Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 187: 20 Jahre Einheit in Uneinigkeit

Forcierte Säkularität

Die Dauerhaftigkeit des erzwungenen Eigenen im Osten Deutschlands;

aus: vorgänge Nr. 187, Heft 3/2009, S. 109-117

I. Nachhaltige Säkularität – ein andauernder Erfolg der SED?

Der zwanzigste Jahrestag der Demonstrationen im Herbst 1989, des Zusammenbruchs der DDR und des Mauerfalls rückt auch die Entwicklung einer Gruppierung erneut in den Blick, die wesentlichen Anteil an der Opposition gegen das DDR-Regime hatte: die Evangelische Kirche. Zwar mag man die Formel von der „protestantischen Revolution“ aus guten Gründen für übertrieben halten – zu wichtig für den Niedergang der DDR waren externe Ereignisse und Akteure, die ganz „profane“ massenhafte Ausreise und Flucht ihrer staatsmüden Bürger; und schließlich diejenigen Repräsentanten der Opposition, die zwar unter dem Dach der Kirche Zuflucht fanden, auf welche die Bezeichnung „protestantisch“ aber nicht zutrifft – den wichtigen Beitrag der Akteure aus der Evangelischen Kirche zu den Ereignissen des Herbstes 1989 wird man ernsthaft aber wohl nicht bezweifeln.

Für viele Beobachter außerhalb Deutschlands erscheint es angesichts dieses Umstandes erstaunlich, dass die öffentliche Bedeutung der Kirchen und ihre Resonanz in der Bevölkerung nach dem Mauerfall und der deutschen Vereinigung nicht anhielten. Unter demokratischen Bedingungen sortierten sich diejenigen, die unter dem Dach der Kirche aus unterschiedlichsten Gründen zusammen gekommen waren, neu: An die Stelle der kirchlichen Aktivisten traten zunehmend politische Akteure (die häufig auch aus den Kirchen kamen); und die Künstler, Umweltaktivisten, Friedenskämpfer und andere, denen die Kirche als Dach gedient hatte, nutzten nun die Breite des verfügbaren öffentlichen Raums für ihr Engagement. Manche Anhänger zogen sich angesichts der organisatorischen Veränderungen, die, die Vereinigung auch in den Kirchen mit sich brachte, enttäuscht zurück; und wieder andere wandten sich von den Kirchen ab, als Stasiverstrickungen eines Teils des führenden Personals aufgedeckt wurden. Hauptursache für die Kirchenaustrittswelle zu Beginn der 1990er Jahre aber war etwas recht Banales, wenn auch Folgenreiches: Es fand eine Form der „Bereinigung“ der Mitgliedschaftsverhältnisse statt. Viele beendeten angesichts nun auf sie zukommender Kirchensteuerforderungen eine nur noch formal aufrechterhaltene, vielfach bereits „vergessene“ Mitgliedschaft.

Gleichwohl bleibt es für Beobachter außerhalb Deutschlands in gewisser Weise ein Paradoxon: dass die Kirchen, die zu DDR-Zeiten wichtigen Raum für bürgerschaftliches Engagement geboten hatten, für die Bevölkerung der einzige institutionelle Ansprechpartner jenseits des Staates gewesen waren und als solcher vielfach in Anspruch genommen wurden; dass die Kirchen, deren Aktivisten im Prozess des Niedergangs der DDR und bei deren geregelter Auflösung eine so wichtige Rolle gespielt hatten, heute, was ihre Mitgliedschaft angeht, so exzeptionell schwach dastehen.

