Schwache Mitte, beharrliches Establishment
Der Wandel der Sozialstruktur in Ostdeutschland in den letzten fünfzig Jahren
aus: vorgänge Nr. 187, Heft 3/2009, S. 37-44
Die DDR ging nicht nur ökonomisch und ideologisch einen ganz anderen Weg als die Bundesrepublik Deutschland. Sie bildete auch eine ganz andere soziale Struktur heraus. Bis heute unterscheiden sich beide deutsche Teilgesellschaften in Ost und West in ihren sozialen Formationen und Schichtungen sowie den damit einhergehenden Orientierungen. Anders als in der Bundesrepublik, wird in der Gründungsphase der DDR nicht versucht, die soziale Ordnung der bürgerlichen Gesellschaft wiederherzustellen. Die alten Eliten (wie Unternehmer, Bankiers, Richter, hohe Beamte und Offiziere, auch viele Wissenschaftler) werden, soweit sie nicht in den neuen Staatsapparat übernommen werden (wie etwa zahlreiche Mitglieder der Polizei- und Geheimdienste des NS-Regimes) entmachtet, entlassen und enteignet, der Entnazifizierung unterzogen und vertrieben. Außerdem gehen bis zum Bau der Mauer 1961 rund zwei Millionen DDR-Bürger, vorwiegend gut situierter Herkunft, in den Westen.
Die soziale Deklassierung und das Abwandern der alten Eliten führen im Ergebnis zu einer starken Ausdünnung der Oberschicht. In den 1950er und 1960er Jahren werden in der DDR in einer gewaltigen Bildungsanstrengung neue Lehrer, neue Techniker und Wirtschaftsfachleute sowie ein neues Führungskorps in öffentlicher Verwaltung und Sicherheit und von politischen Funktionären herangebildet. Zumindest anfangs kommen diese sozialistischen Bildungsaufsteiger in der Mehrheit aus den Reihen der Facharbeiterinnen und Facharbeiter. Diese frühe Öffnung der Bildungsschleusen und der massenhafte Aufstieg aus der Arbeiterschaft in verantwortliche Positionen verschaffen der DDR im oberen sozialen Raum loyale, Staats- und Parteitreue soziale Lebenswelten: Das sozialistische Establishment entsteht.
Es setzt sich aus drei Gruppen zusammen. Zum einen sind das die Verwalter der Macht (das statusorientierte Milieu), also Partei- und Staatsfunktionäre, die vor allem sozialistisches Recht, Marxismus-Leninismus oder politische Ökonomie studierten. Zum anderen sind das die Leiter der sozialistischen Industrie und Landwirtschaft (das technokratische Milieu), die vornehmlich technische Fächer, Agrarwissenschaft oder Ökonomie studierten. Zum dritten schließlich hat der Staat der DDR großen Bedarf an der Vermittlung von Kultur und Bildung, also an Hochschullehrern, Medizinern und Kulturschaffenden (das humanistische Milieu). Hier finden Menschen Aufstiegsmöglichkeiten, die Pädagogik, Naturwissenschaften oder Kunst- und Kultur studierten.
Das sozialistische Establishment ist eine wesentliche sozialstrukturelle Besonderheit der DDR. Diese breite sozialistische Oberschicht fühlt sich ihrem Staat für den persönlich erlebten sozialen Aufstieg verpflichtet und bleibt dies bis zum Untergang des Sozialismus.
Demgegenüber müssen sich andere Teile der Bevölkerung, d. h. die traditionellen Arbeitermilieus und insbesondere auch die kleinbürgerlichen Lebenswelten, an die politischen Verhältnisse in der DDR ohne vergleichbare Prämien sozialen Aufstiegs anpassen. Das soziale Leben der DDR bleibt allerdings von diesen traditionellen proletarischen und kleinbürgerlichen Lebenskulturen geprägt. Besonders die Arbeitermilieus werden in der DDR ideologisch hofiert und als Ausdruck eines fortschrittlichen Lebens- und Gesellschaftsentwurfs konserviert. Wolfgang Engler nennt die DDR deshalb auch eine „arbeiterliche“ Gesellschaft“.[1]
Schematisch lassen sich die sozialstrukturellen Verhältnisse in der frühen DDR so abbilden:
DDR 1960 (Höhepunkt der Bildungsrevolution)
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Nach dem Ende der sozialistischen Bildungsrevolution in der Mitte der 1960er Jahre rekrutiert sich das sozialistische Establishment fast nur noch aus sich selbst heraus. In den späten Jahren der DDR legt es sich wie eine Bleiplatte über die traditionellen Lebenswelten. Weiterer massenhafter Aufstieg wird blockiert. Die soziale Mobilität der sozialistischen Gesellschaft geht in den 1970er und 1980er Jahren stark zurück. Die hofierten traditionellen Arbeiterlebenswelten bestimmen den offiziellen Arbeitsrhythmus und die Lebenskultur im kleinen Deutschland.
