Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 187: 20 Jahre Einheit in Uneinigkeit

Der Osten bleibt der Osten, bleibt der Osten

aus: vorgänge Nr. 187, Heft 3/2009, S. 4-12

In ihrer Form und Zuspitzung mag Maxim Billers Meinungsäußerung vom Frühjahr dieses Jahres eher als singulär oder gar absurd erscheinen. Unter dem Titel „Deutsche deprimierende Republik“ hatte er im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung geschrieben: „Nein, man kann nicht alles, was heute an Deutschland nervt, auf den lähmenden Einfluss der xenophoben, deutschnationalen, provinziellen, für immer bolschewisierten Duckmäuserossis zurückführen. Aber vieles, sehr vieles.“ (Biller 2009) Allerdings erinnert der allgemeine Gehalt dieser und anderer Textstellen nicht nur an frühe Ressentiments und Beschimpfungen (bei Arnulf Bahring waren es die „verhunzten“ und „verzwergten“ Ossis); die Tonlage ist vielmehr heute weit verbreitet. Noch immer werden deutsch-deutsche Konflikte und Befindlichkeiten zumeist auf einer West-Ost-Schiene abgearbeitet, oder wenigstens auf eine solche geschoben.

So recht überraschen kann das nicht. In der Tat zeigen die unterschiedlichsten kartografischen Darstellungen aus dem Bundesamt für Raumordnung konstant Konturen der alten DDR; die jährlichen Rankings zur wirtschaftlichen Entwicklung und zu Zukunftsrisiken positionieren nach wie vor die östlichen Landkreise und Städte recht einheitlich im unteren Drittel und selbst die zunehmend veröffentlichten Prognosen über Veränderungen bis 2020 oder gar bis 2050 zeigen nur leichte Verwischungen solcher markanten Grenzziehungen. Der Osten hebt sich insgesamt in Status quo wie Tendenz nach BIP, Langzeitarbeitslosigkeit, Armutsquoten etc. ab (vgl. Busch/Kühn/Steinitz 2009) – ein anhaltender Nachholbedarf ist nicht zu übersehen.

Während also die kartografischen Darstellungen, die Rankings oder die Prognosen für den Osten nach wie vor erhebliche Nachhol- und damit freilich auch Unterstützungsbedarfe signalisieren, wird dieser Osten von einem großen Teil der wirtschaftlichen und politischen Eliten, von Meinungsmachern wie wachsenden Teilen der Bevölkerung abgeschrieben und werden Möglichkeit und vor allem Sinn, Nutzen weiterer Unterstützungen in Frage gestellt. Deren Effekt scheint zu gering. Und neben einzelnen Ursachendiskussionen haben in der Tonlage generelle Schuldprojektionen, Abwertungen und Stigmatisierungen der DDR, der DDR-Bürger oder der Ostdeutschen zugenommen. Es ist nicht zu vermuten, dass diese sich nur aus einem Überdruss an Feiern und Festivitäten angesichts der Jahre 1989 und 1990 speisen: Irgendetwas nervt.

Deutlich wird ein Dilemma, zu dem sich Politik und Wissenschaft höchst unterschiedlich in Beziehung setzen. Entweder wird ein Scheitern des bisherigen Weges konstatiert und der Osten in seinem Status als auf Dauer unterentwickelter Landesteil festgeschrieben,[1] oder es werden anhaltende Ungerechtigkeiten, die Benachteiligungen der Ostdeutschen, beklagt und rasche Angleichungen verlangt. Die gefühlte Rücksetzung als „Bürger zweiter Klasse“ könnte zu einer dauerhaften Ethnifizierung der Ostdeutschen führen (vgl. Heitmeyer 2009; Koch et al. 2009). Offizielle Regierungspolitik (in welcher konkreten politischen Konstellation auch immer) wie die Mehrheit der politischen Parteien und Mehrheiten in Wirtschafts- und Sozialwissenschaften haben sich allerdings auf eine Interpretationsfolie eingeschworen, die seit Jahren schrittweise Erfolge im Aufhol- und Angleichungsprozess konstatiert und so für weitergehende (wenngleich schwierigere und längerfristigere) Aufholprozesse die Instrumente einsetzen und nachjustieren will. Schrittweise Erfolge, wie sie etwa in den Jahresberichten der Bundesregierung vermerkt werden, sind nicht zu leugnen. Ebenso sind Versuche und Ansprüche, die markanten Unterschiede zwischen den beiden Großregionen in Deutschland weiter abzubauen, nur zu begrüßen.