Aus der Binnenperspektive eines Landstrichs, in dem Konfessionslose gut drei Viertel der Bevölkerung ausmachen und eine Änderung dieser Größenordnung nicht in Sicht ist, fragt mancher, ob nicht die SED mit ihrer antikirchlichen Politik letztlich nur etwas beschleunigt habe, was ohnehin der Lauf der Dinge gewesen wäre. Hätten sich nicht, wenn es sich anders verhielte, nach dem Ende der Repression die Kirchen wieder füllen müssen, wie es in manchen anderen postkommunistischen Ländern (freilich nicht in allen) der Fall ist? Und wären nicht die Kirchenmitglieder resistenter geblieben – wie etwa in Polen – wenn sie dem christlichen Glauben und seinen organisierten Vertretern wirklich verbunden gewesen wären? Hätten sie nicht zumindest im Nachhinein – mit dem Nachlassen der Repression – in den Schoß der Kirche zurückkehren müssen, wenn in der Zeit der DDR eine irgendwie relevante Bindung gekappt worden wäre? Wurde also nicht im Osten Deutschlands durch den äußeren Einfluss lediglich ein Prozess forciert, der bereits vorher begonnen hatte und der sich – gleichsam naturwüchsig – ohnehin vollzogen hätte, zwar langsamer, aber unaufhaltsam, wie der kontinuierliche Rückgang der Kirchenmitgliedschaft auch im Westen Deutschlands zeigt?

Manchen, die nach wie vor einer der christlichen Kirchen angehören, insbesondere denen, die unter der Repressionspolitik der SED gelitten haben, mag diese Annahme wiederum wie eine Verleugnung der erlittenen Schikanen, der Bedrohung und Bespitzelung, und der massiven Benachteiligungen in Bildung und Beruf erscheinen. Für sie ist die religiöse Lage im Osten Deutschlands das andauernde Resultat repressiver Religionspolitik und „erzwungener Säkularisierung“ (Meulemann 2003), in dem sich letztlich die unter dem Nationalsozialismus erfahrene „Schädigung“ der Kirchen (Nowak 1996) fortsetzte.

Was also für die einen die schwer verständliche Reaktion eines „treulosen“ Kirchenvolkes ist, repräsentiert für die anderen die Konsequenz eines lediglich forcierten Prozesses unausweichlicher Säkularisierung, während eine dritte Gruppe darin eine nachhaltige Konsequenz der antikirchlichen Politik des diktatorischen Regimes sieht. Je nach eigenem Standpunkt und Gruppenzugehörigkeit wird die eine oder die andere Seite stark gemacht. In den Positionen schwingen oft Bewertungen des Vergangenen, der Gegenwart und des Transformationsprozesses mit, was eine differenzierte Einschätzung zusätzlich erschwert.

Grundsätzlich wirft der Versuch, die religiöse Entwicklung in der DDR und in Ostdeutschland einzuschätzen, das Problem auf, die Bedingungen und Konsequenzen des Lebens in einer Diktatur – und das heißt auch: das Ineinandergreifen von Zwang und Wahl, Zugemutetem und Entschiedenem, bloßer Anpassung an äußere Rahmenbedingungen und subjektiv Angeeignetem – angemessen zu bewerten. Offenkundig war ja die Religionspolitik der DDR gerade darin langfristig erfolgreich, dass es ihr in weiten Teilen gelungen ist, aus dem Erzwungenen eine Haltung werden zu lassen, die den Zusammenbruch des Systems, aus dem sie hervorgegangen ist, überdauert hat. Wer allein den Zwang des zustande Gekommenen betont, übersieht, dass auch unter repressiven Bedingungen religionskritische, atheistische und säkularistische Haltungen Plausibilität entfalten können; wer aber nur die „moderne“ Plausibilität solcher Haltungen herausstreicht, unterschlägt die repressiven Bedingungen, unter denen sie sich herausgebildet haben. Wir sprechen, um diese Spannung von Zwang und Aneignung abzubilden, von „forcierter Säkularität“ (Wohlrab-Sahr/Karstein/Schmidt-Lux 2009). Aus dem durch Repression Erzwungenen ist – teils durch Gewöhnung und säkulare Traditionsbildung, teils aus Überzeugung – ein Eigenes geworden, von dem heute als stabile Haltung auszugehen ist. Dies hat auch die gesamtdeutsche „religiöse Lage“ merklich verändert, insofern das wachsende „Drittel“ der Gesamtbevölkerung, das keiner Konfession angehört und – damit nicht ganz deckungsgleich – ebenfalls ein Drittel der Bevölkerung, das als dezidiert „religionslos“ bezeichnet werden kann, sich als stabile Größe neben die Lager der Protestanten und Katholiken geschoben hat (Wohlrab-Sahr 2009) und einherging mit einer nachhaltigen Veränderung der politischen Landschaft der Bundesrepublik.

