Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 187: 20 Jahre Einheit in Uneinigkeit

Zwanzig Jahre friedliche Revolution

Wende und Wandel in der Wahrnehmung der Ostdeutschen*

aus: vorgänge Nr. 187, Heft 3/2009, S. 45-56

Die zunehmende Zahl von Bürgern, welche ab September 1989 an den Demonstrationen in Leipzig und anderen Städten teilnahmen, die wachsende Welle von Zuflucht Suchenden in Botschaften der Bundesrepublik, das rasche Erstarken demokratischer Bewegungen und schließlich die Grenzöffnung als äußerer Anlass für den Prozess eines friedlichen Widerstandes gegen ein diskreditiertes System – all das leitete im Osten Deutschlands eine Periode des demokratischen Aufbruchs ein, der erfolgreich und visionär war. Die friedliche Revolution mit ihrer Gewaltlosigkeit, mit ihren Runden Tischen auf allen Ebenen und ihrer Streitkultur ist und bleibt eine Sternstunde der Demokratie und des bürgerschaftlichen Engagements auf deutschem Boden. Mit dem Herbst 1989 begann eine Zeit, in der in der DDR in einem bis dahin nicht bekannten und später auch nicht wiederkehrenden Maße von vielen Bürgern unterschiedlichster sozialer Gruppen Interessen artikuliert und auf demokratischem Wege eingebracht wurden, in der sich Erwartungshaltungen auf progressive Reformen und Veränderungen herausbildeten, die wenig später kaum noch Beachtung fanden.

Inzwischen gibt es nicht nur eine mehrere Tausend Bücher und Studien umfassende Literatur zur friedlichen Revolution bzw. zum Vereinigungsprozess, sondern auch zur Entwicklung der Ostdeutschen, ihren Lebensbedingungen und -verhältnissen, zu den von ihnen vorgenommenen Wertungen und zur Bewertung ihrer Wertungen. Die Anzahl erfasster wissenschaftlicher empirischer Erhebungen, die sich u. a. mit den neuen Bundesländern befassen, liegt bei rd. 1.500 seit 1990 (GESIS).

Immer deutlicher wird, dass der demografische Wandel auch die Zahl jener Bürger begrenzt, welche Aussagen zur Zeit vor, während und nach dem Herbst 1989 aus eigenem Erleben vornehmen und Entwicklungen beurteilen können. Die Zeitzeugen werden immer weniger, da inzwischen eine Generation verstorben ist (3 Mio.), eine Generation, welche nie in der DDR gelebt hat, nachrückte (1,8 Mio.) und Millionen durch Ab- und Zuwanderung (2,7 Mill./1,6 Mio.) einen teilweisen Bevölkerungsaustausch vollzogen haben. Daraus folgt, dass nur noch rd. 60 Prozent der in den neuen Ländern Lebenden zu der Zeit vor und während des Herbstes 1989 Aussagen aufgrund eigenen Erlebens machen können. Acht von zehn der Jüngeren übernehmen bei Wertungen zum Leben im Osten vor 1989 vor allem die Auffassungen ihrer Eltern. Die Generationen, welche weitgehend die friedliche Revolution trugen, haben inzwischen das Renten- bzw. Vorrentenalter erreicht.

Vergleicht man Befunde der vergangenen 20 Jahre, so ist besonders hervorzuheben:[1]

Erstens: Die friedliche Revolution und die damit ermöglichte Vereinigung Deutschlands sind das Ergebnis der umfassendsten demokratischen Aktivitäten in der Nachkriegsgeschichte Deutschlands. Der Herbst 1989 war durch das Handeln Millionen Ostdeutscher geprägt – ohne die Rolle von Einzelpersonen in Ost und West und der sich befreienden Länder des Ostblocks dabei zu leugnen – und belegt bis in die Gegenwart die Wirksamkeit des gemeinsamen demokratisch-freiheitlichen Handelns Vieler.

Rd. 40 Prozent der heute ab 35-jährigen Ostdeutschen nahmen 1989 persönlich an Demonstrationen, betrieblichen sowie örtlichen Protestveranstaltungen und Aktivitäten teil und erzwangen den Mauerfall und eine friedliche Neugestaltung. Insbesondere Bürger mit abgeschlossener beruflicher Bildung und die städtische Bevölkerung waren Träger der Aktivitäten. Nur 12 Prozent der ab 35-Jährigen geben heute an, seinerzeit gegen Aktivitäten genannter Art gewesen zu sein.

Die mit der friedlichen Revolution bewirkten Veränderungen sind vielseitig und fast alle Lebensbereiche der Menschen erfassend. So richtig die Aussage ist, dass sich seitdem das Leben, die Lebensqualität der Menschen verbessert haben, so richtig ist auch, dass es Bereiche gibt, in denen – und das keineswegs nur für Einzelne – Verschlechterungen eingetreten sind.

