einsichten zur DDR und zum vereinigten Deutschland.[9] Damit war eine regelrechte Diskurs-Lücke entstanden. Als Reaktionen darauf entwickelten sich verschiedene Formen von Ostalgie.

Ostalgie als Reaktion

Ersten: Ostalgie in der Werbebranche. Paradigmatisch für eine kommerziell motivierte Nutzung dieser besonderen Diskurs-Situation ist die Werbekampagne für eine aus der DDR stammenden Cola-Marke. Im Jahr 1992 „verbrüderte“ sich die Club Cola regelrecht mit den Ostdeutschen. Mit ihrem Slogan: „Hurra, ich lebe noch!“ erklärte sie sich als eine der ihren. Die Cola wird als „Umbruchs-Überlebende“ inszeniert. Der weitergehende Text der Anzeige – „Von einigen belächelt, ist sie doch nicht totzukriegen“ – nimmt die Selbstverständigungsgespräche, die zu dieser Zeit in ostdeutschen Kantinen und Wohnzimmern geführten werden, auf. Der Text souffliert gewissermaßen: Wir haben es überstanden, wir lassen uns nicht unterkriegen.

Ein anderes Beispiel für ostalgische Werbung ist die der ostdeutschen Elektronikmarke RFT. Sie versucht die Aufmerksamkeit und Sympathie der Kunden zu gewinnen in dem sie mit ihrem Slogan die dahin gültigen Vorstellungen in ihr Gegenteil verkehrte: „ostdeutsch, daher gut.“[10]

Zweitens: Ostalgie als Praktiken von Laien. Ostalgie war auch ein Medium, mit dem bestimmte Milieus und Generationen in laienhafter Weise wichtige Brüche bearbeiteten. Mit dem Besuch oder der Organisation von Ostalgie-Partys nahm ein Teil der Ostdeutschen eine nachholende Verabschiedung der DDR und eine Selbstvergewisserung in der neuen Gegenwart vor. Eine Ostalgie-Party glich einem „historischen Karneval“: Die Kostüme waren DDR-typische Kleidungsstücke oder Uniformen, die Räume dekoriert mit Fahnen, Politiker-Porträts und Transparenten, auf denen ironische Abwandlungen einstiger Propaganda-Sprüche standen. So, wie es ein karnevaltypisches Bühnen-Repertoire gibt, gab es auch eines für Ostalgie-Partys: Honecker- und Ulbricht-Imitatoren präsentierten noch einmal das groteske Pathos und die sperrige Sprache der DDR-Selbstzuschreibungen, es gab Schlager und Popsongs aus der DDR zu hören, karikierende Fassungen der sozialistischen Hymnen und „Arbeiter- und Kampflieder“ – und manchmal tanzten die Easty-Girls zu modernisierten Pionier-Liedern. Man war wehmütig und zugleich feierte man, dass die dargestellte Vergangenheit ihre Macht verloren hatte.

Drittens: Ostalgie als Geschäftsfeld. Schon seit über einem Jahrzehnt verdient eine ganze Branche in Ost und West daran, mit Büchern, Tonträgern, Spielen, Kult- und Designprodukten ostdeutsche Erinnerungen zu moderieren. Mit Ostalgie-Produkten werden aber auch ganz neue Moden bedient. Denn inzwischen sind für viele Jugendliche die Symbole und Formen aus der DDR-Zeit willkommenes Material, um sich stilistisch von anderen abzuheben.

Viertens: Ostalgie als marginalisierter Gegen-Diskurs. Die Partys sind vorüber – geblieben ist eine Vielzahl laienhafter DDR-Museen, von denen einige wenige inzwischen auch an professionelle Standards heranreichen. Diese DDR-Museen folgten auch dem Impuls, einen Gegenentwurf zu den offiziellen und professionellen DDR-Museen zu liefern, in denen der Schwerpunkt auf der Darstellung der Unterdrückung und Indoktrination sowie der Ärmlichkeit und Hässlichkeit des DDR-Alltags liegt. Zum Gegen-Diskurs gehören außerdem etliche auflagenschwache Zeitungen, unterfinanzierte Journale und kleine Verlage. Sie bieten vielen, oft professionell wirkenden Akteuren jenes Forum, das ihnen in den etablierten Institutionen und Medien nicht gewährt wird.