II. Deter­mi­nanten und Folgen der Säkula­ri­sie­rung in der DDR

Es würde zu weit führen, die Determinanten des beispiellosen Entkirchlichungs- und Säkularisierungsprozesses, der sich in der Zeit der DDR vollzogen hat und die Kirchenmitgliedschaft von ca. 90 Prozent nach dem II. Weltkrieg auf unter 30 Prozent am Ende der DDR-Zeit reduziert hat sowie den Anteil der dezidierten Atheisten – je nach Umfrage etwas variierend – auf mehr als 50 Prozent anwachsen ließ, hier im Detail zu behandeln. Deutlich ist jedoch, dass wir es mit keinem monokausalen Zusammenhang zu tun haben, sondern dass historische, politische, kulturelle und sozialstrukturelle Einflussfaktoren ineinander greifen. Diese Einflussfaktoren führten im Ergebnis zu einer besonderen kulturellen Prägung Ostdeutschlands, die bis heute zu spüren ist und zu der eine religionskritische Haltung essentiell dazugehört.

II.1. Säkula­ris­ti­sche Tradition in Mittel­deut­sch­land

Um die kulturelle Konstellation in der DDR in den Blick zu bekommen, muss man in die Zeit vor 1945 zurückgehen. Besonders relevant sind hier die weltanschaulichen Auseinandersetzungen Ende des 19. Jahrhunderts, die – getragen durch Gruppen wie Monisten oder Freidenker und andere säkularistische Vereinigungen, mit beträchtlicher Resonanz in der Sozialdemokratie – bereits eine Relativierung religiöser Positionen mit sich brachten (Hölscher 2001; McLeod 2000; Kaiser 2003). Selbst wenn solche Tendenzen in verschiedenen Teilen Deutschlands festzustellen sind, sticht doch die starke Konzentration von Kirchenkritik, Kirchenaustritten und säkularistischen Akteuren in den industrialisierten Regionen Ost- und Mitteldeutschlands ins Auge: Berlin, Eisenach, Leipzig, Weimar, Jena, Magdeburg und Gotha. Für Westdeutschland wären zu nennen: Trier, Frankfurt und Kassel (vgl. Kaiser 2003: 124f.).

Nach einer Phase enger Staat-Kirche-Bindungen im Kaiserreich und der formalen Neutralität der Weimarer Republik war dann der Nationalsozialismus gleichermaßen durch eine gezielte antikirchliche Politik des Staates wie durch Versuche der Vereinnahmung der Kirchen und ideologische Konkurrenz gekennzeichnet (Nowak 1996).

Diese Prozesse führten im Osten Deutschlands insofern bereits zu einer gewissen Erosion der Kirchenbindung, die sich zunächst in der schwächeren Teilnahme an kirchlichen Riten, erst später in der rückläufigen Mitgliedschaftsentwicklung bemerkbar machte (Hölscher 2001). Damit setzten Entwicklungen ein und wurden Konfliktkonstellationen etabliert, an die, die Religionspolitik in der DDR anknüpfen konnte. Im Westen Deutschlands verlief die Entwicklung bekanntlich anders: Nach Nationalsozialismus und Krieg waren die Kirchen willkommene Partner der Politik, und ihre moralische Aufwertung in der Nachkriegszeit wurde im Grunde erst in den 1960er Jahren in Frage gestellt.

