Deutschland, einig Vaterland?
Wer die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse erhalten will, muss sie neu definieren;
aus: vorgänge Nr. 187. Heft 3/2009, S. 13-22
Einleitung
Glauben Sie an die Verfassung? Oder – handeln Sie auf dem Boden der Verfassung? Dies ist für einen Politiker im Staatskleide ebenso wie für einen Bürger in Zivil zuweilen eine heikle Frage. Denn dort steht geschrieben: „Jeder hat das Recht auf freie Entfaltung seiner Persönlichkeit“ (Artikel 2 Grundgesetz). Die Verfassung der Bundesrepublik Deutschland legt Bindungen für die Gestaltung der Republik fest, denen Folge zu leisten weder dem Einzelnen noch dem Gemeinweisen immer möglich ist. Dies gilt in jüngster Zeit – angesichts von zwanzig Jahre deutscher Wiedervereinigung – vor allem für die Frage nach der räumlichen Gerechtigkeit und Teilhabe im Lande. Denn die Raumplanung hat aus dem Verfassungsrecht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit klassischerweise geschlussfolgert: „Entfaltungsfreiheit aber setzt Chancengleichheit und Chancengleichheit setzt gleichwertige Lebensverhältnisse in allen Teilräumen des Bundesgebietes voraus. Es handelt sich um eine Gerechtigkeitsnorm. Sie verpflichtet Bund und Länder, regionale Disparitäten in den Lebensverhältnisse (sic) abzubauen, sie zumindest nicht zu verstärken“ (Gatzweiler/Strubelt 2006, S. 1).
Das Ziel der Chancengleichheit durch die Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse in Deutschland wird seit einigen Jahren intensiv diskutiert (vgl. Hahne 2005). Von manchen wird es pragmatisch relativiert, weil es aufgrund der knappen Kassen des Sozialstaates heute kaum noch realistisch erscheint. Andere sehen prinzipieller, mit theoretischen Argumenten munitioniert, das Ziel der Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse im Wanken. Nicht nur der Osten und der Westen sind als Teilgebiete Deutschlands in ihrer Entwicklung zunehmend differenziert oder vielleicht sogar polarisiert. Vielmehr konstatieren die Raumentwickler, sei es nun in der Profession der Regionalökonomen, Geographen oder Stadtsoziologen auch zwischen dem Süden und Norden der Republik zunehmend divergierende Entwicklungen. Ebenso, wie sich in ganz Europa unter den Bedingungen von Globalisierung die Entwicklungen auf den Arbeits- und Wohnungsmärkten zunehmend polarisieren und Wachstums- und Schrumpfungsgebiete sich gegenüberstehen, lassen sich auch in Deutschland schon seit der Vor-Wende-Zeit zunehmend polarisierende Entwicklungen etwa zwischen einem prosperierenden München und dem schrumpfenden Bremerhaven feststellen (vgl. Enquete-Kommission 2004).
Die Raumstruktur der Bundesrepublik ist zunehmend mit Unregelmäßigkeiten, mit Ecken und Kanten versehen. Es bildet sich ein regionales Potpourri unterschiedlicher Entwicklungen mit geographisch ausgeprägt scharfen Konturen. Das „Ganze des Landes“ ist in seinen Teilräumen – nicht erst seit der Wiedervereinigung -zunehmend ein Flickenteppich örtlich zu Teilen sehr unterschiedlicher Lebensbedingungen. Sind wir bereit, dieses als Bürgerinnen und Bürger zu dulden? Wie geht der Sozialstaat mit der wachsenden territorialen Differenzierung um? Welchen rechtlichen Auftrag gibt die Verfassung? Und welche Chancen und Formen der Umsetzung von räumlicher Gerechtigkeit und räumlicher Teilhabe sind heute noch denkbar? Ich möchte also in diesem Beitrag die Frage diskutieren: Wie viel Einheit ist im Lande heute räumlich noch möglich? Und welche Formen der Verfassungsinterpretation, der Sozialstaatspolitik in der Fläche und Raumordnung würden dem entsprechen?
Warum gibt es die Verfassungsnorm von der „Gleichwertigkeit der Lebensbedingungen“?
