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Ostdeutsche "Identi­täts­pro­file"?

Spuren sozial-historischer Abgrenzungsmechanismen in ostdeutschen Biographien

aus: vorgänge Nr. 187, Heft 3/2009, S. 57-65

I. Einleitung

Die folgenden Überlegungen sind ein Nebenprodukt der von der Volkswagen-Stiftung geförderten international vergleichenden Studie zur Mentalitätsentwicklung in einer mittelosteuropäischen Grenzregion (Euroregion Neiße), an der ein polnisches Team der Universität Wroclaw[1], ein Team der Tschechischen Akademie der Wissenschaften, Prag[2], und ein Team der Universität Göttingen[3] mitgearbeitet haben.[4] Eines der provokantesten Ergebnisse ist zweifellos die Beobachtung, dass explizite Fremdheitskonstruktionen, sogar offene und subtile Rassismen, wenn man so will: „negative Identitätsmerkmale“, im deutschen Datenmaterial deutlich häufiger auftauchen als im Material der polnischen und tschechischen KollegInnen. Die Erklärung dieses Phänomens steht bei den nachfolgenden Überlegungen im Mittelpunkt. Sind diese Beobachtungen eine legitime Basis, von der Existenz eines typisch ostdeutschen „Identitätsprofils“ auszugehen, pointierter noch: von der empirischen Nachweisbarkeit einer „ostdeutschen Identität“?

Vermutlich wäre diese Erwartung absurd. Soziale und ökonomische Modernisierungs- und Differenzierungsprozesse, Migration und Mobilität haben in den vergangenen beiden Dekaden die ostdeutsche Gesellschaft derart massiv verändert, dass plakative „Universalismen“ die Situation auf dem Gebiet der ehemaligen DDR empirisch nicht angemessen beschreiben könnten. Und doch scheint es Parameter zu geben, die sich in den Biographien der betroffenen Gesellschaftsmitglieder niedergeschlagen haben und in den untersuchten drei postsozialistischen Teilgesellschaften unterschiedliche „Muster“ erkennbar werden lassen, die zumindest Hinweise auf ein „ostdeutsches Identitätsprofil“ nicht völlig ausschließen.

Das Untersuchungsdesign der Studie war intergenerational angelegt. Innerhalb eines Familienverbandes wurde mit dem Instrument des narrativen Interviews jeweils die Biographie eines Großelternteils und eines Enkels/einer Enkelin erhoben. Dieses Setting garantierte Einsichten in innerfamiliale Traditionsbildungen. Die deutsche Stichprobe (bezogen auf die Vergleichsregion Oberlausitz) umfasste insgesamt 86 ProbandInnen aus allen relevanten sozialen Milieus[5]. Auswahlprinzip war ein theoretisches Sampling unter Berücksichtigung systematischer Fallkontrastierungen (vgl. Strauss 1991; Alheit/Bast-Haider/Drauschke 2004).

Der konzeptionelle Ansatz der Untersuchung geht von einer figurationssoziologischen Beobachtung aus, die wir Norbert Elias verdanken: dass nämlich die Entwicklung moderner Gesellschaften durch eine drastische Verringerung der so genannten „Formalitäts-Informalitäts-Spanne“ gekennzeichnet sei (vgl. Elias 1989, 33ff). Während vormoderne Gesellschaften typischerweise charakterisiert sind „durch die Gleichzeitigkeit einer Formalität im Verkehr von sozial über- und untergeordneten Menschen, die an zeremonieller Härte jede entsprechende Formalität unserer Tage weit übertrifft, und einer Informalität innerhalb der eigenen Gruppe, die ebenfalls weit über das hinausgeht, was gegenwärtig im geselligen Verkehr von relativ gleichgestellten Menschen möglich ist“ (Elias 1989, 41), gilt für moderne Sozialgebilde, dass sie durch einen bemerkenswerten Informalisierungsprozess geprägt werden. Zu seinen Merkmalen gehören erhöhte Prosperität und Einkommenszuwächse aller gesellschaftlichen Gruppen, eine Veränderung der Machtbalance zwischen „Etablierten“ und „Außenseitern“, die Verringerung spezifischer „Machtdifferenziale“ (z.B. zwischen Männern und Frauen, zwischen Eltern und Kindern, zwischen Regierenden und Regierten), aber auch die Verunsicherungen, die das Einebnen der konventionellen Hierarchien mit sich bringt (vgl. Elias 1989, 33-38). Symptomatischerweise lässt sich genau diese Beobachtung für die DDR-Phase – auch im Vergleich zu den Entwicklungen in Polen und vor allem in Tschechien – nicht machen.