Die genannten Facetten von Ostalgie konturieren jedoch nicht nur „im Stillen“ die ostdeutsche Identität. Über ihre mediale Bespiegelung konturieren sie immer auch die Identität der Westdeutschen, für die, die abweichende Ost-Identität eine wichtige Alteritäts- Konstruktion darstellt. Die spezifische Verfasstheit der westdeutschen Ost-Diskurse, die in den neunziger Jahren die beschriebene Diskurs-Lücke und die darauf reagierende Ostalgie hervorrief, scheint sich bis heute nicht gewandelt zu haben. Das zeigen Publikationen, die Medien-Diskurse jüngeren Datums analysieren.[11] Sie kommen zu dem Ergebnis, dass das mediale Bild von den Ostdeutschen nach wie vor – und bisweilen mit höchst selektiver Faktennutzung[12] – dazu dient, westdeutsche Identitäten zu stützen. Für Ostdeutsche bedeutet diese Konstellation, dass sie in einer (Medien-)Welt leben, in welcher der Fremdblick auf ihre Gruppe die vorherrschende mediale Darstellung ist. Entworfen wird dieser Fremdblick von westdeutschen Positionen aus, die, wie der Germanist Kersten Sven Roth überzeugend nachweist, als „Normal Null“[13] fungieren. Das alles führt dazu, dass die aus der Zeit der deutschen Spaltung stammende Identitätskonkurrenz nicht allmählich eingeebnet, sondern reproduziert wird.[14]
 

Die Konstruktion von Identität durch Geschichtsdiskurse

Auch die heutige Aufarbeitung der DDR-Geschichte vertieft bisweilen die Lücke zwischen westdeutscher und ostdeutscher Identität. Im Wahl-Jahr 2009 geschah das durch die Forcierung der „Unrechtsstaat-Debatte“. Es schien dabei nun nicht mehr nur um ein gemeinsames Bekenntnis zu Demokratie und sozialer Marktwirtschaft zu gehen, sondern auch darum, die DDR „ohne Ausflüchte“ als Unrechtsstaat zu bezeichnen. Sicherlich ist diese Art von Geschichtspolitik für die Westdeutschen identitätsstiftend und integrierend – die Ostdeutschen allerdings desintegriert sie mehrheitlich. Denn das „normale Leben ohne Widerstand und Verfolgung“, das sich die Mehrheit von ihnen zuschreibt, wird in dieser Perspektive zu einem Leben mit wissender Zustimmung zu einem Terror- und Unrechts-System. Eine jüngst erstellte repräsentative Bevölkerungsumfrage in Thüringen zeigt dagegen, dass die übergroße Mehrheit der Ostdeutschen sich rückblickend mit ihrem eigenen Verhalten in der DDR zufrieden zeigt.[15] Das heißt nicht, dass sie im vereinigten Deutschland nicht angekommen sind. Eine wachsende Mehrheit der Ostdeutschen hält „die Einführung einer politischen Ordnung nach westlichem Vorbild“[16] für richtig und nur ein Bruchteil will „am liebsten die DDR wieder haben.“[17]

Für diese zufriedene Sicht der Ostdeutschen auf ihr Verhalten und ihre Leistungen in der DDR und in den beiden Transformationsdekaden gibt es in den Ost-Diskursen keinen systematischen Platz. So kommt es, dass die Formen der Erinnerung an die DDR auseinanderdriften. Der Historiker Martin Sabrow beschreibt drei Formen der Erinnerung an die DDR: Erstens ein staatlich privilegiertes und im öffentlichem Gedenken vorherrschendes „Diktaturgedächtnis“, was die Unterdrückung in der DDR, den Widerstand und dessen Erfolg hervorhebt. Daneben besteht zweitens ein „Arrangementgedächtnis“, das vom richtigen Leben im falschen weiß und in Erinnerung ruft, wie man unter schwierigen Bedingungen den Alltag meisterte. Drittens schließlich gibt es ein „Fortschrittsgedächtnis“, das vor allem von den Protagonisten der sozialistischen Idee am Leben gehalten wird. Strukturell erinnert diese Spaltung an die Zeit der SED-Diktatur: Heute hört man in Schule, Hochschule und im Wesentlichen auch in den Medien das Eine über die DDR – und privaten und familiären Kreis das Andere.