Was aber ist damit erreicht? Kommt man so aus dem aufgezeigten Dilemma heraus? Zu leugnen sind nicht ernsthafte Probleme im Westen des Landes, zu übersehen sind nicht die Hindernisse für weitere Aufholprozesse im Osten. Dabei geht es nicht nur um den auslaufenden Solidarpakt und die prekäre Haushaltslage in Ländern und Kommunen. Selbst wenn wir nicht die Meinung teilen, dass alle diese Probleme und Hindernisse als Erblast des Ostens und als Folgekosten der Vereinigung anzusehen sind – die Probleme und Hindernisse verschwinden damit nicht. Einfach Hoffnungen in einen irgendwie weitergehenden Prozess der Angleichung zu setzen, erscheint dann aber als höchst fragwürdig. Der Angleichungsprozess stagniert, die Voraussetzungen für eine Fortsetzung verschlechtern sich.

Vielleicht aber sind wir in mancher Hinsicht mit der Einheit schon viel weiter, als Stimmungsbilder, Karten und Indikatoren vermuten lassen? Eher verborgen steckt wohl in der Ignoranz, mit der Beobachter außerhalb unseres Landes die innerdeutschen Unterschiede mittlerweile strafen (vgl. Strubelt 2007), eine tiefere Wahrheit: Diese belegt, dass die erheblichen Herausforderungen, vor denen Deutschland insgesamt steht, schwerer wiegen als die innerdeutschen Unterschiede. Statt also an letztere nur immer wieder die Messlatte zu legen, wäre für diese Herausforderungen eine gemeinsame Gestaltungsperspektive zu gewinnen.

Mit den aufgezeigten Befunden und Reflexionen erscheint das aber schwierig. Sowohl die erheblichen Ungleichzeitigkeiten zwischen West- und Ostdeutschland wie viele der Schlussfolgerungen – bei Biller, um ihn noch einmal anzuführen, stünde zunächst die Errettung des Westens „wie er mal war“ an, um dann die „Ossis … zu besseren Menschen“ machen zu können – verstellen den Blick. Lässt man sich aber auf eine solche gemeinsame Gestaltungsperspektive ein, so sind zwei übergreifende Klärungen hilfreich, ja, unerlässlich: Ernsthafter als bisher ist nach den Ursachen der über die vergangenen zwanzig Jahre unbefriedigenden Entwicklung zu fragen, aufzudecken sind die mit diesen Entwicklungen verbundenen Begrenzungen. Und weiter sind dann die Voraussetzungen für eine solche Gestaltungsperspektive zu benennen. Dies soll nachfolgend knapp geschehen.

Fallstricke einer idealen Konstel­la­tion

Angesichts der aufgezeigten und offensichtlichen Dilemmasituation – was auch immer man tut: der Osten bleibt der Osten! – muss es schon als erstaunliches Faktum festgehalten werden, dass der Transformationsprozess in (Ost-)Deutschland bereits vor mehr als zehn Jahren für abgeschlossen erklärt und so als nicht mehr untersuchungsrelevant behauptet wurde: Ausreichend angehäuft waren Datenmassen, ein breiter Fundus an Detailwissen. Die Prozesse deutsch-deutscher Vereinigung galten als stabil und als in ihrer Richtung bestimmt. Und nicht nur das: Wurden zunächst die mit der Transformationsforschung ausbleibenden theoretischen Innovationen mit Überraschung zur Kenntnis genommen und gelegentlich beklagt (vgl. Mayntz 1994; Friedrichs/Lepsius/Mayer 1998), so wurden und werden diese nunmehr eher als rational und folgerichtig eingeschätzt: Wie denn hätte es zu theoretischen Innovationen kommen können, wenn die Transformation doch weitestgehend die alten Konzepte und Paradigmen nur bestätigt hat? „Einschlägige Experten folgern …, dass sich der überlieferte Theoriefundus im Großen und Ganzen bewährt habe … und alle diversen Theorievarianten irgendwie relevant blieben …“ (Wiesenthal 2009: 13)