Dies hat nun Entwicklungsdefizite zur Folge, die sich auch auf die Konstruktion des Eigenen und Fremden auswirken, wenn man so will, zumindest auf Umrisse einer Art „Ostidentität“. Die nachfolgenden Überlegungen werden vor allem drei Modernisierungs- und Informalisierungsdefekte der DDR-Gesellschaft ausführlicher beschreiben, die zumindest Fragmente solcher defensiven Identitätskonstruktionen in ostdeutschen Biographien nach der Wende andeuten:

– eine gewisse „intergenerationale Modernisierungsresistenz“,
– ein DDR-typischer „egalitärer Habitus“ und
– ein „innnerfamiliäres Tradierungsmilieu“ für subtil rassistische Einstellungen.

 

II. Die Dominanz „persis­tenter“ Genera­ti­ons­kon­stel­la­ti­onen

Es erscheint erstaunlich, aber durchaus plausibel, dass gerade die DDR-Gesellschaft strukturell „vormodernen“ Gesellschaften ähnlicher ist als informalisierten politischen Demokratien des 20. Jahrhunderts. Auch darin unterscheidet sich die DDR von Entwicklungen in der Volksrepublik Polen oder in der CSSR (vgl. ausführlicher Alheit/Szlachcicowa/Zich 2006, 517ff). Der extrem formalisierte Staatsapparat wird regiert durch eine „quasi-feudale“ Funktionärsaristokratie, die allenfalls durch fragwürdige Akklamationsrituale legitimiert ist (vgl. ausführlich Alheit 1993; Alheit/Bast- Haider/Drauschke 2004). Im „Subraum“ gesellschaftlicher Alltagsbeziehungen ist Bewegung und Entwicklung nur sehr eingeschränkt möglich. Das „freie Spiel der Kräfte“, die Konfrontation alter und neuer sozialer Milieus, ihre Veränderung und Ablösung, wird durch rigide öffentliche Kontrollen eingedämmt und blockiert. D.h. die Spanne zwischen „Formalität“ und „Informalität“ im Sinne des Elias’schen Modells gleicht quasi-vormodernen Bedingungen.

Unsere Studie hat – was die Beziehung der Großelterngeneration zu den Enkeln angeht – drei Konfigurationen deutlich identifizieren können: eine Konstellation, die wir „Persistenz-Typus“ nennen (vgl. Alheit/Bast-Haider/Drauschke 2004) und die auf ein erstaunliches Beharrungsvermögen des jeweiligen sozialen Habitus oder Status über die Generationsgrenzen hinweg verweist, eine „Modernisierungs-Konstellation“, die vor allem mit intergenerationalen Bildungsaufstiegen verknüpft ist, und einen „Bruch-Typus“, der auf eine unübersehbare Statusdistanz zwischen erster und dritter Generation aufmerksam macht und gewöhnlich mit drastischen sozialen Abstiegen einhergeht.

Würde man in der alten Bundesrepublik eine vergleichbare Generationenbefragung unternehmen, wie wir dies in der Oberlausitz getan haben, müsste vermutlich die große Mehrzahl der Interviewtandems dem „Modernisierungs“ – Typus zugeordnet werden. Die Sozialstruktur der westlichen Bundesrepublik hat sich nämlich seit dem Zweiten Weltkrieg dramatisch verändert. Und die interessanteste Beobachtung dabei ist, dass sich nicht eigentlich die quantitativen Relationen der großen Straten – Oberschichten, Mittelschichten und Unterschichten – nennenswert verschieben, sondern dass gleichsam innerhalb der Straten erstaunliche Ausdifferenzierungsprozesse zu beobachten sind (vgl. stellvertretend Vester et al. 1993; Alheit 1994). So nehmen die klassischen Milieus, etwa das konservative gehobene Milieu, das kleinbürgerliche Milieu oder das traditionelle Arbeitermilieu, allein zwischen 1980 und 1990 um durchschnittlich 25% ab (vgl. Vester et al. 1993, 16).

