Editorial
aus: vorgänge Nr. 187, Heft 3/2009, S. 1-3
Die Einheit kennt nur einen angemessenen Zustand, die Vollendung. Glaubt man der Präambel des Grundgesetzes, so wurde dieser bereits am 3. Oktober 1990 erreicht. Denn dort steht geschrieben: „Die Deutschen in den Ländern (sie werden aufgezählt) haben in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands vollendet.“ Viele dieser Deutschen hat in den zwanzig Jahren danach allerdings ein gelinder Zweifel am Wahrheitsgehalt dieser Feststellung gepackt und mittlerweile wird die Vollendung von den verantwortlichen Politikern auf das Jahr 2019 terminiert. Auch dieses Datum bleibt vage und es machen sich Zweifel breit, ob dieser Zustand überhaupt erreichbar ist. Woran wollte man ihn messen und vor allem, wem ist gedient, sollte er eintreten?
Bei dem Versuch, diese Fragen zu beantworten, stößt man schnell auf die systemische Schieflage, die dem Streben nach Einheit innewohnt. So wie bereits ihre erste Vollendung lediglich aus der Übertragung des westdeutschen Grundgesetzes auf das Gebiet der vormaligen DDR bestand, so zielten alle nachfolgenden Einheits-Bekundungen auf die Angleichung eines Zustands Ost an sein Vorbild West. Kaum eine Differenz wird bis heute in Deutschland so minutiös erforscht, wie die durch die ehemalige Zonengrenze markierte. Und bei kaum einer Differenz ist so klar, auf welcher Seite Bonus und auf welcher Malus zu finden ist. Diese normative Aufladung ist der Selbstanmaßung einer Politik geschuldet, die noch immer vorgibt, einen Prozess steuern zu können, dessen Entgleiten sie nicht einzugestehen vermag. So wie im Gegenzug die Betroffenen nur allzu gerne und bisweilen auch allzu blauäugig von dem juristischen Versprechen der Einheit auf eine faktische Gleichheit der Lebensverhältnisse schließen und in den bestehenden Unterschieden vornehmlich Vollzugsdefizite eben jener Politik sehen.
Statt die Messlatte der Angleichung hoch zu halten, will die vorliegende Ausgabe der vorgänge den Blick auf die womöglich dauerhaften Eigenheiten der ostdeutschen Länder schärfen. Dabei werden Differenzen nicht negiert, doch soll die Pfadabhängigkeit ihrer Entwicklung im Vordergrund stehen. Die Frage, der die Beiträge nachgehen, ist weniger die nach dem, was sein soll, als nach dem, was ist und sein wird. Weniger (An-)Klage als vielmehr Bestandsaufnahme einer Gesellschaft im zwanzigsten Jahr ihrer radikalen Selbstveränderung.
Für Michael Thomas wiegen die erheblichen Herausforderungen, vor denen Deutschland insgesamt steht, schwerer als die innerdeutschen Unterschiede. Statt Letztere immer wieder zu messen, sollte eine gemeinsame Gestaltungsperspektive entwickelt werden, in welcher der Osten eine experimentelle Vorreiterrolle einnehmen könnte.
Ilse Helbrecht plädiert für die Beibehaltung des Verfassungsgrundsatzes von der Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse, dessen Interpretation aber, ihrer Meinung nach, der Divergenz der Lebensräume mehr Rechnung tragen und sich auf die Festlegung von Mindeststandards beschränken sollte.
Für Ulrich Busch sind ein selbsttragendes Wachstum und eine Konvergenz mit der westdeutschen Wirtschaft Voraussetzungen für die Erfüllung des Verfassungssatzes von der Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse. Beides werde Ostdeutschland ohne Förderung nicht erreichen.
Michael Hofmann zeichnet die Entwicklung der sozialen Milieus Ostdeutschlands in den letzten fünfzig Jahren nach. Die Sozialstrukturen unterscheiden sich auch heute noch von den westdeutschen erheblich.
Gunnar Winkler hat die ostdeutsche Bevölkerung nach ihrer (Selbst-)Wahrnehmung befragt. Sein Fazit: Es gehe insgesamt darum, keine pauschale „Angleichung“ zu erwarten, sondern differenziertere Strategien zu entwickeln, um Richtung, Zeitpunkt und Wege zur Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse festzulegen bzw. um existente Unterschiede auch als „normal“ anzuerkennen. Pauschal zu fordern, Ost muss werden wie West, sei kein Programm.
Peter Alheit ist einem Phänomen nachgegangen, das Ost – nicht nur von Westdeutschland unterscheidet, sondern auch von benachbarten Transformationsländern. Es gibt eine erstaunliche Kontinuität in Einstellung und Habitus zwischen der Großeltern- und der Enkelgeneration.
Für Christine Steiner hat bei Jugendlichen die Absehbarkeit der beruflichen Integration insbesondere in den neuen Ländern erkennbar abgenommen. Nach nunmehr 20 Jahren ähnlicher Problemlagen beim Ausbildungs- und Erwerbseinstieg mache die Bezeichnung „verlorene Generation“ für die davon Betroffenen kaum noch Sinn. Sie sind in der neuen, flexiblen Arbeitswelt Angekommene.
Michael Meyen und Olaf Jandura führen die unterschiedliche Mediennutzung der West- und Ostdeutschen darauf zurück, dass Letztere ihre Biographie in ihnen nicht widergespiegelt sehen und ihre soziale Stellung anders einschätzen.
Armin Pfahl-Traughber hat bei der rechtsradikalen Szene in den letzten fünfzehn Jahren eine Verschiebung nach Osten und eine gleichzeitige Radikalisierung beobachtet. Diese Entwicklung korrespondiert mit einer über das Wählerpotenzial hinausgehenden Akzeptanz entsprechender Einstellungen in der Bevölkerung.
Monika Wohlrab-Sahr, Uta Karstein und Thomas Schmidt–Lux erkennen in der Säkularisierung Ostdeutschlands eine Tatsache, die sich nicht allein mit dem diktatorischen Charakter der DDR erklären lässt. Deren Vorgehen gegen die Kirche konnte vielmehr auf die aufklärerischen Tendenzen der Moderne und einen durch das Wort geprägten Protestantismus aufbauen.
Für Oliver D`Antonio ist die Politik in der Berliner Republik durch komplexere Rahmenbedingungen und Akteurskonstellationen bestimmt, sie ist weniger Aufbruch als bestenfalls gelingendes Management.
In seinem Essay widerspricht Christoph Egle dem Eindruck, die Große Koalition habe nur Politik des kleinsten Nenners betrieben. Sie habe einige grundlegende Reformen auf den Weg gebracht, falle aber in der Bilanz hinter der Ära Schröder zurück.
Thomas Leif geht den Gründen für das eklatante Legitimationsdefizit der Parteien nach und fordert, das Primat der Politik gegenüber der Wirtschaft wieder zur Geltung zu bringen, die Bürger stärker an ihr zu beteiligen und eine Jugendquote einzuführen.
Eine Rezension der Biographie des NS-Anklägers Fritz Bauer von Stephan A. Glienke schließt diese Ausgabe der vorgänge ab, zu der ich Ihnen wie immer eine anregende Lektüre wünsche.
Ihr
Dieter Rulff