II. Das wieder gespaltene Land

Wenn die Landkreise der Bundesrepublik auf den aktuellen Karten farblich markiert werden – beispielsweise nach dem durchschnittlichen jährlichen Wanderungssaldo, nach der künftigen Entwicklung des Durchschnittsalters, der Beschäftigtenzahl pro Betrieb, der Quote der erwerbsfähigen Frauen oder der Dichte der de.-domains – dann ersteht das Abbild der untergegangenen DDR wieder. Das vereinte Deutschland zeigt sich als ein abermals geteiltes Deutschland.[18]

Die zurückliegende Kolonisierung Ostdeutschlands hat diesen Landstrich um seine Zukunft gebracht. Junge Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die sich etwas zutrauen, die Karriere machen wollen, gehen zumeist in den Westen. Bekanntermaßen reagieren junge Frauen am sensibelsten darauf, wenn Regionen an Attraktivität verlieren. Die Abwanderung der jungen Mütter verschärft wiederum langfristig den Trend der Entleerung und Überalterung Ostdeutschlands. Das führt zu einem Rückzug staatlicher Institutionen, beispielsweise durch das Zusammenlegen von Schulen und Verwaltungszentren, der Einsparung von Kulturangeboten, sowie zu einer durch wirtschaftliche Akteure zu verantwortenden Ausdünnung von Handels-, Dienstleistungs-, und Freizeitangeboten – wie sich beispielsweise in der fehlenden Anbindung der Ost-Provinz an das „schnelle Internet“ zeigt.

III. Ost-I­den­tität und die neuen Problemen Ostdeut­sch­lands

Erfahrungen sind Ressourcen bei der Bewältigung von aktuellen Problemen. Mit der Schrumpfung des staatlichen Institutionen Netzes und dem partiellen Rückzug wirtschaftlicher Akteure – sowohl in ihrer Eigenschaft als Arbeitgeber wie auch als Anbieter – zeigen sich in Ostdeutschland Prozesse, wie sie in Deutschland seit der Nachkriegswachstumsphase nicht zu beobachten waren. Für den Umgang mit dieser Situation gibt es noch keine Rezepte und Richtlinien. Was werden die in ihren Regionen verbliebenen Ostdeutschen tun? Sie werden das tun, was ihnen ihre Ost-Identität, ihre Mentalität und Sozialisation ermöglicht – das, was schon bei der Bewältigung des problematischen DDR-Alltags dienlich war. Hierzu gehörten die Bildung von – durchaus statusheterogenen – partnerschaftlichen, familien- und betriebsorientierten Netzwerken sowie die Pflege des – von westdeutschen Beobachtern einst als „Chaosqualifikation“ beschriebenen – Improvisationsvermögen. Es ist jene „Kombination von Familialismus und Deinstitutionalisierung“, die heute schon typisch ostdeutsche Muster sind, die Partner- und Elternschaft, die Berufstätigkeit und den Familienkontext zu managen.[19]