Dennoch entwickeln sich seit den 1970er Jahren auch in der DDR moderne Lebenswelten. Mit dem Wertewandel der siebziger Jahre, der Kulturalisierung der Lebensstile und vor dem Hintergrund der „Nischengesellschaft“ (Gauss), bilden sich auch in der DDR neue Szenen und Milieus heraus, die wegen ihrer subkulturellen, autonomen und auch oppositionellen Intentionen nicht mehr staatstragende Sozialwelten darstellen. Zuerst sind hier die hedonistischen Arbeiter (das hedonistische Milieu) zu nennen. Diese modernisierten, freizeit- und konsumorientierten jüngeren Arbeiter sind ironischerweise die Ziehkinder der Honeckerschen Sozialpolitik und der Förderung junger Arbeiterfamilien in der DDR. Meist beschäftigt auf den Modernisierungsinseln der DDR-Industrie, haben sie von ihren traditionellen Eltern durchaus das Arbeitsethos und die Arbeitsdisziplin übernommen, orientieren sich in ihren Lebensstilen aber zunehmend an den Konsum- und Freizeitkulturen der westlichen Welt. Für sie bietet die DDR kaum Entfaltungsmöglichkeiten. Die Vertreter dieses Milieus stellen deshalb den Kern der Antragsteller auf Ausreise aus der DDR: Es sind dies vorwiegend männliche, jüngere (im Schnitt 27 Jahre), gut ausgebildete Facharbeiter. Dieses Milieu wird bis in die Transformationsetappe hinein durch Ausreise stark dezimiert, kann sich aber durch die Rettung und Modernisierung industrieller Kerne in Ostdeutschland stabilisieren.
Zu den neuen Milieus zählt auch das linksalternative Milieu. Es ist die Lebenswelt vieler Vertreter der Bürgerbewegungen der DDR. Meist unter dem Dach der Kirche versuchen hier junge Leute ein alternatives Establishment in der DDR zu etablieren, intellektuellen und lebensweltlichen Einfluss zu gewinnen und die erstarrten Sozialverhältnisse aufzubrechen. Auch die jugendlichen (Musik-)Szenen, die sich in den achtziger Jahren in der DDR zu eigenen Lebenswelten verdichten, beanspruchen Autonomie. Sie wollen unabhängig von staatlicher und politischer Bevormundung ihre Szenen und Musikkulturen etablieren und schaffen sich Nischen ganz neuer Art in der DDR. Nicht Rückzug und Abschottung, sondern Anschluss an die internationale Kulturszene stehen hier auf der Tagesordnung.
Bildhaft kann man sich also die soziale Kernstruktur der späten DDR als eine vom sozialistischen Establishment überwölbte traditionelle gesellschaftliche Schichtung vorstellen, an deren lebensweltlichen Rand modernisierte Milieus und Subkulturen von jungen Facharbeitern und alternativen Intellektuellen entstanden sind.
DDR 1989 (Ende der DDR)
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Die Akteure der friedlichen Revolution von 1989/90 kommen nun im Wesentlichen aus den blockierten, neuen sozialen Milieus, die sich in den letzten 20 Jahren der DDR herausgebildet haben. Das „hedonistische“ – was meint: genussorientierte, nicht auf Askese ausgerichtete – Arbeitermilieu stellt den größten Anteil an Antragstellern auf Ausreise aus der DDR, und das linksalternative Milieu ist das Rekrutierungsmilieu der Bürgerrechtler. Aber auch in den traditionellen sozialen Lagen der Arbeiter und Angestellten wird in den 1980er Jahren mit dem sichtbaren Niedergang der Industrie und der Städte das Arrangement mit dem System vielfach aufgekündigt und selbst im sozialistischen Establishment melden sich jetzt Reformer.