Die Fakten, die reale positive Veränderungen zum Ausdruck bringen, sind unumstritten. Aber es stehen sich nach wie vor Darstellungen gegenüber, die einerseits alles was bis 1989 geschah nur unter dem Blickwinkel ausgeübten Unrechts darstellen, während andererseits sich die Mehrheit der Bürger auf den gelebten Alltag mit seinen persönlichen Unvergesslichkeiten und nur z. T. auf Begrenzungen konzentriert.

Die Bewertungen sozialer Entwicklungen in den neuen Bundesländern seitens deren Bürger für den Zeitraum 1990 bis 2009 weisen im Wesentlichen vier unterschiedliche – jedoch im Verlauf fast deckungsgleiche – Phasen auf [2]:

  • Unmittelbar nach 1990 bis 1995 starker Zugewinn an allgemeiner Lebenszufriedenheit, steigende Hoffnungen und zunehmende positive Bewertung der individuellen wirtschaftlichen Lage beruhend auf den raschen, spürbaren Veränderungen des täglichen Lebens. Arbeitslosigkeit und noch nicht erreichte völlige Angleichung der Lebensverhältnisse werden als kurzzeitig zu überwindende „Nebenwirkungen des Vereinigungsprozesses“ betrachtet (Angleichungsphase).
  • Relative Stabilisierung der sozialen Entwicklungen und der erfolgten Bewertungen bis 2000 auf dem 1995 erreichten Niveau bei damit verbundenen sinkenden Hoffnungen auf rasche Angleichung. Negative soziale Entwicklungen, wie z. B. die Arbeitslosigkeit, werden inzwischen zunehmend als „individuelles Versagen“ und nicht als systembedingt erfasst (Stabilisierungsphase).
  • Im Zuge des von der rot-grünen Regierungskoalition in Gang gesetzten Reformwerkes (Agenda 2010, Gesundheits-, Renten-, Arbeitsmarktreformen) – von dem fast jeden Bürger betroffen ist – sowie der Euro-Umstellung erfolgte zwischen 2000 und 2003 eine rasche Abnahme sozialer Zufriedenheit gepaart mit steigenden Befürchtungen bezogen auf die Zukunft (Abschwungphase).
  • Nach 2003 folgen wechselnde, jeweils gering zunehmende bzw. abnehmende Bewertungen sozialer Entwicklungen mit einem insgesamt stagnierenden, zum Teil vorhandene Ungleichheiten erweiternden Angleichungsprozess (Stagnationsphase).

XXXXXXX Grafik

Insgesamt sind 2009[3]

  • 44 Prozent der Bürger der neuen Bundesländer (inkl. Berlin-Ost) mit ihrem Leben alles in allem zufrieden, 38 % teilweise zufrieden, 17 Prozent sind unzufrieden.
  • 32 Prozent bewerten ihre wirtschaftlichen Situation mit gut, 44 Prozent mit sowohl als auch und 25 Prozent mit schlecht; über die Hälfte der Befragten geht davon aus, dass es ihnen in fünf Jahren noch schlechter gehen wird.
  • In Bezug auf die weitere Entwicklung haben 10 Prozent vor allem Hoffnungen und 31 Prozent Befürchtungen, 54 Prozent haben sowohl Hoffnungen als auch Befürchtungen. Es wurde in den letzten Jahren ein Klima der Zukunftsverunsicherung erzeugt, welches nicht zuletzt auch die weitere soziale Integration der Ostdeutschen in die Gesellschaft behindert.

Zweitens: Die Deutsche Einheit hat für alle Bürger in den neuen Bundesländern Zugewinne – wenn auch in unterschiedlichem Maße und unterschiedlichen Bereichen – gebracht, aber auch neue soziale Gruppen geschaffen (Arbeitslose/von Armut Betroffene), für welche sich vor allem Verluste mit der deutschen Vereinigung verbinden. Vielen Menschen in den neuen Bundesländern fehlt inzwischen der Glaube an das Erreichen gleichwertiger Lebensverhältnisse nicht eng bezogen auf Einkommens- und Vermögensentwicklungen, sondern bezogen auf Chancengleichheit in Bildung und Ausbildung, auf dem Arbeitsmarkt, beim Zugang zu Kultur und gesundheitlicher Vorsorge und Betreuung sowie beim bürgerschaftlichen Engagement und Mitbestimmung.

An Stelle der DDR-Mangelwirtschaft, in der erzieltes Einkommen nicht in gewünschte Erzeugnisse umgesetzt werden konnte, ist inzwischen ein kaum überschaubares Angebot an Waren und Leistungen getreten. Man kann inzwischen alles kaufen, wer viel Geld hat, kann nicht nur mehr kaufen, sondern auch gesünder und kulturvoller leben. Die Qualität des Lebens ist Einkommens- und Vermögensabhängiger geworden.