Das alles sind apolitische, streng genommen, nicht einmal gesellschaftliche, sondern privatistische Lösungsansätze – was den Ostdeutschen auch immer wieder angekreidet wird. Doch diese Kritik aus der westdeutschen Bürger-Gesellschaft, die im Gegensatz zur Ostdeutschen weiter ihren Wohlstand steigern konnte, geht an den Realitäten in der verarmenden, arbeiterlich und kleinbürgerlich geprägten Ost-Gesellschaft vorbei. Denn sie verkennt die besonderen Transformationserfahrungen der Ostdeutschen. Jene hatten in den letzten beiden Dekaden erlebt, dass familiäre und private Netzwerke oft mehr zur Problembewältigung beigetragen haben, als gesellschaftliche Institutionen oder west-dominierte Parteien. Insofern gehört für die Ostdeutschen die Mitarbeit in Parteien, Vereinen, der Aufbau von Stiftungen und ehrenamtliches, bürgerschaftliches Engagement nicht zum Arsenal der erfahrungserprobten Instrumente. Während sich die bürgerliche Mitte des Westens als selbstbewusste Gestalterin ,ihrer Gesellschaft‘ versteht, ist ,die Gesellschaft‘ für die eher arbeiterlich und kleinbürgerlich orientierten Ostdeutschen viel mehr eine Gegebenheit, über die man nicht selbst verfügen, über dessen Verfasstheit „die da oben bestimmen.“ Deswegen konzentriert man sich kräftesparend auf die eigenen Netzwerke. So hat der ostdeutsche Kapitalismus ohne einheimisches Kapital, ohne regionale Eliten mit schwach ausgeprägter bürgerlicher Mitte die einst in der DDR geprägten Identitäten prolongiert und reproduziert. Doch damit dürften die Ostdeutschen besser „in die Zeit passen“, als manche denken, – vor allem jene, die immer noch erwarten, dass der Osten den Westen einholen könnte. Die kommende Phase der Schrumpfung, Entleerung und Überalterung, die partiell auch über einige Regionen des Westens kommt, ist etwas Neues, ein historisches Zwielicht, in dem sich das „Nicht Mehr“ mit dem „Noch Nicht“ mischt. Hierfür scheint die zusammenbruchserfahrene Ost-Identität eine geeignete Disposition zu sein.

[1] Werner Schmidt, Klaus Schönberger: „Jeder hat jetzt mit sich selbst zu tun“. Arbeit, Freizeit und politische Orientierungen in Ostdeutschland. Konstanz 1999, S. 62f.

[2] Schmidt/Schönberger 1999, S. 59.

[3] Werner Schmidt: Betriebliche Sozialordnung und ostdeutsches Arbeitsnehmerbewusstsein im Prozess der Transformation. München/Mehring 1996, S. 79, siehe auch 301ff.

[4 ]Thomas Bulmahn: Das vereinte Deutschland -Eine lebenswerte Gesellschaft? In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 52 (2000) H. 3, S. 405-427.

[5 ]Gunnar Hinck: Ostdeutsche Marginalisierung. In: Deutschland Archiv 40 (2007) H. 5, S. 808-814, hier S. 811.

[6] Vgl. Thomas Ahbe: Ost-Diskurse. Das Bild von den Ostdeutschen in den Diskursen von vier überregional erscheinenden Presseorganen 1989/1990 und 1995. In: Kersten Sven Roth und Markus Wienen (Hrsg.): Diskursmauern. Aktuelle Aspekte der sprachlichen Verhältnisse zwischen Ost und West. Bremen 2008, S. 21-53; sowie: Thomas Ahbe, Rainer Gries und Wolfgang Schmale (Hrsg.): Die Ostdeutschen in den Medien. Das Bild von den Anderen nach 1990. Leipzig 2009 (i. E.).

[7] Jörg Machatzke: Die Potsdamer Elitestudie – Positionsauswahl und Ausschöpfung. In: Wilhelm Bürklin und Hilke Rebenstorf (Hrsg.) Eliten in Deutschland. Rekrutierung und Integration. Opladen 1997. S. 35-69.

[8] Gunnar Winkler (Hrsg.): Sozialreport 2004. Daten und Fakten zur sozialen Lage in den neuen Bundesländern. Berlin 2004, 72.

[9] Das zeigt auch eine Studie des MDR aus dem Jahr 2004. Vgl: Peer Pasternak: Wissenschaftsumbau. Der Austausch der Deutungseliten. In: Hannes Bahrmann und Christoph Links (Hrsg.): Am Ziel vorbei. Die deutsche Einheit – Eine Zwischenbilanz. Berlin 2005. S. 221-236, hier S. 224-225.