II.2. Antikirch­liche Politik und Repression in der DDR

Es hieße freilich, die konkreten Zeitumstände zu ignorieren, würde man einfach eine gerade Linie vom Auftreten säkularistischer Bewegungen im 19. Jahrhundert bis hin zu den Konfessionslosenzahlen im Osten Deutschlands heute ziehen – so, als habe sich ein säkularer Weltgeist in lediglich unterschiedlichen Gewändern durchgesetzt. Dagegen spricht die starke Diskontinuität des Prozesses der Entkirchlichung in der DDR. Deren Höhepunkt lag in den 1950er Jahren und fiel mit der Auseinandersetzung zwischen Staat und Kirchen um die äußerst aggressiv durchgesetzte Jugendweihe zusammen. Indem sich die Jugendweihe als Alternative zur Konfirmation durchsetzte, hatte es die SED geschafft, den Kirchen ein wesentliches Instrument ihrer volkskirchlichen, mit Familienritualen verbundenen Verankerung zu rauben. Die Substitution weiterer Riten – Hochzeiten und Beerdigungen – durch säkulare Angebote war dem nachgeordnet, lag aber auf derselben Linie. Im Rahmen unserer Forschung über den religiös-weltanschaulichen Wandel im Osten Deutschlands, im Zuge derer wir zahlreiche ostdeutsche Familien in Familien- und Einzelgesprächen interviewten (Wohlrab-Sahr/Karstein/Schmidt-Lux 2009),[1] wurde immer wieder berichtet, dass die Anmeldung zur standesamtlichen Trauung oft mit einem gemeinsamen Austritt der Ehepartner aus der Kirche einherging. Die im Sozialismus entstehende säkulare Begräbniskultur schließlich ließ den Anteil anonymer Beerdigungen erheblich anwachsen und markiert bis heute eine deutliche Differenz zwischen Ost- und Westdeutschland. Die Verbreitung anonymer Beerdigungen ist ein wesentlicher Indikator für Säkularisierungsprozesse (Sachmerda-Schulz 2009).

Die Mitgliedschaft der evangelischen Kirche in der DDR sank zwischen 1950 und 1964 von 80,5 Prozent auf 59,4 Prozent (Pollack 1994): Dieser Einbruch ist eindeutig aus dem zu dieser Zeit sich zuspitzenden Konflikt zwischen Staat und Kirche zu erklären. Bezogen auf zwei Gemeinden in Halle und Landsberg zeigen Kölling et al. (2000) einen regelrechten „Zusammenbruch“ der Konfirmationszahlen zwischen 1958 und 1960. Der Konflikt um die Jugendweihe ist das herausragende, keinesfalls aber einzige Beispiel für die besondere Situation, der die Kirchen in der DDR ausgesetzt waren. Fast von Beginn an versuchte die SED, den Kirchen die Grundlage ihrer Arbeit zu entziehen und diejenigen, die an ihrer Religiosität festhielten, durch gezielte Benachteiligungen in Bildung und Beruf sowie durch Repression zu beeinflussen. Dies dokumentierte sich in der Schließung von Diakonien und Bahnhofsmissionen, der Kriminalisierung der Jungen Gemeinden, der Verhaftung kirchlicher Mitarbeiter, der Verdrängung des Religionsunterrichts aus den Schulen, den angedrohten Schließungen von kirchlichen Bildungs- und Erziehungseinrichtungen und der gezielten und massiven geheimdienstlichen Beobachtung kirchlicher Einrichtungen und Vertreter. Auch wenn solche Maßnahmen in den 1950er Jahren ihren Höhepunkt hatten, zeigte doch zuletzt die Besetzung der Umweltbibliothek in der Berliner Zionskirche im Jahr 1988, dass kirchliche Tätigkeit in der DDR im Grunde zu keiner Zeit wirklich unbehelligt blieb.