Das Selbstbewusstsein der alten BRD fußte zu einem Gutteil auf dem Verständnis eines interventionsbereiten und solidarischen Staates. Ruhend auf der allgemeinen finanziellen Stärke der Nachkriegsperiode in den westlichen Industriestaaten hat sich in Westdeutschland ein spezifisches Modell der Sozialpartnerschaft herausgebildet. Staatliche Subventionen und Interventionen waren sowohl in der Sozial-, Bildungs-, Forschungs-, Industrie- und Konjunkturpolitik von den Bürgern wie auch den Politikern gleichermaßen getragene und befürwortete Elemente eines fordistischen Staates. Dieses westdeutsche Sozialstaatsverständnis trug die Werte Solidarität, Chancengleichheit und Gerechtigkeit wie selbstverständlich auch immer in die Fläche durch den kraftvollen Ausbau der öffentlichen Infrastruktur in den Teilräumen des Landes. Ob es der Autobahnbau, die Entwicklung von Freibäder- und Theaterlandschaften in den Städten, die Verbreitung von Volkshochschulen oder die Expansion des Universitätswesens in die Provinzstädte waren (z.B. Bayreuth, Passau, Oldenburg, Trier), die 1960er und 1970er Jahre erwiesen sich als Blütezeit öffentlich finanzierter Regionalentwicklung.
Die massive Intervention des Staates in Teilräume des Landes zur nachholenden Entwicklung fußte stabil und solide auf einer weit reichenden rechtlichen Basis: dem Grundgesetz. Das Grundgesetz formuliert als politisches Leitbild die „Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse“ (Art. 72 Abs. 2 GG). Die zitierte Grundgesetzbestimmung ist Teil einer Regelung über die konkurrierende Gesetzgebung. Sie soll zum Ausdruck bringen, dass zentralstaatliche Regulierung nur zulässig ist, wenn vorhandene Ungleichwertigkeit sie „erforderlich macht“.[1] So diese Erforderlichkeit besteht, sind beispielsweise über einen Finanzausgleich alle Bundesländer ungeachtet ihrer Steuerkraft angemessen auszustatten. Auch hier bezieht sich das Grundgesetz ausdrücklich auf die „Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse“ (Art. 106 GG). Deshalb wird es auch als „Solidargesetz“ bezeichnet (vgl. Rohlfs 2008, Reichel 2009).[2]
Das Raumordnungsgesetz (1965) greift dies auf und macht die Forderung nach „gleichwertigen Lebensverhältnissen in allen Teilräumen“ (§ 1 Abs. 2 Nr. 6 ROG) nicht nur zu einer Leitvorstellung der Raumordnung. Darüber hinaus werden im Raumordnungsrecht die gleichwertigen Lebensverhältnisse zu einer aktiven Handlungsanweisung, indem sie „in allen Teilräumen herzustellen“ sind. Der Gesetzgeber folgt hier dem Bild des „planenden und versorgenden Staates“ (Komm. ROG 1994, 19), der mit den Instrumenten der Raumordnung „gesunde Strukturen im Bundesgebiet“ schaffen will. Der Kommentar zum Raumordnungsrecht unterstreicht diesen Zeitgeist: „Bliebe die räumliche Entwicklung sich selbst überlassen, müsste dies zu erheblichen Belastungen und Verschiebungen in der Erwerbs- und Infrastruktur der Bundesrepublik führen, die soziale Benachteiligungen und ungleiche Behandlung nach sich zögen“ (a. a. O., S. 19).
So stark also die normative Vorgabe des Grundgesetzes und die bisherige Interpretation der Raumordnung sind, so offen und unbestimmt sind aber auch gleichzeitig die Begriffe. Dies betrifft sowohl den Begriff „Teilraum“ wie auch den Terminus „Lebensverhältnisse“. Die begriffliche Mehrdeutigkeit ist ein Problem aus juristischer Sicht. Sie bildet in der Sache aber zugleich einen wichtigen Anknüpfungspunkt für eine zeitgemäße Neuinterpretation. Aus juristischer Sicht bleibt offen, welche Teilräume und welche Lebensverhältnisse entsprechend dem Grundgesetz gegebenenfalls aufzuwerten sind. Denn tatsächlich sind die bei der materiellen Umverteilung berücksichtigten „Teilräume“ zum einen die Länder z. B. über den Länderfinanzausgleich und die sonstigen Verteilungsregelungen der Finanzverfassung. Zum anderen sind dies die Gemeinden durch die jeweils länderspezifisch geregelten Finanzausgleiche der Gemeinden und Gemeindeverbände untereinander und mit dem jeweiligen Land.