Skizze: Ungefähres Verteilungsprofil der Typen im qualitativen Sample
XXXXXX Grafik

Zugleich aber bilden sich seit Ende der 1960er Jahre und beschleunigt seit Beginn der 1980er Jahre große neue Milieus wie das aufstiegsorientierte Milieu in den Siebzigern oder das der postmodernen Hedonisten in den 1990er Jahren. Auch interessante kleinere Milieus – wie das alternative Milieu, das traditionslose und das neue Arbeitermilieu – entstehen neu. Gemeinsam ist diesen neuen Milieus, dass sie nicht die großen Ungleichheitsrelationen verändern, sondern eine horizontale Bewegung im sozialen Raum (vgl. Bourdieu 1987) in Gang setzen, wenn man so will: eine „Öffnung“ in Richtung des kulturellen Pols des sozialen Feldes (vgl. Alheit 1994, 237ff). Diese Öffnung hat im Wesentlichen mit Bildungsaufstiegen zu tun, die nun auch konventionell bildungsfernere soziale Schichten erreichen. Die Gesamtentwicklung hat eine Modernisierung des sozialen Raums zur Folge, die individuelle Modernisierungsprozesse voraussetzt.

Betrachten wir nun das Material, das wir in Ostdeutschland erhoben haben, zeigt sich ein geradezu konträrer Befund. Ohne den Anschein erwecken zu wollen, quantitative Befunde zu suggerieren, müssen ca. zwei Drittel unserer Interviewtandems relativ eindeutig dem „Persistenz“ – Typus subsumiert werden, je ein knappes Zehntel verteilen sich auf „Modernisierungs“- und „Bruch“ -Typus bzw. sind nicht eindeutig zuzuordnen (s. Skizze).

Was bedeutet dieses Phänomen? Zunächst ist festzuhalten, dass der „Persistenz“ Typus kein Milieuprofil hat. Er verteilt sich auf alle von uns untersuchte Milieus. Die Beobachtung, dass zwischen Großeltern- und Enkelgeneration in Ostdeutschland eine überraschende Habitus Persistenz besteht, bezieht sich – was das untersuchte Feld angeht – auf alle Gesellschaftsschichten. Wenn dieses Phänomen, wie wir plausibel vermuten, nun nicht nur breit gestreut ist, sondern außerdem auch noch als Massenerscheinung betrachtet werden muss, dann bedeutet dies, dass sich der soziale Raum eben nicht „modernisiert“ hat wie in der westlichen Bundesrepublik, sondern in seiner inneren Dynamik blockiert war (und ist). Wir sprechen deshalb – und das ist die „Kernkategorie“ unserer Entdeckungen – von einer intergenerationalen Modernisierungsresistenz.

Dieser Soziologismus muss näher erläutert werden, damit deutlich wird, welche lebenspraktischen Dimensionen er berührt. „Resistenz“ ist zweifellos eine bestimmte Aktivität, die gesellschaftliche Energien bindet. Wenn große Gruppen der Bevölkerung moderner Gesellschaften sich gleichsam aktiv weigern, ihre soziale Situation zu verändern, und diese „Botschaft“ auch an die Folgegeneration weiter vermitteln, muss es dafür einsichtige Gründe geben. Plausibel ist die Persistenzkonstellation zweifellos bei gesellschaftlichen Eliten. Sie geben sinnvollerweise die Routinen und Strategien des Prestigegewinns bzw. der Prestigesicherung an nachfolgende Generationen weiter und stabilisieren dabei ihre Position. Verständlich mag er noch bei marginalisierten Gruppen sein, die mit einer gewissen Trägheit der eigenen Ambitionen und der Genügsamkeit der Erwartungen einen Schutz vor häufig erlebten Enttäuschungen und der Erfahrung weiterer Deklassierung aufbauen. Auch diese Haltung hat sozial nachvollziehbare Persistenzeffekte. Wenn dagegen selbst die breite Mitte der Bevölkerung vergleichbare intergenerationale Reproduktionsstrategien wählt, entsteht ein Sonderfall, der erklärungsbedürftig ist.