II.3. „Wissen­schaft­liche Weltan­schauung“ vs. „anti­quierter Märchen­glaube“

Zentral für die Konstellation in der DDR ist aber aus unserer Sicht die Tatsache, dass der Staat sich in direkte weltanschauliche Konkurrenz zu den Kirchen begab. Charakteristisch dafür sind die Bemühungen von Partei und Staat, religiöse Glaubensüberzeugungen als irrationale, überkommene und wissenschaftsfeindliche Denkweisen und damit als der neuen sozialistischen Gesellschaft unangemessen zu klassifizieren. Die Kirchen wurden, ganz dem marxistisch-leninistischen Religionsverständnis entsprechend, als die kapitalistische Herrschaft sichernde, dem sozialistischen Staat feindliche Institutionen angesehen. Wenngleich diese dichotomisierende Sichtweise vor allem die 1950er Jahre prägte, hielt sie sich letztlich bis ans Ende der DDR (einschlägig dazu Pollack 1994; Staritz 1996; Vollnhals 1997). Die Partei versuchte, die Kirchen in ihrem Arbeits- und Wirkungsbereich weitgehend einzuschränken und als gesellschaftliche Kraft zu marginalisieren. In Folge dieses Ausschließlichkeitsanspruches der SED auf institutioneller und weltanschaulicher Ebene wurden die individuellen Akteure in eine Situation induzierten Entscheidungszwangs versetzt. Das Motto „Sag mir, wo du stehst“ galt auch auf dem Feld religiöser Entscheidungen und stellte die Menschen vor die Wahl, entweder dem säkularistischen Staat oder der Kirche Loyalität zu erweisen. Im Rahmen unserer Forschung wurde immer wieder deutlich, in welchem Maße die Konflikthaftigkeit des Verhältnisses von Staat und Kirche die Darstellungen bis heute prägt, sei es in Form einer Ausschlusslogik („Irgendwann musste dich bekennen“ oder „Man kann nur einem Herren dienen“) oder in Form mühsamer Balanceakte, in denen das, was möglich und verträglich war, ausgelotet wurde („nie mit der Kirchenfahne vorneweg“; „Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist“; „immer diese Zweigleisigkeit“) (vgl. dazu auch Karstein et al. 2006).

Wohl als erstes ist diese Konflikthaftigkeit in literarischer Form von Uwe Johnson bearbeitet worden. Er hat in dem erst posthum veröffentlichten Roman „Ingrid Babendererde. Reifeprüfung 1953“ (Johnson 1992 [1985]) bereits in den Jahren 1956/57 die Auseinandersetzung um FDJ und Junge Gemeinde beschrieben, die in dieser Zeit als politischer Konflikt in die Schulklassen hineingetragen wurde. Im Zuge dieser Auseinandersetzung wurde die Frage der politischen oder religiösen Orientierung in einen Mitgliedschaftskonflikt überführt, in dem man sich zu entscheiden hatte.

Diese grundlegende Konflikthaftigkeit unterschied die Lage in der DDR grundlegend von derjenigen in Westdeutschland – mit bis heute anderen Konsequenzen. Anders als die westlichen Gesellschaften mit ihren diversen Arten der (mehr oder weniger konsequenten) Unterscheidung religiöser, politischer und anderer gesellschaftlicher Sphären, beanspruchte die Politik in der DDR ein klares Primat über die Gesamtgesellschaft und damit auch gegenüber der Religion. Die SED sprach der Religion ihre gesellschaftliche Legitimität weitgehend ab. Zudem galt die Religion als Gegnerin der modernen Wissenschaft. Daraus wurde der Anspruch ihrer vollständigen Ablösung durch eine „wissenschaftliche Weltanschauung“ abgeleitet (Schmidt-Lux 2008). Diese grundlegende Konflikthaftigkeit im Verhältnis von Religion und Wissenschaft sowie von Religion und Politik ist im Osten Deutschlands bis heute spürbar und markiert einen wesentlichen Unterschied zum Westen, wo man es im Verhältnis von Religion und Politik sehr viel stärker mit wechselseitiger Unterstützung, aber auch mit Indifferenz zu tun hatte und wo das Verhältnis von Religion und Wissenschaft nur in seltenen, eher abstrus erscheinenden Fällen als Konkurrenzverhältnis in Erscheinung trat.