Gleichsam in einer Aufspaltung der Leitdiskurse zwischen „kulturalistischen Pessimisten“ und „kreativistischen Optimisten“ wurde insbesondere das Konzept einer linearen und nachholenden Modernisierung verteidigt, als bestätigt angesehen (vgl. Pollack 2008). Dieser übergreifenden, makrosystemischen Frage des Nachvollzugs eines Modernepfades sollte sich die paradigmatische Gewissheit verdanken.

Nur am Rande: Eigentlich muss doch eine solche Gewissheit schon deshalb als irritierend erscheinen, weil die Sozialwissenschaften angesichts des auch für sie unerwarteten, nicht vorhergesehenen Zusammenbruchs realsozialistischer Gesellschaften ihren „schwarzen Freitag“ konstatiert hatten. Angesagt erschien also nach 1989 eine grundlegende Inventur, und es kam ja auch zu einer Phase kreativer Suche. Nunmehr allerdings, als Fazit und Rückblick auf knapp zwanzig Jahre Forschung, sollte sich der überlieferte Theoriefundus doch „im Großen und Ganzen bewährt“ haben?

Weit mehr noch erscheint eine solche Kernaussage, ohne sie in allen Punkten zu bestreiten, angesichts der oben skizzierten Dilemmasituation als zweifelhaft. Indikatoren, Daten oder Karten, nicht nur Meinungen oder Diskurse, zeigen ein kritisches Bild für die bisherige und eben auch die weitere Transformation oder Vereinigung in Deutschland. Der Kontrast ist deutlich.

Ostdeutschland schien mit dem Anschluss an die Bundesrepublik nach Grundgesetz-Artikel 23 gegenüber den anderen Transformationsländern einen unvergleichlichen Vorteil zu besitzen: Die Möglichkeit der vollständigen Übernahme eines fertigen und funktionierenden Regel- und Institutionensystems. Nicht langfristige Umbau- und Suchprozesse, sondern „institutionelle Inkorporation“; Ostdeutschland als ein besonders einfacher und gleichsam idealer Fall der Transformation. Gerade durch diesen Modus der Anpassung und Adaption sollten sich Turbulenzen vermeiden lassen. Eine „übergangslose Systemtransformation“; die sich als „kreativistische Optimisten“ bezeichnenden Akteure finden darin ihre Argumente. Dieser Modus steht für die paradigmatische Konstanz.

Vorzüge einer solchen „Einbettung“ bzw. Regelsicherheit, zugleich einer finanziellen und förderpolitischen Unterfütterung sind nicht zu übersehen. Mit Recht stützen sie die positiven Interpretationen zu Ostdeutschland. Zugleich aber sind Nachteile und Blockaden offensichtlich und lassen sich zu zwei zentralen Argumenten bündeln. Zum einen nämlich hat der Modus der institutionellen Inkorporation offensichtlich zu institutionellen Verhärtungen, zu nicht dem Kontext angemessenen oder auch zu „sklerotischen“ (also längst nicht mehr funktionierenden) Institutionen geführt, die fatale Folgewirkungen hatten und haben.