Der Zielbereich der „Lebensverhältnisse“ ist als Interventionsobjekt des Sozialstaates ebenfalls begrifflich breit und unspezifisch. Er umfasst die Gesamtheit der Lebensbereiche, vom Wohnen über das Arbeiten bis zur Bildung, Erholung, der Versorgung mit privaten und öffentlichen Gütern und Dienstleistungen. Einigkeit herrscht in der Rechtsauffassung darüber, dass sich die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse nicht auf individuell artikulierte Bedürfnisse, sondern auf gesellschaftlich akzeptierte Standards bezieht. In der Geschichte der alten Bundesrepublik hat sich zumeist ein praktikabler Kompromiss ergeben zwischen der Leistungsfähigkeit des Staates einerseits und den Bedürfnissen der Menschen. Hieraus haben Fachpolitiker und Raumordner Standards abgeleitet für die Versorgung mit sozialer Infrastruktur. Wurden diese selbst gesetzten Standards eingehalten, konnte von gleichwertigen Lebensverhältnissen gesprochen werden. Der Wunsch der Grundgesetzautoren, einheitliche bzw. gleichwertige Lebensverhältnisse in der Republik zu fordern, ist eng mit dem normativen Ziel der Nationenbildung verbunden. Territoriale Integrität ist spätestens seit dem 19. Jahrhundert in Europa ein essenzieller Bestandteil der Förderung nationaler Identität. Im Falle der Bundesrepublik Deutschland war das nationale, staatliche Projekt der territorialen Integrität zudem legitimiert durch die Werte der Teilhabe und räumlichen Gerechtigkeit.
Verteilung von Reichtum in der Fläche
„Raumordnung“ ist also ein politischer Prozess, in dem der Staat Verantwortung übernimmt für eine planerisch durchdachte und politisch gestaltete Entwicklung der Teilräume des Landes. Der Staat selbst trägt als Akteur bewusst Infrastrukturverantwortung. Er initiiert Umverteilungsprozesse und löst damit Raumwirkungen aus, die rechtfertigungsbedürftig sind. In Deutschland gibt es eine „formelle Raumordnung“ durch gesetzlich geregelte Planungen als „Legitimation durch Verfahren“. Daneben besteht eine „materielle Raumordnung“ als staatliche Umverteilung zugunsten bestimmter Infrastrukturen und Wirtschaftsaktivitäten im Raum (z.B. Ansiedlung von Behörden, Verteilung von Hochschulen im Land, Autobahnbau). Diese materielle Raumordnung besteht aus einem komplizierten Finanzausgleichssystem auf Bund-Länderebene und Landkommunaler Ebene (vgl. Junkernheinrich 2006). Die Gemeinden sind dabei in eine nahezu vollständige Abhängigkeit von den Verteilungsmechanismen auf Länderebene geraten, und die Länder wiederum befinden sich zunehmend in Abhängigkeit von Verteilungsmechanismen auf Bundesebene. „Verlierer“ ist jeweils die „schwächste“ Ebene, in den Ländern sind es also oftmals die Städte und Landkreise, im Bund die strukturschwachen Länder. Inzwischen sind sowohl beim Bundesverfassungsgericht als auch bei verschiedenen Länderverfassungsgerichten Streitigkeiten anhängig, die helfen sollen zu klären, wo die verfassungsrechtlichen Grenzen dieser Form von finanzieller Abhängigkeit liegen und welche Pflichten den übergeordneten Ebenen daraus erwachsen.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Raumordnung der Bundesrepublik eng mit dem sozialstaatlichen Ausgleichsgedanken verbunden ist. Die normative Vorstellung, die dem Prinzip der Gleichwertigkeit zu Grunde liegt, ruht zu Teilen auf einem Verständnis von Gerechtigkeit, das auf Umverteilungsgerechtigkeit zielt. Tatsächlich wird aus den Wirtschaftszentren in die Fläche ohne engen Bezug zur formalen Ordnung der Flächenstruktur umverteilt. Diese formale Ordnung (Bund, Länder, Gemeinden) bezieht sich nämlich meist auf andere Teilräume als die materielle Raumordnung (zentrale Orte). Die Finanzausgleiche betreffen Bund, Länder und Gemeinden, aber keine „Regionen“, während sich die materielle Raumordnung hauptsächlich um eine regionale Sicht bemüht, für die es selten reale Akteure gibt. Letztendlich ist sie damit in der Realität oftmals mehr ideologischer Überbau gewesen als reale Strukturordnung.