Nun hat freilich die SED diese Konflikthaftigkeit nicht erfunden: Sie konnte an Motive anschließen, die gleichsam zum Grundbestand der europäischen Aufklärung und der westlichen Moderne gehören: Das Verhältnis zwischen Religion und Wissenschaft war im Zuge des Prozesses gesellschaftlicher Differenzierung zweifellos ein spannungsreiches (wenn auch nicht pauschal ein gegensätzliches): Der Konflikt zwischen Galileo Galilei und der Kirche, die ihn ursprünglich in seiner wissenschaftlichen Tätigkeit erheblich unterstützt hatte, ist in die europäische Wissenschafts- und Säkularisierungsgeschichte unauslöschlich eingeschrieben. Insofern konnte die SED an einen originären Diskurs der Moderne anschließen, den es natürlich auch in der Bundesrepublik und anderen westlichen Ländern gab. Gleichwohl wurde diese Spannung – wenn auch an verschiedenen Stellen spürbar – in den meisten Fällen (Frankreich ist hier eine Ausnahme) nicht zum unversöhnlichen Gegensatz ausgebaut und nicht gesellschaftsweit, sondern eher in kleineren, intellektuellen Zirkeln thematisiert.

Was an der DDR-Entwicklung besonders war, war also nicht diese Spannung selbst, sondern vielmehr die Konfliktkommunikation, mit der sie verstärkt und in einen unversöhnlichen Gegensatz von Irrationalität und Rationalität, rückwärtsgewandten und nach vorn gewandten Kräften überführt wurde. Es ist diese Vorstellung des Gegensatzes von Religion und Wissenschaft, auf die man auch heute im Osten Deutschlands immer wieder stößt, und die das Ende des politischen Systems der DDR überdauert hat. Unsere Interviewpartner erzählen etwa, wie sie während ihrer Schullaufbahn „zwar nicht zu Kommunisten, aber zu Atheisten“ wurden, und klassifizieren die Glaubensbestände der Kirchen selbstverständlich als „Märchen“ oder „Mythen“. Und in repräsentativen Umfragen kann man die Landesteile noch immer am unterschiedlichen Grad der Zustimmung zu einer Frage wie der folgenden identifizieren: „Man soll sich an das halten, was man mit dem Verstand erfassen kann und alles andere auf sich beruhen lassen.“ (ALLBUS 1991; 2002).

Dabei zeigt sich die Wirkung des Gegensatzes nicht nur dort, wo er aktiv bemüht wird, sondern auch dort, wo von Repräsentanten der Kirchen der Gegenseite religionsfeindlicher „Säkularismus“ unterstellt wird. Es lässt sich unseres Erachtens nur vor diesem Hintergrund erklären, dass sich an der Frage des Neubaus der Leipziger Aula an der Stelle der (im Auftrag Ulbrichts gesprengten) ehemaligen Universitätskirche oder der Forderung nach einem Wiederaufbau eben dieser Kirche, und schließlich über der Frage, ob, wie und mit welchen Symbolen der Unterscheidung versehen, in die Aula eine Universitätskirche integriert werden kann, weltanschauliche Grundsatzdebatten entzündeten, die Jahrzehnte andauerten, eine Universitätsleitung zu Fall brachten und in denen die Akteure sich nicht scheuten, die Symbolwelt konfessioneller Auseinandersetzungen von historischer Tragweite („Thesenanschlag“) zu bemühen (Richter/Schmidt-Lux 2009).