Mit genau diesem Sonderfall haben wir es in der Gesellschaft der ehemaligen DDR zu tun. Und das Erstaunliche bleibt, dass dieses Persistenzverhalten offensichtlich nicht mit dem Zusammenbruch der DDR abrupt beendet ist, sondern auch mehr als eine Dekade nach der „Wende“ noch beobachtet werden kann. Rein analytisch betrachtet entsteht dabei eine Art „Ständegesellschaft“ ohne Stände. Denn die Reproduktionsbasis des Persistenzphänomens ist zumeist schmaler als in vormodernen Gesellschaften: kleine Traditionsrahmen, ethnische oder religiöse Besonderheiten, Betriebe, regionale Spezifitäten, gewöhnlich aber nur der mehr oder minder große familiale Kontext. Diese gleichsam „moderne“ ständische Mentalität, die, die Grenzen zwischen den „Ständen“ unsichtbarer macht als in vormodernen Gesellschaften, setzt – wie alle Ständegesellschaften – auf Besitzstandswahrung. Dabei geht es keineswegs nur um ökonomische Besitzstände, sondern zumeist um Vergemeinschaftung Traditionen, also um „kulturelle Kapitale“. Die sorbische Minderheit ist dafür ein Beleg.

Moderne „Stände“ freilich entstehen, wo die Formalitäts-Informalitäts-Spanne künstlich ausgedehnt wird. Dann werden kleine soziale Einheiten, deren Bestand bedroht ist, gezwungen, ihre Reproduktionsstrategien zu konzentrieren, ihre innere Kohärenz zu stärken und Energien nicht auf Veränderung und Modernisierung zu verschwenden. Wirklich erstaunlich ist, dass dieses Verhalten eben auch auf die Arbeitermilieus der ehemaligen DDR zutrifft (vgl. Alheit et al. 1999, Bd. 2). Sie profitierten ja zumindest symbolisch am meisten vom neuen System (nach 1945). Aber gerade sie wurden auch zu intergenerationalem Persistenzverhalten gezwungen, um ihre berechtigten Besitzstände zu wahren (vgl. dazu Alheit/Haack 2004, bes. 431ff).

Im Transformationsprozess ist diese Mentalität nun zumal für die Arbeiter kontraproduktiv. Ihr klassisches Terrain ist drastisch reduziert, und die symbolischen Widerstandsformen von damals sind entwertet. Die Mentalitäten freilich scheinen langlebiger zu sein. Sie haben sich noch keineswegs den neuen Bedingungen angepasst. Und die den „quasi-ständischen“ Widerstandsformen komplementären „quasi-feudalen“ Rahmenbedingungen mögen heute der Enkelgeneration nicht wesentlich anders vorkommen als die staatssozialistische Willkür von damals den Großeltern. Intergenerationale Modernisierungsresistenz hat also durchaus plausible historische und soziale Gründe. Dass die Majorität der von uns Befragten diesem Typus zuneigt, bestätigt die figurationssoziologischen Vorüberlegungen.

Symbolische Besitzstandswahrung im kulturellen Nahbereich ist – konsequenterweise – mit Abgrenzungsstrategien verbunden. Und solche Strategien werden umso rigider, je mehr die Besitzstände gefährdet sind. Hier ergänzen sich die sozialen und ökonomischen Risikolagen der Nach-Wende-Situation mit den eingeübten Abgrenzungsmustern und bilden eine prekäre Melange nicht nur künstlicher Zugehörigkeit zu einer Art aufgenötigter „Schicksalsgemeinschaft“, sondern – problematischer noch – zu potenzieller Fremdenfeindlichkeit.

III. Nachwir­kungen des „egalitären Habitus“

Wolfgang Engler, der in seiner Studie über „Die Ostdeutschen“ (1999) den Begriff der „arbeiterlichen Gesellschaft“ von Elias entlehnt hat, setzt ihn in Beziehung mit einer kollektiven Befindlichkeit nach dem Zusammenbruch des Faschismus: einer doppelten Scham gleichsam – wie die Westdeutschen einer Nation von Verlierern anzugehören und, als Ostdeutsche, in eine neue Nation von Verlierern einzumünden. „Diese Schmach galt es zu tilgen. Arbeiten, um auch moralisch zu gesunden, hieß die Devise“ (ebd., 27/28).