Gründe für die Gefährdung und den möglichen Verlust der Norm
Während die gesellschaftliche Grundlage für ein planend-solidarisches Staatshandeln erodiert, vollziehen sich gleichzeitig Prozesse, die die Ungleichheit der Lebensverhältnisse verschärfen. Drei Entwicklungen geben der Debatte um die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse Auftrieb (vgl. Enquete-Kommission 2005, Groth/Helbrecht/Rommelspacher 2006):
- Ökonomische Polarisierung: Die Spaltung des Städtesystems und die unter den Bedingungen der Globalisierung und verschärfter Standortkonkurrenz zunehmende Polarisierung der Raumentwicklung in prosperierende versus schrumpfende (Stadt)Regionen.
Es zeichnet sich ab, dass grundlegende Konzepte der bundesrepublikanischen Raumordnung wie die flächendeckende Anwendbarkeit des Prinzips der zentralen Orte, der dezentralen Konzentration und das Postulat gleichwertiger Lebensverhältnisse zu hinterfragen sind, weil wesentliche implizite Annahmen, auf denen sie fußen, sich verändert haben. Sie setzen zum Beispiel voraus, dass es Wachstum gibt, das in Problemgebiete gelenkt werden kann; oder dass eine nach Zentralität gestufte Ausstattung von Teilräumen zu einer insgesamt akzeptablen Versorgung der Einwohner führen würde. Dies trifft nur noch sehr eingeschränkt zu: Verteilbares Wachstum ist kurzfristig nicht mehr zu erwarten, und ein polyzentrales Städtesystem gibt es im Deutschen Osten nur noch teilweise. Mit dem Aufkommen „zwischenstädtischer“ Strukturen ohne klare Zentralität sinkt die Möglichkeit, die dezentrale Konzentration zu erzeugen, in deren Rahmen eine Grundausstattung mit öffentlichen Diensten in der Fläche gewährleistet werden kann.
Damit ist festzuhalten, dass Länder und Kommunen, in deren Kompetenz die Bearbeitung der meisten im Zusammenhang mit Raumordnung auftretenden Probleme fällt, kaum Instrumente haben, um die hier skizzierten Prozesse wirksam zu bearbeiten. Ihnen fehlt zudem das Geld für umfangreiche und lang anhaltende staatliche Interventionen, analog etwa den großen Sanierungsprogrammen, die in den 1970er Jahren zur sozialen Durchmischung und Schaffung gleichwertiger Lebensverhältnisse in den Städten der alten BRD durchgeführt wurden. Schließlich ist fraglich, ob derart intensive Eingriffe, die mit der Umverteilung knapper Ressourcen verbunden sind, überhaupt noch politisch legitimierbar wären.
Vor diesem Hintergrund entzündete sich Ende der 1990er Jahre eine Debatte um die Sinnhaftigkeit der Norm von der Gleichwertigkeit der Lebensbedingungen. Mit Blick auf die Veränderungen in Wirtschaft, Gesellschaft und Staat werden das Postulat der Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse und insgesamt der „Solidarföderalismus“ zunehmend in Frage gestellt. Hinterfragt wird nicht nur die Machbarkeit und Funktionalität derartiger Regelungen. Der Diskurs hat auch eine stark normative Dimension. So schwingt in etlichen Beiträgen zu dieser Debatte auch die Frage mit, ob die im Jahre 1949 formulierte Gleichwertigkeitsnorm des Grundgesetzes noch in den aktuellen, stark gewandelten Wertekanon passt. Dabei wird hervorgehoben, dass die Norm der gleichwertigen Lebensverhältnisse sowie das System des Finanzausgleichs für Länder und Kommunen keine Anreize für Eigenverantwortung enthalten, und als „Prämie auf Verarmung“ wirken. An ihre Stelle solle die Subsidiarität (Hilfe zur Selbsthilfe), die Förderung von Eigenverantwortlichkeit und Wettbewerb treten. Betont wird auch die Notwendigkeit, die Elemente von Kontrolle und Strafe zu verstärken. In zugespitzter Weise verdeutlichte Bundespräsident Köhler diese Argumentation, als er in einem Interview freimütig bekannte, es gebe „nun einmal überall in der Republik große Unterschiede in den Lebensverhältnissen. Das geht von Nord nach Süd wie von Ost nach West. Wer sie einebnen will festigt den Subventionsstaat und legt der jungen Generation eine untragbare Schuldenlast auf. Wir müssen wegkommen vom Subventionsstaat. Worauf es ankommt ist, den Menschen Freiräume für ihre Ideen und Initiativen zu schaffen“ (Köhler 2004, zitiert in Focus 38/2004, S. 23).