Die friedliche Revolution leitete in der DDR einen raschen sozialstrukturellen Wandel ein. In der ersten Hälfte der 1990er Jahre ist die soziale Mobilität in Ostdeutschland außerordentlich hoch. Über Jahre hinweg werden im Zwölfmonatsschritt mehr als die Hälfte aller sozialen Positionen (Arbeitsstellen und Berufspositionen) gewechselt. Für die große Mehrheit bedeutet dies eher einen sozialen Abstieg, nämlich den Verlust beruflicher Stellungen bzw. des Arbeitsplatzes. 1993 zum Beispiel stehen 23 Prozent Aufstiege 77 Prozent Abstiegen gegenüber.[2]
Von den Abstiegen sind vor allem die traditionellen sozialen Formationen der Arbeiter und Angestellten betroffen. Die industrielle Basis des traditionellen Arbeitermilieus, des größten Sozialmilieus Ostdeutschlands, bricht ein. Zwar verfügen Menschen in traditionellen Lebensverhältnissen über beträchtliche soziale Ressourcen und Netzwerke, um die strukturellen Abstiege zu verarbeiten, aber „Nachwuchs“ gab es für Facharbeitermilieus nicht. Die in den Industriegebieten üblichen „Facharbeiterdynastien“, in denen über Generationen hinweg zum Beispiel bestimmte Metallberufe an die Kinder weitergegeben werden, zerbrechen. Auf diese Weise schrumpfen die traditionellen Milieus im Verlauf der Transformation bis zum Jahr 2000 um die Hälfte.[3]
Auch die historisch langlebigste und stabilste der deutschen Lebenswelten, das kleinbürgerliche Milieu, schrumpft. Allerdings kommt es hier auch zu gegenläufigen Tendenzen einer Stabilisierung, weil sich nun ein selbständiger ostdeutscher Mittelstand neu bildet. Ebenso aber wächst ein Sozialmilieu, das in der Sozialforschung als „das traditionslose Arbeitermilieu“ umschrieben wird. Gemeinsam mit dem hedonistischen Milieu bildet dieses eine immer größer werdende Unterschicht, die heute fast ein Viertel der ostdeutschen Bevölkerung umfasst. Diese ostdeutsche Unterschicht richtet sich stärker auf moderne Jobmentalitäten aus.
Entgegen manchen politischen Erwartungen und öffentlichen Selbstdarstellungen besteht das sozialistische Establishment hingegen im Transformationsprozess seine erste historische Bewährungsprobe bemerkenswert gut. In der Mehrheit finden die ihm Angehörenden im modernen Dienstleistungssektor neue, gut bezahlte Anstellungen.
Die Vertreter des alten technokratischen Milieus sind bei der Abwicklung der DDR- Industrien und für die Neuordnung der Wirtschaft gefragte Akteure. Der größte Teil der in Ostdeutschland in dieser Zeit im Durchschnitt fünfzigjährigen Existenzgründer kommt aus dem technokratischen Milieu. Hier hängen Abstiege vor allem mit politischer Ausgrenzung (etwa Stasi-Mitarbeit) oder mit dem Alter (Vorruhestand) zusammen. Ansonsten gibt es in diesem Milieu viele Aufstiege. Das technokratische Milieu geht durch diese Etablierung allmählich im Statusmilieu und im modernen bürgerlichen Milieu auf. Im statusorientierten Milieu werden in der Anfangsphase der Transformation viele als „Wendehälse“ abgestempelt, weil sie aus sozialistischen Staatsfunktionen massenhaft in kapitalistische Dienstleistungsfunktionen abwandern.
In der DDR saßen viele junge, anpassungsbereite und aufstiegsorientierte Menschen in den wenigen Schleusen, die diese erstarrte Gesellschaft für einen schnellen Aufstieg bereit stellte: im Bereich Marxismus-Leninismus, in politischen Ämtern und Funktionen des DDR-Staates, in der Armee und bei der Staatssicherheit, im Leistungssport oder in einigen ingenieurtechnischen Bereichen. Nach der Wende gehören sie zu den ersten, die freigesetzt den neu entstehenden Arbeitsmarkt erobern können.
Trotz aller angebrachten politischen und moralischen Vorbehalte: Es sind diese alten Fachkader der DDR, welche die entsprechenden Voraussetzungen und Qualifikationen für den Aufbau neuer Verwaltungen, Banken und Versicherungen mitbringen. Die „good jobs“ im neu auf- und ausgebauten Dienstleistungsbereich gehen deshalb in großer Zahl an die Vertreter des ehemaligen DDR-Establishments.