Tatsächlich wurde die DDR eine „Arbeitsgesellschaft“ fast im metaphysischen Sinn. Über Arbeit definierte sich der Alltag. Die heroische Arbeit prägte das politische Leitbild. Und Arbeit war auch Sujet der bildenden Kunst, der Literatur, des Theaters. Freilich, die konkreten Arbeitserfahrungen waren fatal: überall Fehlplanungen, immer wieder Desorganisation, ermüdende und widersinnige Verhandlungen um Löhne und Normen (vgl. ausführlich Alheit et al. 1999, Bd. 1, 573ff). Engler resümiert ganz zutreffend: „Da die Rationalisierung der heroisch überspannten Arbeitspraxis jedoch auf Dauer nicht gelang, die Metaphysik der Arbeit andererseits nicht wiederzubeleben war, endete das Unternehmen in der Auszehrung jeglicher Arbeitsmotivation.“ (1999, 28)

Allerdings, ein mentalitäres Grundmuster dieser entmythologisierten Arbeitsgesellschaft setzt sich fest und wird zur kollektiven Identität der DDR-Bürger: die Standardisierung des Lebens, die Egalität der sozialen Reproduktion. Die „arbeiterliche“ Gesellschaft, wie immer unproduktiv sie vor sich hin wirtschaftet, ist eine Gesellschaft der Gleichen. Und Gleichheit war keineswegs nur eine Ideologie der Herrschenden. Die Herstellung egalitärer Strukturen im Alltag, der Kleidung, des Auftretens, des Gesprächs war ein interaktiver Prozess. Dieser Prozess ließ Exposition nicht zu, verpönte das Besondere, Außergewöhnliche, stieß auch das Fremde ab, wenn es sich dem Egalitätssog widersetzte. Der sympathische Zug dieses egalitären Habitus, die Akzeptanz des „anderen Gleichen“, hat eine dunkle Seite: die kollektive Ausgrenzung des Anderen, Widerspenstigen, Eigensinnigen.

Der DDR-Alltag hat einen Aspekt der systemischen Formierung verinnerlicht und zur eigenen Sache gemacht: die Konformität – keineswegs als ideologische Konformität, sondern als eine Egalisierung des kollektiven Habitus. Und auch diese mentale Disposition ist „modernisierungsresistent“ und sorgt für das Überdauern des ostdeutschen „Subraums“ auch nach der Wiedervereinigung. Denn nun machen alle nicht nur die Erfahrung der Überschichtung durch westdeutsche Eliten, sondern zusätzlich noch die erzwungene Bekanntschaft mit Habituszumutungen, die den verinnerlichten egalitären Habitus notorisch entwerten. Dieses Gefühl führt nicht nur zu kollektiven Kränkungen, es fördert auch das Bedürfnis nach kollektiven Abgrenzungen gegen alles Fremde, von dem „das Westdeutsche“ nur einen Aspekt darstellt. Fragmente dieser Identitätskonstruktion finden sich durchaus in der Enkelgeneration der von uns untersuchten Biographen.

IV. Die „lange Dauer“ subtil reakti­o­närer, rassis­ti­scher Orien­tie­rungen

Diese mentalitäre Disposition verbindet sich nun mit einem in den biographischen Erzählungen der Großeltern nachweisbaren Fundus an reaktionären und rassistischen Einstellungen, der uns überrascht hat. Das Entscheidende waren dabei nicht einmal die Inhalte selbst (Erfahrungen aus Hitlerjugend und Bund Deutscher Mädel, aus Waffen-SS und Wehrmacht), viel erstaunlicher war der Modus der narrativen Präsentation dieser Inhalte: Nur in wenigen Fällen wurden die eigenen Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus kritisch reflektiert. Die Spontaneität und in gewissen Sinn sogar „Schamlosigkeit“, mit der an Erlebnisse aus der Nazizeit oder aus dem Krieg angeschlossen wurde, erschienen uns symptomatisch. Offensichtlich hat es neben dem staatlich verordneten Antifaschismus, der sich in der Regel ja auf den kommunistischen Widerstand reduzierte, keinen öffentlichen Diskurs über den Nationalsozialismus gegeben, der Betroffene zur Problematisierung ihrer persönlichen Verstrickungen in das Nazi-Regime zwang. Im Gegenteil: es scheint, als habe der politisch motivierte Aufruf, sich als Bürger eines antifaschistischen Staates zu begreifen, eine Art äußerlicher Entlastung für alle Menschen in Ostdeutschland bewirkt, die umgekehrt alle Freiheit ließ, privat an die Erfahrungen und Einstellungen anzuknüpfen, die der nationalsozialistische Alltag mit sich brachte. D.h. wir haben einigen Grund zu der Vermutung, dass die ostdeutsche Gesellschaft über einen nicht thematisierten und schon gar nicht diskreditierten Wissensfundus an rechtsextremen und rassistischen Vorurteilen verfügt, der in den familialen Tradierungsprozess eingegangen ist.