So direkt, dass es nahezu schamlos wirkt, legt Horst Köhler in diesem Interview die Norm der Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse auf den Scheiterhaufen der Geschichte. Er unterstellt den Vertretern der Forderung nach räumlicher Gerechtigkeit eine dreifache politische Fehleinschätzung: a) festigten diese den Initiative lähmenden Subventionsstaat, b) erhöhten sie die Krise der öffentlichen Finanzen sowie c) würde die nachfolgende Generation aufgrund der Schuldenlast unter dem demographischen Wandel zu Leiden haben.
Die Umstandslosigkeit, mit der der Bundespräsident eine im politischen Alltag weit interpretierbare Solidarnorm der Verfassung in einen Zusammenhang mit drei politischen Reizthemen stellen kann – und dabei für ein eher schlichtes Konstrukt durchaus positive Resonanz erntet – verweist darauf, dass es um mindestens Dreierlei geht: Erstens um eine politisch-fiskalische Realität. Eine Disparitäten ausgleichende Regionalpolitik ist in dem Maße, wie es die bedrohliche Entwicklung in Teilen Ostdeutschlands erforderlich macht, schlicht schwer zu finanzieren. Zweitens geht es um Werte, um die Interpretationsmuster und Wahrnehmungen wie auch Bewertungen der derzeitigen Situation – also um eine im Kern politische Einschätzung. Drittens geht es um die Frage einer realistischen Strategie. Wie kann die Norm von der Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse als politisch wünschenswertes Ziel heute neu interpretiert werden, so dass sie auch für die heutigen Verhältnisse der Bundesrepublik – sowohl nach der Wiedervereinigung wie auch unter den Bedingungen von National- und Sozialstaatsentwicklung im 21. Jahrhundert – tragfähig ist?
Meine These dazu ist eine doppelte: Die Aufgabe des Leitbildes der Gleichwertigkeit der Lebensbedingungen wäre ein uneinholbarer Verlust. Die politische Neuinterpretation des Leitbildes der Gleichwertigkeit der Lebensbedingungen ist eine Notwendigkeit.
Warum wäre die Aufgabe des Leitbildes von der Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse ein Verlust?
Mindestens drei Prozesse verweisen darauf, wie folgenreich und kritisch es sein könnte, zu frühzeitig die Norm der gleichwertigen Lebensverhältnisse Preis zu geben:
Denationalisierung: Zwar wird häufig im Zuge von Globalisierungsdebatten die Schwächung des Nationalstaates thematisiert. Dennoch sind Nationalstaaten seit ihrer Entstehung vorwiegend im 19. Jahrhundert. in Europa bis heute zugleich Territorialstaaten. Der Begriff Nation ist ohne die Korrespondenz eines nationalen Territoriums kaum zu denken. Die Norm der „Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse“ im Staatsgebiet ist so eine raumplanerische Entsprechung und Förderung der politischen Nationenbildung durch die Integration des Territoriums. Damit steht diese raumplanerische Norm zugleich als Chiffre für den Zusammenhalt der Nation. Die Aufgabe dieses Leitbildes verweist auf eine als problematisch empfundene Ent-Nationalisierung. Gerade in Deutschland scheint die politisch wiedergewonnene Einheit des Landes 1989 bedroht zu sein, quasi emotional wieder verloren zu gehen, wenn man den Osten nicht auch territorial und regionalentwicklungspolitisch integriert. Kein einheitliches Vaterland ohne territoriale Integration.