Beispiele einer solchen Überanpassung finden sich für alle gesellschaftlichen Bereiche in Ostdeutschland. Das gravierendste und folgenreichste ist zweifellos die plötzliche Schaffung einer Währungsunion zum 1. Juli 1990. Gerade für die ostdeutsche Wirtschaft war diese schockartige Marktöffnung und einfache Ausdehnung des Geltungsgebietes der D-Mark zerstörerisch. Aber auch die angestrebte arbeitsmarktpolitische Abfederung der einsetzenden Massenarbeitslosigkeit erfolgte auf Grundlage einer bloßen Übertragung institutioneller Prämissen, die andere Funktionslogiken zur Voraussetzung hatten. Da eben im Osten der Arbeitsmarkt nicht mehr funktionierte, brachten die übertragenen Instrumente nicht wieder Beschäftigung und Integration in den Arbeitsmarkt, sondern sie führten in Maßnahmeschleifen, dauerhafte Ausgrenzung oder eben lediglich zur „sekundären Integration“ (vgl. Bericht 2006). Die nachfolgenden einschneidenden Änderungen – Hartz IV wie Agenda 2010 – verblieben in dieser Logik: Aktivierung für einen weitgehend nicht vorhandenen Markt.

Investitionen in die Infrastruktur folgten schließlich, dies als ein drittes Beispiel, weitgehend etablierten Wachstumsstandards, mit denen beleuchtete Kuhweiden (leere Gewerbegebiete), überdimensionierte Kläranlagen oder auch Spaßbäder zur Kehrseite der Deindustrialisierung wurden. Auch blieben nachfolgende Änderungen und Korrekturen zunächst ebenso schematisch und überholten institutionellen Leitorientierungen verpflichtet. Belege liefern die ersten Jahre im Programm „Stadtumbau Ost“.

Dann aber, als zweites Argument und gleichsam Gegenstück zu den institutionellen Verhärtungen, hat dieser Modus der Inkorporation zugleich durchaus mögliche eigenständige Lern- und Suchprozesse, kreative Regelauslegungen oder innovative Entwicklungen weitgehend ausgeschlossen. Es sind also nicht nur Fehlsteuerungen und Fehlanreize festzuhalten, sondern deutliche Blockaden. Statt Lernprozesse und auch eigensinnige Anpassungen (hybride Formen, gesellschaftliche Zwischenetappen …) im Osten zuzulassen, musste jede Abweichung von der institutionellen Vorlage als Störung erscheinen.

Beispiele hierfür sind etwa durchaus eigenständige Marktbildungen, wie sie sich mit den Neuen Selbständigen in Ostdeutschland gezeigt haben (vgl. Thomas 2003). Deren vielfach festzustellende Eigenlogiken mussten sich mit den institutionellen Vorgaben übertragener Kammern und Förderinstitutionen vielfach brechen. Handlungsspielräume wurden beschnitten, der darin auch versteckte grundlegende Wandel sozialer Existenzformen wurde zumeist ignoriert. Ähnlich sieht es mit den Eigenständigkeiten im Bereich von Klein- und Mittelunternehmen (KMU) aus, oder auch mit der öffentlichen Industrieforschung. Beides erfuhr und erfährt nur mühsam Aufmerksamkeit, Unterstützung (siehe Programme wie InnoRegio oder Inno-Watt), zu starr blicken Wissenschaft und Politik vielfach nur auf fehlende Großunternehmen und Forschungsabteilungen. In der Wirtschaftskrise erschien dann zwar eine solche Schwäche als „Vorteil“ der ostdeutschen Wirtschaft, gerade darin aber Innovationschancen zu sehen, wäre skurril. Schließlich lässt sich auf Bereiche wie Bildung, Kinderbetreuung oder medizinische Versorgung knapp verweisen. Diese sind trotz erheblicher ideologischer Kontroversen mittlerweile vorzeig- und politisch verhandelbar.