Im sozialistischen Bildungsbürgertum, dem so genannten humanistischen Milieu, treten wiederum die größten Anpassungsschwierigkeiten und -konflikte auf. Das rührt zum Teil daher, dass diese Menschen ihren Bildungsaufstieg und ihre vormals privilegierte gesellschaftliche Stellung ideell und biographisch eng an das Ethos einer sozialistischen Gesellschaftsutopie gebunden sehen. Das milieuspezifische Dilemma lässt sich so beschreiben: Einerseits verhilft nun die Transformation den bildungsbewussten Vertretern klassischer Bereiche der Medizin, Kunst oder Kultur zu einer sozialen Aufwertung. Die gegenüber den Arbeitern nun deutlich erhöhten Einkommen der Akademiker erlauben es den Vertretern dieses spezifisch ostdeutschen Bildungsmilieus, sich „nach unten“ deutlicher abzugrenzen. Andererseits treten besonders im Hochschul- und Rechtsbereich westdeutsche Eliten als Konkurrenten um höhere berufliche Positionen auf. Hinzu kommt die Erfahrung, dass die sozialistische Gesellschaftsidee entwertet wird. Im humanistischen Milieu Ostdeutschlands bilden sich hinfort zwei Pole heraus: hier die in der Elitenkonkurrenz meist unterlegenen, beruflich nicht fest etablierten Intellektuellen, die an ihrem aufklärerischen und sozialistischen Ethos als Integrationsideologie festhalten. Sie bilden die „DDR-verwurzelte Fraktion des Milieus“[4]. Die Partei „Die Linke“ stellt für diese Altbestände des sozialistischen Establishments eine Art „Milieupartei“ dar. Im anderen, etablierteren Pol des Milieus, stabilisieren sich die Lebenswelten neu. Dort setzt sich die schon in der DDR in den achtziger Jahren spürbar gewordene „Verbürgerlichung“ verstärkt fort.
Für die modernen, in der DDR wenig integrierten Sozialmilieus der hedonistischen Arbeiter und Subkulturen öffnen sich in der Phase des Systemwechsels breite Entfaltungsspielräume. Die hedonistischen Arbeiter, meist beschäftigt in den Industriekernen des Ostens, finden in der offenen Konsum- und Medienwelt neue Ufer. Sie verschmelzen mit den jugendlichen (Musik)Szenen und Jugendkulturen zum hedonistischen Milieu, das man in ähnlicher Ausprägung inzwischen in jeder mitteleuropäischen Gesellschaft antreffen kann. An diesem Pol des modernen sozialen Raumes gibt es inzwischen kaum mehr ostdeutsche Besonderheiten. Hier finden wir allerdings auch viele prekäre soziale Lagen.
Im linksalternativen Milieu (der Lebenswelt vieler Vertreter der Bürgerbewegungen der DDR) erzeugen die neuen Möglichkeiten der Demokratie ein Auffächern der Orientierungen und entsprechende Gegensätze. Die Mehrheit etabliert sich und wächst langsam aus dem einstmals staats-oppositionellen Milieu heraus und in eher technokratische oder liberal-bürgerliche Lebensweisen und Lebensvorstellungen hinein. An ihrem vormals alternativen Lebensstil halten vergleichsweise Wenige fest.
Schaut man nun insgesamt auf die sich im Ergebnis der Transformation herausgebildeten sozialen Strukturen in Ostdeutschland, so ergibt sich folgendes Bild:
Ostdeutschland 2000 (nach der Transformation)
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Der soziale Raum in Ostdeutschland zeigt eine deutliche horizontale Spaltung zwischen den traditionellen und den modernen Lebenswelten. In der sozialen Mitte des Ostens gibt es noch keinen integrierten Mainstream, der die Traditionalisten mit den Modernen verbindet. Auch das ehemalige sozialistische Establishment zerfällt in zwei Lager, die an traditionellen Werten orientierten Bildungsbürger und die liberal und effizienzorientierten Angehörigen des Statusmilieus. Zwar sind die traditionellen Lebenswelten von 58 auf 39 Prozent Anteil an der Bevölkerung geschrumpft, doch stellen sie noch immer Sozialverhältnisse dar, die wenige Berührungen mit den modernen Milieus und Jugendkulturen haben und die vor allem durch die Bearbeitung von Abstiegsprozessen und Statusverlusten geprägt sind. Demgegenüber steht eine moderne Mitte, die in Ostdeutschland ein knappes Drittel der Bevölkerung umfasst.