Entsolidarisierung: Der Grundsatz der Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse im Staatsgebiet ist das räumliche Gesicht des Sozialstaates. Verabschiedet man sich von ersterem, lässt sich das als räumlicher Ausdruck der Ent-Solidarisierung interpretieren. Arbeitslose in entlegenen Gebieten, Alte in ländlichen Peripherien Ostdeutschlands, würden quasi im Stich gelassen werden, ließe man die Norm der Gleichwertigkeit der Lebensbedingungen fallen. Wüstungen, wie wir sie aus dem Mittelalter kennen, könnten die Folge sein.
Entkräftigung: Die westdeutsche Raumordnung hat in der Nachkriegszeit einen Großteil ihrer planerischen und raumordnerischen Kraft daraus gezogen, eine in die Fläche gehende Raumordnung zu sein. Dass man es sich leisten konnte, flächendeckende Versorgung durch das System der zentralen Orte zu avisieren, ist ein Zeichen großen Selbstbewusstseins. Es entsprach dem hohen Selbstbewusstsein und nahezu heldenhaften Selbstbild der westdeutschen Planerprofession, den Bürgerinnen und Bürgern die Freiheit versprechen zu können, in jedem Teil des Landes zu wohnen. Überall Wohnstatt beziehen zu können und an nahezu jedem Punkte im Raum komfortabel zu leben ist ein Versprechen bürgerlicher Freiheit. Die Planer waren die Wächter und Verwirklicher dieser (territorialen) Freiheit. Der Reichtum der Infrastruktur im Raum legitimierte die Raumplanung vice versa. Eine Relativierung der Norm von der Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse in allen Teilräumen des Landes käme einer Entkräftung dieses Anspruches gleich. Die Tatsache, dass wir tatsächlich schon im Empfinden und in der Akzeptanz der Entkräftigung der Planung und staatlichen Handelns es weit gebracht haben, verdeutlicht die oft zitierte Aussage des gegenwärtigen Bundespräsidenten.
Während es also gute Gründe gibt, an der Norm festzuhalten, gibt es gleichzeitig ebenso große Notwendigkeiten, diese vor dem Hintergrund der veränderten Verhältnisse neu zu interpretieren. Meine Argumentation lautet: die Norm sollte bleiben, aber sie muss anders verstanden und ausgeführt werden: Wie?
Wie ist die Neuinterpretation des Leitbildes möglich? Differenz, Mindeststandards und Metropolitanisierung
Drei veränderte Denkansätze könnten helfen, die Norm der Gleichwertigkeit als offenen Begriff zu wahren und gleichzeitig für die heutige Zeit angemessen zu interpretieren.
a) Differenz: Das Ziel der Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse in Deutschland hat Verfassungsrang; und hieran sollte man auch nichts ändern. Gleichwertig ist jedoch nicht gleichartig. Der Begriff Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse setzt funktionale Differenzierung, also Diversität und damit das an sich mögliche Ungleichsein von Teilräumen gedanklich schon voraus. Für eine solche Ungleichheit im Sinne der Differenz darf die zu erstrebende Gerechtigkeit nicht allein mit der Meßlatte der Verteilungsgerechtigkeit gemessen werden – hiernach wäre allein gerecht, wenn alle das gleiche bekommen. Vielmehr kann Ungleichheit, die als Differenz gedacht wird, auch bedeuten, dass Gerechtigkeit dann herrscht, wenn eine Politik der individuellen Situation eines Teilraumes – oder eine Gruppe, eines Menschen – gerecht wird (vgl. Young 1990). Danach beinhaltet räumliche Differenz auch je räumlich differenzierte Entfaltungsmöglichkeiten und setzt räumlich differenzierte Gestaltungschancen voraus. Ein solch differenztheoretisch begründeter Begriff von Gerechtigkeit durch Gleichwertigkeit verlangt dann zentral, dass Teilräume in ihrer Wertigkeit nicht auseinanderfallen dürfen. Wer Natur liebt, lebt in der Uckermark besser als in Berlin; bei dem, der Kultur liebt, ist es umgekehrt. Beides ist gleichwertig, wenn man nicht jeweils Restriktionen unterliegt, die den spezifischen Wert des Raumes völlig zunichte machen. Eine solche Restriktion wäre, wenn es in den peripheren Regionen an den notwendigen Mindestangeboten eines verantwortlichen (Familien-) Lebens fehlen würde. Überall müssen also Kernangebote der Bildung, der kommunikativen Erreichbarkeit und der medizinischen Grundversorgung gewährleistet sein.