[10] Vgl.: Abbildung der RFT-Werbeanzeige. Veröffentlicht in: Horizont. Zeitung für Marketing und Medien. Nr. 45, 6. November 1992, S. 40.

[11] Vgl. hierzu Julia Belke: Das Bild der Ostdeutschen im öffentlich-rechtlichen Fernsehen. Eine Diskursanalyse des ARD-Politmagazins KONTRASTE in der Zeit von 1987 bis 2005. In Ahbe/Gries/Schmale 2009 (Anm.6), S. 135-180 sowie Juliette Wedl: Ein Ossi ist ein Ossi ist ein Ossi … Regeln der medialen Berichterstattung über „Ossis“ und „Wessis“ in der Wochenzeitung Die Zeit seit Mitte der 1990er Jahre. In: ebenda, S. 113-134.

[12] Bettina Radeiski und Gerd Antos: ,Markierter Osten‘. Zur medialen Inszenierung der Vogelgrippe auf Rügen und am Bodensee. In: Roth/Wienen (Anm. 6), S. 55-67.

[13] Kersten Sven Roth: Der Westen als ,Normal Null‘. Zur Diskurssemantik von „ostdeutsch“ und „westdeutsch“. In: Roth/Wienen (Anm. 6), S. 69-89.

[14] Thomas Ahbe : Du problème de “ l’unité intérieure “ dans l’Allemagne unifiée. In : Hans Stark et Michèle Weinachter (dir.): L’Allemagne unifiée 20 ans après la chute du Mur. Lille 2009, S. 71-89, siehe auch ders.: Deutschland – vereintes, geteiltes Land. Zum Wandel sozialer Strukturen und Meta-Erzählungen. In: Niels Beckenbach (Hrsg.): Fremde Brüder. Berlin 2008, S. 55-97.

[15] 16% „sehr zufrieden“, 47% „zufrieden“, 29% „teils-teils“, 6% „weniger zufrieden“, 1% „unzufrieden“, 1% „weiß nicht“ – Jenaer Zentrum für empirische Sozial-& Kulturforschung: Zur sozialen Lage der Opfer des SED-Regimes in Thüringern. Erfurt 2008 S. 52.

[16] 1995 waren das 77 Prozent. Vgl.: Thomas Gensicke: Die neuen Bundesbürger. Opladen: Westdeutscher Verlag, 1998, S. 186. Im Jahr 2001 hielten 86 Prozent die Wiedervereinigung und 64 Prozent die Einführung der sozialen Marktwirtschaft für eine richtige Entscheidung. Klaus Schroeder: Die veränderte Republik. Deutschland nach der Wiedervereinigung. Stamsried 2006, S. 324.

[17] Im Jahr 2002 und im Jahr 2006 sind das 10% der Ostdeutschen, vgl.: Gunnar Winkler (Hrsg.): Sozialreport 2002. Daten und Fakten zur sozialen Lage in den neuen Bundesländern. Berlin 2002, S. 54 sowie: Klaus Schroeder: Der Preis der Einheit. Eine Bilanz. München 2000, S. 725.

[18] Steffen Maretzke: Die Bevölkerungsentwicklung in den Regionen Deutschlands. Ein Spiegelbild der vielfältigen ökonomischen Disparitäten. In: Insa Cassens, Marc Luy, Rembrandt Scholz (Hrsg.): Die Bevölkerung in Ost-und Westdeutschland. Demographische und gesellschaftliche Entwicklungen seit der Wende. Wiesbaden 2009 S. 223-260, hier S. 240-247.

[19] Jürgen Dorbritz; Kerstin Ruckdeschel: Die langsame Annäherung -Demografisch relevante Einstellungsunterschiede und der Wandel in den Lebensformen in West- und Ostdeutschland. In: Cassens/Luy/Scholz (Anm. 21), S. 261-294, hier S. 279, S. 287.

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