II.4. Der Einfluss des Protes­tan­tismus

Betrachtet man die religiösen Entwicklungen in den ehemals sozialistischen Staaten, ist unverkennbar, dass auch die Konfession einen Einflussfaktor darstellt, der Säkularisierungsprozesse, aber auch Revitalisierungen der Religion nach dem Ende des Kommunismus erleichterte oder erschwerte. Es würde zu weit führen, die Vielfalt der Konstellationen hier im Einzelnen zu diskutieren. Deutlich ist jedoch, dass es den Kirchen in den mehrheitlich katholischen – in der Tendenz auch stärker agrarisch geprägten – Ländern insgesamt besser gelungen ist, den Einfluss der konkurrierenden säkularistischen Ideologien zu neutralisieren als dies in den protestantischen Gegenden – wie Estland oder der DDR – der Fall war. Und deutlich ist auch, dass sich in den orthodoxen Ländern – wie Russland oder Georgien – eine stärkere Revitalisierung des Religiösen vollzogen hat, allerdings in einer engen Verkopplung von orthodoxer Kirche und Staat. Die Stabilität oder Wiederbelebung der Kirchen in manchen Ländern lässt also nicht unmittelbar auf neu entfachte Religiosität schließen, sondern ist nicht selten der Rolle der orthodoxen Kirche in den sich neu konstituierenden Nationalstaaten, in denen Nationalismus und Orthodoxie oft wieder eng verschmolzen sind, geschuldet. Das schließt freilich nicht aus, dass sich unter dem Dach dieser Verbindung auch Formen orthodoxer Frömmigkeit neu beleben. Allerdings muss jeder, der religiöse „Vitalität“ im einen Kontext mit deren Fehlen im anderen Kontext vergleicht, solche besonderen Konstellationen in Rechnung stellen.

Gleichwohl sticht der europäische Protestantismus in seiner „Anfälligkeit“ gegenüber Säkularisierungsprozessen heraus: die größere Rolle von Wort und Text gegenüber Ritual, Sakrament und spiritueller Erfahrung, die lange Tradition kritischer Exegese der heiligen Schrift und die dem Protestantismus eigene Aufklärungstradition rücken ihn nahe an die säkularen philosophischen Debatten und deren Wissenschaftsbezug heran. Er ist insofern selbst ein Element eines Prozesses, den Max Weber als „Entzauberung“ charakterisiert hat.

II.5. Die „arbei­ter­liche Gesell­schaft“: Verlust der kulturellen Verankerung

Der für die DDR vielfach beschriebene Prozess sozialstruktureller Nivellierung, der damit verbundene kulturelle Wandel hin zu einer „arbeiterlichen“ Gesellschaft (Engler 1999), sowie die damit einhergehende weitgehende Erosion bürgerlicher, kirchengebundener Milieus entzogen den Kirchen den Nährboden, in dem sie am stärksten verankert waren. Wie die aktuelle Studie der EKD zur Kirchenmitgliedschaft (Benthaus-Apel 2006) zeigt, spielt die Verankerung der Kirchenmitglieder in bestimmten soziokulturellen Milieus im Westen Deutschlands eine nach wie vor große Rolle, wobei auch hier „bürgerliche“ Milieus – oft verbunden mit einer Präferenz für traditionelle Hochkultur – einen wichtigen Kern bilden, während jüngere, gut verdienende, kulturell „moderne“ Gruppen ebenso schwach verankert sind wie zunehmend auch diejenigen am unteren sozialstrukturellen Rand der Gesellschaft. Insofern wirkten sozialstrukturelle und daraus resultierende kulturelle Veränderungen in der DDR und antikirchliche Ideologien der SED gleichsam in dieselbe Richtung.

III. Das erzwungene Eigene

Wenn man nun die verschiedenen Einflüsse auf den Säkularisierungsprozess in der DDR zusammenfassend betrachtet, kann man folgern, dass die Politik der SED jenseits unmittelbarer Repression gegenüber Einzelnen und Familien den Kirchen vor allem ihre kulturelle Verankerung raubte – durch den Einflussverlust des Bürgertums, die Schwächung der volkskirchlichen Rituale und ihren Ausschluss aus dem Bildungssystem – und sie zudem mit Mitteln aus dem Bestand der Aufklärungstradition und der Religionskritik systematisch diskreditierte. Obwohl dabei repressive Mittel massiv zum Einsatz kamen, ist doch gerade über die Anbindung an Motive der Aufklärung – unterstützt durch die oft desillusionierenden Erfahrungen von Nationalsozialismus und Krieg – eine Verbindung von staatlich induziertem Säkularismus und religionsloser Modernität entstanden, die als säkularer Habitus bis heute nachwirkt und eigene sozialisierende Wirkungen entfaltet. Auch wenn im Westen Deutschlands Kirchenaustritte gerade des jüngeren, qualifizierten, gut verdienenden Teils der Bevölkerung zunehmen, sind unseres Erachtens nicht allein die Relationen von kirchlich Gebundenen und Konfessionslosen in Ost und West bis heute grundlegend andere. Die Geschichte weltanschaulicher Konkurrenz, die sich in das kollektive Gedächtnis der Ostdeutschen eingegraben hat, spielt im Westen gesamtgesellschaftlich keine besondere Rolle. Insofern dürfte dort eher Indifferenz als Konkurrenz das Fernbleiben von den Kirchen motivieren.