Diversität nicht als bedrohliche Divergenz nur zu interpretieren, sondern in der regionalen Vielfalt auch Chancenreichtum, Optionenwachstum und Möglichkeitsräume zu sehen, darin wird eine paradigmatische Herausforderung der Raumordnung in der Zukunft bestehen. Denn in den Eigenarten der Teilräume liegen auch ihre Stärken, gerade in einer globalisierten Welt. Das Besondere zu fördern und gleichzeitig das Allgemeine zu entfalten, diese Paradoxie zu bewältigen wird zu einer Zukunftsaufgabe eines flexiblen, transformierten Sozialstaates werden. Die Menschen in den Regionen müssen darin unterstützt werden, die Eigenwertigkeit ihrer Lebensumwelten und Heimaten anzuerkennen und zu nutzen.
b) Mindeststandards: Eine sozial, kulturell und ökologisch wünschenswerte Zukunft unserer Städte und Regionen lässt sich ganz ohne staatliche Regulierung, Verteilungspolitik und Wohlfahrtsstaat nicht darstellen. Das gilt für schrumpfende Räume ebenso wie für boomende Städte. Vor allem aber für Herausforderungen wie das Altern der Gesellschaft, die Integration von Minderheiten oder den Umgang mit der wachsenden sozialen Ungleichheit und Armut. Allerdings kann das nicht mehr in der gewohnten, auf Verteilungspolitik setzenden Art und Weise realisiert werden. Gefunden werden muss ein neuer Politik-Mix. In ihm kommen drei Elemente zum Tragen: Staat (Kommune, Region), Unternehmen sowie intermediäre und zivilgesellschaftliche Gruppen. „Raumgerechtigkeit“ lässt sich dabei nicht mehr auf allen Ebenen als vollständige Teilhabe darstellen. Es wird auch Räume geben, in denen nur noch Mindeststandards garantiert werden. Staatlich garantierte Zugänge muss es in drei Bereichen geben:
- Eine wissensbasierte Gesellschaft muss den Zugang zu Bildung garantieren.
- Eine zunehmend durch Alterung geprägte Gesellschaft muss ein Mindestmaß an Nahversorgung und basalen Gesundheitsdiensten sicherstellen.
- Schließlich ist ein Mindestmass an Mobilität und Kommunikation sicherzustellen.
Was Zugänglichkeit bedeutet, wird künftig je nach Raum- und Problemtyp unterschiedlich geregelt werden: So stellt sich etwa in den Entleerungsbieten des Ostens der Zugang zu Bildung anders dar, als in den von ethnischen Minderheiten und Armen geprägten marginalisierten Räumen des westdeutscher Städte.
c) Metropolitanisierung: Der Blick in die territoriale Zukunft von Nationalstaaten in der Weltgesellschaft zeigt, dass Metropolitanisierung ein entscheidender Zug ist. Städte, insbesondere Großstädte, entwickeln sich zu kulturellen und ökonomischen Zugpferden der Wissensgesellschaft (vgl. Helbrecht 2009). Sie sind gleichzeitig die Zentren von Zuwanderung und gesellschaftlicher Integration. Eine Politik der Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse muss diesen durch und durch urbanisierten Charakter moderner Dienstleistungsgesellschaften anerkennen und in Deutschland explizit adressieren. Der Beginn der Entwicklung einer nationalen Stadtpolitik unter Minister Tiefensee und der Großen Koalition war deshalb ein richtiger und raumordnerisch bedeutender Schritt. Eine zukunftsfähige sozialstaatliche Territorialpolitik muss die funktionale Differenzierung des Landesgebietes in Städte und Nicht-Städte adressieren. Die bewusste Gestaltung der sich sowieso vollziehenden Metropolitanisierung des Landes ist zentraler Auftrag einer neu interpretierten Norm von der Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse.