Natürlich sind diese Beispiele stilisiert, und es soll keinesfalls bestritten werden, dass es Veränderungen gegeben hat oder gibt. Die Politik hat sich an manchen Problemen immer wieder abgearbeitet, wie auch die aufgeführten Programme im Bereich von KMU und Regionalförderung zeigen. Im Kern aber ändert selbst das nichts daran, dass sich hier die Grenzen einer bloßen Inkorporation oder Anpassung zeigen. Und zugleich ist mit diesen Grenzen ein Rahmen gesetzt (eine Pfadabhängigkeit), in dem (der) sich auch politische Gestaltung weiterhin bewegt. Damit bleibt der Osten auf nachholende Adaption fixiert, der Westen das nicht zu hinterfragende Vorbild. Auswege aus dem aufgezeigten Dilemma müssten anders aussehen; der Osten bleibt blockiert und ist zudem Ursache vieler Konflikte, die stärker auf den Westen zurückwirken. Das nervt.

Wie aber, wenn die Anpassung eben nicht als ultima ratio angesehen wird, sondern – im produktiven Anschluss an die „kulturalistischen Pessimisten“ – als das eigentliche Problem, als Fehlsteuerung? Vielleicht liegt in einer solchen Fehlsteuerung eine größere Gefährdung der Errungenschaften der Moderne, als in deren kulturalistischer Kritik und Öffnung? Einiges spricht dafür. Vermeintlich stabile Sozialitäten sind aufzubrechen, „um die moderne Kultur als ein ‚offenes Rennen‘ zu pointieren“ (Reckwitz 2003: 76). Dies aber nicht als Flucht in Beliebigkeit oder Pessimismus, sondern Gewinn einer gemeinsamen Gestaltungsperspektive.

Fehlsteuerung, Blockaden und Herausforderungen für eine solche Gestaltungsperspektive werden verständlich und lassen sich erklären, wenn man die globalen wie eben auch die innerdeutschen Entwicklungen seit den späten 1970er Jahren als eine Folge von Umbruchsprozessen versteht, die sich aus dem Zusammenbrechen eines bis dato leitenden und funktionierenden Wirtschafts- und Gesellschaftsmodells ergeben haben. Der Zusammenbruch dieses so genannten „fordistischen Modells“ war eine gewichtige Ursache für die Implosion sozialistischer Staaten und Gesellschaften, also auch der DDR. Andererseits erhielt genau dadurch dieses Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell im Westen eine scheinbare Legitimation und Stabilität, hatte es doch „den Sieg“ davongetragen. Also wurden Logiken des Modells fortgeschrieben und Korrekturen verblieben in diesen Logiken. In der Konsequenz, so etwas vereinfacht und zugespitzt, musste der Modus einer nachholenden Inkorporation für Ostdeutschland genau diese Grenzen aufnehmen, sie nachvollziehen: Der spezifische Modus der Transformation hat im Westen kaum Lernmöglichkeiten stimuliert, im Osten zusätzliche Barrieren errichtet. Gegenüber einer so sichtbaren gemeinsamen Gestaltungsherausforderung sind die innerdeutschen Unterschiede in der Tat sekundär.

Voraus­set­zungen für eine solche Perspektive

Die Transformation nach dem Modus „institutioneller Inkorporation“ stellt sich als „lock in“ in einen blockierten Entwicklungspfad dar. Errungenschaften und Vorzüge moderner, um Marktwirtschaft und Demokratie zentrierter Gesellschaften werden mehr durch diesen lock in gefährdet als durch die Suche nach einem anderen Pfad gesellschaftlicher Entwicklung, auf den die Umbruchsprozesse zwingend verweisen. Aus der Umbruchsperspektive erfährt die kritische Sicht auf Transformationslogik und Transformationskonzepte ihre Zuspitzung wie Systematisierung.

Die Umbruchsperspektive bietet gegenüber den mit dem fordistischen Gesellschaftsmodell gesetzten Entwicklungsgrenzen einen Perspektivengewinn, darin liegt ihr Vorteil. Insofern ist diese Perspektive auch nicht als eine marginale oder auf bestimmte Bereiche gerichtete Korrektur anzusehen, sondern als Suche nach einem grundlegend anderen Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell. Die aktuelle Finanz- und Wirtschaftskrise, die im Kern als Konsequenz nicht bewältigter Umbruchsprozesse angesehen werden kann, verschärft die Herausforderung noch einmal. Zugleich aber zeigen dominierende politische und wissenschaftliche „Antworten“ auf diese Krise, dass für einen tatsächlichen Pfadwechsel noch viel zu tun ist. Auch deshalb sollen Konturen wie Voraussetzungen eines solchen Pfadwechsels skizziert werden.