Auch in Ostdeutschland kommt es zur Bildung neuer, vor allem hedonistisch-orientierter Milieus. Die neuen und jungen sozialen Gruppen setzen sich aus Söhnen und Töchtern der gesellschaftlichen Mitte zusammen. Zur Übernahme gemeinschaftsbezogener Pflichtnormen und zum Konsumaufschub sind sie nur bedingt bereit. Dies ist ein soziales Merkmal aller westlichen Gesellschaften.
Fazit
Nach der friedlichen Revolution ist die erstarrte DDR-Gesellschaft stark in Bewegung geraten. Das Hauptergebnis könnte man als eine rasche Modernisierung sozialer Strukturen in Ostdeutschland bezeichnen: die traditionellen Lebenswelten verkleinern sich, sie schmelzen auf die Hälfte ihre Größe von 1989 zusammen. Eine moderne Mitte entsteht auch in Ostdeutschland, die gleichwohl noch schwach ist. Im oberen sozialen Raum können sich die Vertreter des ehemaligen sozialistischen Establishments im Wesentlichen halten. Die friedliche Revolution war eine politische Revolution, keine soziale Umwälzung. Im Osten ist oben oben, Mitte Mitte und unten unten geblieben.
Für das soziale Klima, die Mentalitäten des Ostens haben diese sozialen Wandlungsprozesse ebenfalls Auswirkungen. Denn bisher bestimmen die milieuspezifischen Abwehr- und Etablierungskämpfe des humanistischen Milieus den Diskurs über Ostdeutschland. Das liegt natürlich daran, dass sich die harten sozialen Problemlagen der Gesellschaft in den traditionellen Milieus konzentrieren. Hier treffen wir auch verstärkt Verteidigungsstrategien an, die auch im humanistischen Milieu genutzt werden: eine Kultivierung des Unmuts, des Klagens und des Distanzierens. Dem Statusmilieu hingegen gelingt es kaum, Meinungsführerschaft zu erlangen. Überhaupt konnte die schwache moderne Mitte noch nicht zur sozialen Kernstruktur Ostdeutschlands werden. Strukturell gesehen ist der Osten Deutschlands noch nicht in der modernen Mittelschichtgesellschaft angekommen und es deutet vieles darauf hin, dass der Osten diese „Mittelschichtphase“ der Gesellschaftsstruktur nicht vollständig ausbilden wird.
Es gibt aber noch ein anderes bemerkenswertes Ergebnis des Strukturwandels: die Entstehung neuer, starker postmoderner Milieus und Lebenswelten in Ostdeutschland. Diese Lebenskulturen pflegen Strategien kulturellen Genießens und beruflichen Durchwurstelns. Sie machen gewissermaßen aus der Krise eine Tugend. Hier entstehen Lebenserfahrungen und Patchwork Strategien, mit denen das Überleben und vor allem der Lebensgenuss unter schwierigen Sicherungs- und Etablierungsmöglichkeiten geprobt werden. Es ist zu erwarten, dass aus diesen Lebenswelten demnächst auch einmal ganz neue ostdeutsche Töne zu hören sein werden.
[1] Wolfgang Engler (1999): Die Ostdeutschen. Kunde von einem verlorenen Land, Berlin.
[2] Die Zahlen stammen aus dem DFG-Projekt „Ostdeutschland: Soziallagen im Umbruch“ von Frank Adler und Albrecht Kretzschmar. Siehe ihr Paper auf der Arbeitstagung der Gruppe Arbeitsmarkt/Sozialstruktur in Bremen am 01.12.1994. Die Zahlen wurden durch die aktuelle Sozialberichterstattung ergänzt. Vergleiche auch Thomas Buhlmann (1996): Sozialstruktureller Wandel. In: Zapf/Habich (Hg.)(1996): Wohlfahrtsentwicklung im vereinten Deutschland. Berlin, S. 25-49.
[3] Siehe dazu: Hofmann/Rink (1993): Die Auflösung der ostdeutschen Arbeitermilieus, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 26-27/1993.
[4] Siehe dazu die unter maßgeblicher Beteiligung des Sinus-Institutes entstandene Studie „Out fit 4“, hrsg. vom Spiegel Verlag Rudolf Augstein GmbH, Hamburg 1998.