Fazit
Wir befinden uns an einem Scheideweg. Die Bundesrepublik steht vor der Herausforderung, ein neues politisches Leitbild für die Entwicklung des Landes zu erarbeiten, in dem Gerechtigkeitsvorstellungen, Gleichwertigkeit, Differenz, Mindeststandards und Metropolitanisierung gemeinsam ihren Platz haben. Es bedarf nicht mehr und nicht weniger als einer Leitdebatte um die neue politische Geographie der Republik.
Die Europäische Union fordert als Ziel der Union laut Art. I-3 in dem bisher nicht ratifizierten Verfassungsvertrag die Förderung des wirtschaftlichen, sozialen, territorialen Zusammenhalts, die territoriale Kohäsion. Die EU Politik der Förderung des (territorialen) Zusammenhalts entspricht nicht deutschen Gleichwertigkeitsvorstellungen. Damit ist auch mit den Entwicklungen auf europäischer Ebene ein Weg gewiesen, der eine Neuinterpretation des Verhältnisses von Metropolitanisierung, Landesentwicklung und Gleichwertigkeit vorsieht. An der Neuinterpretation werden die Deutschen deshalb auch als gute Europäer nicht vorbeikommen. Ich meine jedoch, wir haben aus innerdeutscher Sicht alle guten Gründe, die Verfassungsnorm von der Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse weiterhin zu verfolgen – und sie zugleich neu und zeitgemäß zu interpretieren.
[1] So seit der Grundgesetzreform vom 27.10.1994, BGBl I 3146. Bis dahin war der Bund zuständig, wenn zur Wahrung der „Einheitlichkeit“ (statt Gleichwertigkeit) ein „Bedürfnis“ (im Unterschied zur jetzigen „Erforderlichkeit“) für bundeseinheitliche Regelungen bestand.
[2] Art. 72 Abs.2 Satz 3 GG gibt dem Bund die konkurrierende Gesetzgebung, um die „Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse“ herzustellen. Art 106 regelt u. a. den Finanzausgleich der Länder. Ähnlich wirkt der Finanzausgleich unter den Kommunen auf Länderebene. Mit Blick auf diese Regelungen bezeichnet der frühere Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts Mahrenholz das GG als „Solidargrundgesetz“. (www.zeit.de/politik/dlf/interview_040914).
Literatur
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Köhler, H. 2004: Interview mit dem Bundespräsidenten. In: Focus 38/2004 vom 13.09.2002, S. 20-24.
Gatzweiler, H./ W. Strubelt 2006: Gleichwertige regionale Lebensverhältnisse? In: Informationen zur Raumentwicklung, H. 6/, S. 1-2.
Groth, K.-M./ I. Helbrecht / T. Rommelspacher 2006: Von der Disparität zur Differenz. Die Zukunft der „Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse“. In: Das neue Gesicht der Stadt. Strategien für die urbane Zukunft im 21. Jahrhundert. Empfehlungen der Fachkommission Stadtentwicklung der Heinrich-Böll-Stiftung. Berlin: Heinrich-Böll-Stiftung, S. 37-53.
Hahne, U. 2005: Zur Neuinterpretation des Gleichwertigkeitsziels. In: Raumforschung und Raumordnung H. 4, 257-265.
Helbrecht, I. 2009: Mehr Leadership! Wege in die Urban Governance am Beispiel von Creative City Politics. Eine Betrachtung im Lichte von Platons Staatstheorie. In: PlanungNeuDenken-Online (PNDonline), H. 1/2009, S. 1-14.
Internet Journal: http://www.planung-neu-denken.de/images/stories/pnd/dokumente/2009_1_helbrecht.pdf
Junkernheinrich, M. 2006: In: Wege aus der finanziellen Handlungsunfähigkeit. Über die Schwierigkeiten einer Reform der Gemeindefinanzen. In: Das neue Gesicht der Stadt. Strategien für die urbane Zukunft im 21. Jahrhundert. Empfehlungen der Fachkommission Stadtentwicklung der Heinrich Böll-Stiftung. Berlin: Heinrich-Böll-Stiftung, S. 75-9.
Reichel, D. 2009: Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse. Verfassungsauftrag und Raumordnungsrecht. München.
Rohlfs, T. 2008: Die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse – ein Verfassungsprinzip des Grundgesetzes. Frankfurt/M.
Young, I.M. 1990: Justice and the Politics of Difference. Princeton.