Verknüpft man diese Beobachtung mit der Entdeckung der weit verbreiteten Persistenzkonstellation (s. o.), liegt der Schluss nahe, dass auch in der Enkelgeneration ein Teil dieses Fundus präsent ist – zumindest aber, dass bei den gerade in unserem Forschungsfeld häufig auftretenden rechtsextremen Ausschreitungen auf Bagatellisierungsbereitschaft, wenn nicht sogar auf Akzeptanz im sozialen Umfeld gezählt werden kann. Die Hypothese, dass der Verbreitungs- und der Intensitätsgrad rechtsextremer Aktivitäten in unserem Untersuchungsfeld eine entscheidende Ursache in der Langlebigkeit bestimmter affiner Einstellungen und in der Geradlinigkeit ihrer Tradierungen habe, kann durchaus Plausibilität für sich beanspruchen. Die Abwehr des Fremden hat also tiefe historische Wurzeln und gehört zu den Symptomen, die man dem Typus „ostdeutsche Identitätsprofile“ zuschreiben könnte.

V. Knappes Fazit

Ganz gewiss sind die vorgestellten Ergebnisse temporäre Befunde. Selbst die empirisch entdeckten Typen lassen zum Erhebungszeitraum bereits Dynamiken erkennen, konkreter: vermutbare Entwicklungen, die sich bei inner- bzw. intertypischen Vergleichen nahe legen. Und da zeigen sich erwartungsgemäß die deutlichsten Veränderungstrends bei dem dominanten „Persistenz-“ Typus.

Wir beobachten einmal eine vorsichtige Öffnung der Persistenzkonstellation hin zur Modernisierung (vgl. Alheit/Bast-Haider/Drauschke 2004, 141ff, 319f). Die Enkelgeneration hält an den Werten und Orientierungen der Großelterngeneration fest. Durch den sozialen Wandel nach der Wiedervereinigung sind jedoch insbesondere im Bereich der Bildungs- und Berufskarrieren Zwänge und Möglichkeiten entstanden, die eine Art sanften Modernisierungsdruck erzeugen. Symptomatisch ist allerdings, dass solche vorsichtigen Modernisierungstrends – sozialstrukturell betrachtet – nur am oberen Rand des „Persistenz Clusters“ beobachtet werden können, das sich im Übrigen auf den gesamten sozialen Raum verteilt. D.h. diese Öffnung scheint zumindest kulturelles und soziales Kapital vorauszusetzen.

Am unteren sozialen Rand des „Clusters“ entsteht offensichtlich ein gegenläufiges Risiko. Hier scheint die Gefahr zu bestehen, dass der in den Vorgenerationen erworbene „Besitzstand“ an sozialem, kulturellem, auch ökonomischem Kapital aufgrund der veränderten Rahmenbedingungen von der Enkelgeneration nicht gehalten werden kann. Das Risiko eines sozialen Bruchs ist hier nicht auszuschließen (vgl. Alheit/Bast- Haider/Drauschke 2004, 229f).

Aber auch beim „Modernisierungs- Cluster“ lassen sich Differenzierungen beobachten. Und auch hier spielen die sozialen Ressourcen eine entscheidende Rolle. Während Modernisierungskonstellationen im mittleren und oberen Bereich des sozialen Raums ein „pro-aktives Profil“ zeigen – die Angehörigen der Enkelgeneration verstehen sich als Akteure des innerfamiliären Modernisierungsprozesses -, reagieren Betroffene am unteren Rand des „Clusters“ eher defensiv. Sie sind häufig Opfer einer erzwungenen Modernisierung, die durchaus auch vom Scheitern bedroht sein kann. Auch bei dieser Konstellation ist das Risiko des intergenerationalen Bruchs nicht ausgeschlossen (vgl. Alheit/Bast-Haider/Drauschke 2004, 278ff).