[1] Wir nehmen hier Bezug auf ein Forschungsprojekt an der Universität Leipzig, das von 2003 bis 2006 unter dem Titel „Generationenwandel als religiöser und weltanschaulicher Wandel: Das Beispiel Ostdeutschlands“ von der DFG gefördert wurde.

Literatur

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Engler, Wolfgang (1999): Die Ostdeutschen. Kunde von einem verlorenen Land. Berlin.

Hölscher, Lucian (Hg.) (2001): Datenatlas zur religiösen Geographie im protestantischen Deutschland. Von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Zweiten Weltkrieg. Berlin, New York.

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Kaiser, Jochen-Christoph (2003): Organisierter Atheismus im 19. Jahrhundert. In: Christel Gärtner/Detlef Pollack/Monika Wohlrab-Sahr (Hrsg.), Atheismus und religiöse Indifferenz. Opladen: Leske & Budrich: 99-128.

Karstein, Uta/Punken, Mirko/Schmidt-Lux, Thomas/Wohlrab-Sahr, Monika (2006): Säkularisierung als Konflikt? Zur subjektiven Plausibilität des ostdeutschen Säkularisierungsprozesses. In: Berliner Journal für Soziologie, Heft 4: 441-461.

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McLeod, Hugh (2000): Secularisation in Western Europe. 1848-1914. London.

Meulemann, Heiner (2003): Erzwungene Säkularisierung in der DDR – Wiederaufleben des Glaubens in Ostdeutschland? In: Christel Gärtner, Detlef Pollack, Monika Wohlrab-Sahr (Hg.): Atheismus und religiöse Indifferenz. Opladen: 271-287.

Nowak, Kurt (1996): Staat ohne Kirche? Überlegungen zur Entkirchlichung der evangelischen Bevölkerung im Staatsgebiet der DDR. In: Gert Kaiser et al. (Hg.): Christen, Staat und Gesellschaft in der DDR. Frankfurt/Main: 23-43.

Pollack, Detlef (1994): Kirche in der Organisationsgesellschaft. Zum Wandel der gesellschaftlichen Lage der evangelischen Kirchen in der DDR. Stuttgart

Richter, Ralph/Schmidt-Lux, Thomas (2009): Wohin nach der sozialistischen Moderne? Der Streit um die Rekonstruktion der Leipziger Universitätskirche St. Pauli. In: dérive. Zeitschrift für Stadtforschung (im Erscheinen).

Sachmerda-Schulz, Nicole (2009): Die ‚grüne Wiese‘ als Gottesacker? Eine religionssoziologische Studie zum Wandel der Bestattungsnormen und zur Normalisierung der Anonymbestattung. Unveröffentlichtes Manuskript. Leipzig.

Schmidt-Lux, Thomas (2008): Wissenschaft als Religion. Szientismus im ostdeutschen Säkularisierungsprozess. Würzburg.

Staritz, Dietrich (1996): Die Geschichte der DDR. Frankfurt/Main.

Vollnhals, Clemens (1997): Die kirchenpolitische Abteilung des Ministeriums für Staatssicherheit. Berlin.

Wohlrab-Sahr, Monika (2009): Das stabile Drittel: Religionslosigkeit in Deutschland. In: Bertelsmann Stiftung (Hg.): Woran glaubt die Welt? Analysen und Kommentare zum Religionsmonitor 2008. Gütersloh: 151-168.

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