Kern eines neuen gesellschaftlichen Entwicklungsmodells, das mit einseitigen und zerstörerischen Prämissen des fordistischen bricht, ist die Wende zu einem ressourceneffizienten, ressourcensparenden Pfad. Gegenüber dem ressourcenblinden und ressourcenverschleißenden Pfad fordistischer Massenproduktion geht es um eine gleichsam revolutionäre Wende, einen Wandel in wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Basisprozessen, bei denen das Prinzip einer effizienten Ressourcenverwendung leitend ist. In der Wirtschaft muss es beispielsweise gelingen, dass Ressourceneffizienz deutlicher steigt, als die Arbeitsproduktivität und so die wirtschaftlichen Prozesse auf nachhaltige Weise mit Naturprozessen und Naturressourcen verbunden sind. Dies ist der Kern eines Paradigmenwechsels, zu dem ebenso grundlegende Veränderungen in der gesamten Reproduktionsweise in Gesellschaft und Lebenswelt gehören. Insofern sprechen wir begründet von einem Modellwechsel, oder von einem gesamtgesellschaftlichen Umbauprozess in europäischer oder globaler Dimension. Ostdeutschland ist in einen solchen nicht nur eingebettet, sondern hat Chancen, hierbei einen wichtigen Part zu spielen. Und es hat damit zugleich Voraussetzungen, tatsächlich „aufzuholen“ und selbsttragende Entwicklungen zu induzieren.

Setzen wir einmal die offensichtlichen Grenzen einer ressourcenfressenden, umweltzerstörenden Produktions- und Lebensweise wie die offensichtlichen funktionalen Grenzen des fordistischen Modells voraus (Land 2005; Zukunftsfähiges Deutschland 2008), so sind die mit einem ressourceneffizienten Modell gegebenen Entwicklungschancen wie die Voraussetzungen eines Pfadwechsels herauszuarbeiten (vgl. Akteure 2008).

Entwicklungschancen liegen darin, dass industrielle, wirtschaftliche Bereiche auszumachen sind, die unmittelbar zu Gewinnern einer solchen Perspektive gehören. Beispielsweise sind das High-Tech -und IT-Industrie; Handwerk; Bereiche der ökologischen Produktion oder der Recycling-Industrie, aber auch Bildung, Kultur. Letztlich ergeben sich für die meisten Wirtschaftszweige entsprechende Gewinnanreize. Scheinbar zwangsläufig als Verliererbranchen auszumachende Bereiche – etwa der Automobil- oder der Grundstoffindustrie – sind das vor allem, wenn sie eingefahrene Orientierungen beibehalten. Entwicklungschancen sind auch darin zu sehen, dass insgesamt ein Umbau der Wirtschaft möglich ist, der Konkurrenzen zwischen Standorten und Regionen in produktiven Wettbewerb um sehr unterschiedliche Ansätze für Produktion, Konsum und Lebensweise bringt. Disparitäten und Fragmentierungen zwischen wenigen Ballungsräumen und wirtschaftlich potenten Wachstumskernen auf der einen Seite, peripheren und schrumpfenden Räumen auf der anderen Seite, sind nicht zwangsläufig. Der sozialökologische Umbau erschließt Chancen in sehr unterschiedlichen Regionen, gerade so lassen sich spezifische Potenziale in Wert setzen und jeweils auf ihre Art lebenswerte Räume finden. Das ist eine zukunftsfähige Alternative zum ruinösen Wettbewerb.