Bei einer unübersehbaren Persistenz des mentalen Gesamtgefüges sind also durchaus Veränderungstendenzen erkennbar, die auf einen allmählichen Wandel der ostdeutschen Gesellschaft hinweisen. Die Konzentration auf eine problematische Region – eben die Oberlausitz – lässt pauschalisierende Verallgemeinerungen ohnehin nicht zu. In den Metropolen Dresden oder Leipzig mag die Situation deutlich anders aussehen. Dennoch bleiben die entdeckten Rahmenparameter wichtige Hinweise auf sozialhistorisch bedingte Ressourcen für charakteristische „Identitätsprofile“ im Osten Deutschlands. Eine pauschale „ostdeutsche Identität“ freilich ist auch für die künftige Entwicklung empirisch eher unwahrscheinlich.

[1] Unter Leitung von Prof. Dr. Zbigniew Kurcz und Dr. Irena Szlachcicowa, Wroclaw.

[2] Unter Leitung von Prof. Dr. František Zich, Prag.

[3] Unter Leitung von Prof. Dr. Dr. Peter Alheit, Göttingen (Gesamtleitung).

[4] Die mehrschichtigen Ergebnisse dieser Forschungen sind in einer umfangreichen Veröffentlichung (Alheit/Szlachcicowa/Zich 2006) und für den deutschen Part gesondert zugänglich (Alheit/Bast- Haider/Drauschke 2004).

[5] Orientierend waren dabei die von SINUS für die neuen Länder leicht abgewandelten Milieukonstellationen der sich wandelnden Milieus in Westdeutschland (vgl. Becker/Becker/Ruhland 1992; Vester et al. 1995). Die Gesamtstichprobe umfasste mehr als 300 Interviews in den drei Teilsamples.

Literatur

Alheit, Peter (1993): Le „syndrome allemand“. Problèmes structurels de la „réunification culturelle“, in: Revue Suisse de Sociologie, Vol. 19, 365-387.

Alheit, Peter (1994): Zivile Kultur: Verlust und Wiederaneignung der Moderne, Frankfurt am Main, New York.

Alheit, Peter, Hanna Haack, Heinz-Gerd Hofschen, Renate Meyer-Braun (1999): Gebrochene Modernisierung – Der langsame Wandel proletarischer Milieus. Eine empirische Vergleichsstudie ost- und westdeutscher Arbeitermilieus in den 1950er Jahren, 2 Bände, Bremen.

Alheit, Peter, Hanna Haack (2004): Die vergessene „Autonomie“ der Arbeiter. Eine Studie zum frühen Scheitern der DDR am Beispiel der Neptunwerft, Berlin.

Alheit, Peter, Kerstin Bast-Haider, Petra Drauschke (2004): Die zögernde Ankunft im Westen. Biographien und Mentalitäten in Ostdeutschland, Frankfurt am Main, New York.

Alheit, Peter, Irena Szlachcicowa, František Zich (2006): Biographien im Grenzraum. Eine Untersuchung in der Euroregion Neiße, Dresden.

Becker, Ulrich, Becker, Heinz, Ruhland, Walter (1992): Zwischen Angst und Aufbruch. Das Lebensgefühl der Deutschen in Ost und West nach der Wiedervereinigung, Düsseldorf, Wien, New York, Moskau.

Bourdieu, Pierre (1987): Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt am Main.

Elias, Norbert (1989): Studien über die Deutschen: Machtkämpfe und Habitusentwicklung im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt am Main.

Engler, Wolfgang (1999): Die Ostdeutschen. Kunde von einem verlorenen Land, Berlin.

Strauss, Anselm L. (1991): Grundlagen qualitativer Sozialforschung. Datenanalyse und Theoriebildung in der empirischen soziologischen Forschung, München.

Vester, Michael et al. (1993): Soziale Milieus im gesellschaftlichen Strukturwandel: Zwischen Integration und Ausgrenzung, Köln.

Vester, Michael et al. (1995): Soziale Milieus in Ostdeutschland, Köln.

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