Mit einem ressourceneffizienten, sozialökologischen Gestaltungsansatz lassen sich die einzelnen gesellschaftlichen Lebensbereiche – Arbeit, Bildung, Gesundheit, Kultur etc. – zukunftsfähig gestalten. Zu verweisen ist auf Einspareffekte im Gesundheitsbereich wie neue Arbeits- und Beschäftigungsmöglichkeiten, auf den Ausbau von Bildung oder kulturelle Lernprozesse. Entworfen wird nicht das Bild einer idealen, sondern das einer „offenen“, eben zukunftsfähigen Gesellschaft.

Deren konkrete Gestaltung muss sich in einem weitgehend offenen Lern- und Suchprozess, verbunden mit vielfältigen Selektionen ergeben. Einige der Voraussetzungen sollen benannt werden. Neben so konkreten Fragen wie die nach zu setzenden wirtschaftlichen Anreizen und evtl. auch Kompensationen, nach (Risiko-)Finanzierung und Absicherungen werden insgesamt und für die einzelnen Bereiche die demokratische Legitimation der zu treffenden Entscheidungen und eine breite soziale Teilhabe an solchen Lernprozessen wichtig. Gerade weil institutionelle Akteure, herrschende Politik und funktionale Eliten kaum bereit und in der Lage sind, sich etablierten Logiken zu entziehen, erhalten zivilgesellschaftliche Akteure und basisdemokratische Prozesse eine besondere Bedeutung (vgl. Hamm 2008). Insofern ist die Perspektive einer solidarischen Gesellschaft Bedingung wie Bestandteil des Pfadwechsels.

Zugleich mit diesen generellen Bedingungen kann darauf hingewiesen werden, dass es im Osten Deutschlands Voraussetzungen gibt, die diesen Landesteil eben durchaus in eine gewisse experimentelle Vorreiterrolle bringen könnten. In negativer Hinsicht sind es die oben als Blockaden und Fehlsteuerungen aufgezeigten institutionellen Verhärtungen. Denn mit diesen bilden sich Konflikte, Defizite notwendig markanter, schärfer oder auch früher und mit einer zeitlichen Beschleunigung ab. Der Osten hat viele der Probleme in einer Zuspitzung, und er hat schon jetzt einige der Probleme, die der Westen in ähnlicher Form bald haben wird. Zugespitzt sind etwa die Finanzlage vieler Kommunen, verfestigte Arbeitslosigkeit oder Armut, gleichsam im Zeitraffer laufen die demografischen Veränderungen ab. Im Osten zeigt sich ein besonderer Problemlösungs- und Handlungsdruck. Progressive Antworten sind möglich.

Es haben sich im Osten einige eigenständige Entwicklungen vollzogen, die direkte Anknüpfpunkte bieten. Dazu gehört der ganze Bereich der regenerativen Energien (insbesondere Photovoltaik und Windenergie), dazu gehören produktive Formen von Kooperationen und Vernetzungen zwischen KMU, wie auch zwischen KMU und regionalen Forschungseinrichtungen, dazu gehören verschiedene experimentelle Ansätze in ländlichen und peripheren Regionen (vgl. Links/Volke 2009). Einige der unterdrückten Eigensinnigkeiten, auf die wir oben verwiesen haben, erfahren mit den aufgemachten Perspektiven plötzlich breite Aufmerksamkeit.

Der Osten? Der Westen? Oder was?

Bisher, das wurde erwähnt, stehen die Zeichen für die Durchsetzung eines solchen neuen, ressourceneffizienten Entwicklungspfades in Deutschland nicht gut; der Umgang mit der Finanz- und Wirtschaftskrise ist nur das offensichtliche Beispiel. Paradoxerweise scheint dies zurzeit in den USA oder in China und anderen Ländern, die lange als Umweltsünder und Blockierer par excellence galten, anders zu sein. Für Deutschland besteht die Gefahr, bisherige Vorsprünge und Vorteile zu verspielen. Zugleich kann darin eine Ermutigung gesehen werden, denn eine Wende zu einer ressourceneffizienten Produktionsweise kann nur global begonnen werden – und neben Europa kommen den USA und etwa China in der Tat eine besondere Rolle zu -, wie sie auch nur als globaler Prozess gestalten werden kann. Insofern muss man Rückwirkungen auf Deutschland ja nicht ausschließen.

Für unsere Betrachtung, die mit einer scheinbar lediglich innerdeutschen Nabelschau gestartet ist, hat diese Entwicklung darüber hinaus aber noch ihre eigenständigen Konsequenzen. Mit den umfassenden und zukunftsfähigen Herausforderungen lässt sich vielleicht eine größere Gelassenheit gegenüber unterschiedlichen Befindlichkeiten wie auch ein deutlich produktiverer Umgang mit Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten finden. Nichts davon muss ignoriert oder tabuisiert werden, vermeiden lassen sich aber falsche Schuldzuweisungen und nach Antworten ließe sich gemeinsam suchen. Die Wissenschaft schließlich, die sich am Transformationsprozess immer wieder aufgerieben hat, kann sich über die deutsche Provinz erheben, statt negativ oder positiv auf das goldene Zeitalter von Wirtschaftswachstum und immerwährender Prosperität fixiert zu bleiben. Denn diese Korsettstangen der Moderne haben sich längst als zu starr erwiesen; für den Westen, für den Osten wie auch generell. Die Fragen sind noch nicht beantwortet.

[1] Die wirtschaftliche Vereinigung erscheint als gescheitert (vgl. Sinn 2003: 221).

Literatur

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Biller, M. (2009): Deutsche deprimierende Republik, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 22.3.: 27.

Busch, U./Kühn, W./Steinitz, K. (2009): Entwicklung und Schrumpfung in Ostdeutschland. Aktuelle Probleme im 20. Jahr der Einheit, Hamburg.

Friedrichs, J./Lepsius, M.R./Mayer, K.U. (1998): Diagnose und Prognose in der Soziologie. In: Dies.(Hg.): Die Diagnosefähigkeit der Soziologie. Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie. Sonderheft 38: 9-31.

Hamm, B. (2006): Die soziale Struktur der Globalisierung. Ökologie, Ökonomie, Gesellschaft. Berlin.

Heitmeyer, W. (Hg.) (2009): Deutsche Zustände, Bd. 7., Frankfurt a.M.

Koch, Th./Kollmorgen, R./Dienel, L. (Hg.) 2009: Wahrnehmung und Bewertung der deutsch-deutschen Einheit. Projektbericht (Ms.), Berlin.

Kollmorgen, R. (2005): Ostdeutschland als Übergangs- und Teilgesellschaft, Wiesbaden.

Land, R. 2005: Ostdeutschland. In: SOFI, IAB, ISF, INIFES (Hg.): Berichterstattung zur sozioökonomischen Entwicklung in Deutschland – Arbeit und Lebensweisen. Erster Bericht, Wiesbaden: 7883

Links, Chr./Volke, Kr. (Hg.) (2009): Zukunft erfinden. Kreative Projekte in Ostdeutschland, Berlin

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Reckwitz, A. (2003): Die Grenzen des Sozialen und die Grenzen der Moderne. Niklas Luhmann, die Kulturtheorien und ihre normativen Motive, in: Mittelweg 36. Zeitschrift des Hamburger Instituts für Sozialforschung, 12. Jg., Aug./Sept.: 61-79.

Sinn, H.-W. (2003): Ist Deutschland noch zu retten? München.

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Wiesenthal, H. (2009): Transformation oder Wandel? Impressionen aus (fast) zwei Jahrzehnten Transformationsforschung, in: SFB 580. Mitteilungen 2009, Jena: 8-20.

Zukunftsfähiges Deutschland (2008): Zukunftsfähiges Deutschland in einer globalisierten Welt. Ein Anstoß zur gesellschaftlichen Debatte. Eine Studie des Wuppertal Instituts für Klima, Umwelt, Energie. Frankfurt a. M.

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