Als 1990 im Ergebnis des Herbstes 1989 die Angleichung der Lebensverhältnisse bis 1996 im Einigungsvertrag fixiert wurde, ging sicher kaum jemand davon aus, dass 2009 im Koalitionsvertrag erneut vereinbart werden würde, „an der Zielstellung festzuhalten, die Lebensverhältnisse in Deutschland bis 2019 bundesweit weitgehend anzugleichen“[4] (was auch immer „weitgehend“ heißen mag).

Bereits im Oktober 1994 wurde im Grundgesetz bezüglich des Gesetzgebungsrechtes des Bundes die Orientierung auf „Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse“ in „Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse“ geändert[5]. Das Angleichungsniveau der Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse wurde 2009 qualitativ verändert, indem festgestellt wurde, dass es ein Erfolg wäre, „bis zum Jahr 2019 die ostdeutschen Länder auch wirtschaftlich an die strukturschwächeren westdeutschen Länder heranzuführen“[6], d. h. die Angleichung ist dann erreicht, wenn das beste neue Bundesland das unterste Level eines der alten Bundesländer erreicht hat.

Von den Ostdeutschen sehen im Jahr 2009 nur fünf Prozent keine und 14 Prozent nur noch geringe Unterschiede zwischen Ost und West, während 53 Prozent noch große Unterschiede erkennen, für 8 Prozent werden diese größer bzw. für 21 Prozent auch in 50 Jahren noch nicht überwunden sein. Insofern reflektieren die Auffassungen der Bürger Realitäten und offizielle Verlautbarungen. Positivere Wertungen – im Sinne von keine/geringe Unterschiede – geben vor allem Jüngere (27 Prozent), Hochschulabsolventen (22 Prozent) und höhere Einkommensbezieher (32 Prozent) ab. 50-bis 60Jährige sehen eher zunehmende bzw. unüberwindbare Unterschiede (34 Prozent) ebenso wie Arbeitslose (51 Prozent).

Wenn es 1989/1990 z. T. auch illusionäre Erwartungen an die weitere Entwicklung gab, die von der Politik auch genährt wurden („blühende Landschaften“), so wurden die ursprünglich vorhandenen Vorstellungen zur weiteren Entwicklung in vielen Bereichen erreicht, teilweise überboten. Mit „besser als 1989/90 erwartet“ finden vor allem das erreichte Waren-und Dienstleistungsangebot Anerkennung (72 Prozent), ebenso wie veränderte Wohnverhältnisse und -bedingungen (62 Prozent), die Gestaltung freiheitlich-demokratischer Verhältnisse (56 Prozent) sowie neuer Freiheiten in Bezug auf Reisen (61 Prozent) und eine selbstbestimmte Lebensgestaltung (52 Prozent). Mit „schlechter als erwartet“ werden die Einkommensentwicklung (41 Prozent), das Gesundheitswesen (44 Prozent), soziale Sicherheit und Gerechtigkeit (51 Prozent) sowie die Angleichung der Lebensverhältnisse generell (54 Prozent) bewertet.

Ostdeutsche sehen sich, bezogen auf den Zeitraum seit 1990, insgesamt als Gewinner (38 Prozent) und weniger als Verlierer (23 Prozent) bzw. stellen für sich sowohl Gewinne als auch Verluste fest (30 Prozent). Letztlich belegen detailliertere Untersuchungen, dass jeder Bürger der neuen Bundesländer Gewinne und Verluste hat, sich diese jedoch naturgemäß beim Einzelnen unterschiedlich proportionieren. Die spürbare Anhebung des Lebensniveaus ist verbunden mit zunehmender Differenzierung in den Lebenslagen. Soziale Polarisierungen führten zur Herausbildung neuer, bisher in den neuen Bundesländern unbekannter „Großgruppen“, die der besonderen Unterstützung und Hilfe bedürfen, weil durch sinkende bzw. stagnierende Einkommen eine zunehmende Erhöhung des Armutspotenzials zu beobachten ist.

Die einzelnen Sichten auf den Angleichungsprozess mögen unterschiedlich sein bzw. jeweils nur einen einzelnen Bereich betreffen, generell ist jedoch hervorzuheben, dass es insgesamt darum geht, keine pauschale „Angleichung“ zu fordern oder zu erwarten. Es wird immer offensichtlicher, dass es differenzierterer Strategien bedarf, um Richtung, Zeitpunkt und Wege zur Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse festzulegen bzw. um existente Unterschiede auch als „normal“ anzuerkennen. Pauschal zu fordern: Ost muss werden wie West ist kein Programm.

Das nachfolgende Tableau ist der Versuch,[7] die erreichten Ergebnisse – soweit möglich gemessen am Ausgangspunkt 1989 – aber auch deren Differenziertheit in den verschiedensten Lebensbereichen darzustellen. Dabei ist hervorzuheben, dass hinter geringen „Angleichungsquoten“ z. T. ein enormer Gewinn an Lebensqualität steht – so z. B. in der Lebenserwartung, welche in den neuen Bundesländern um 5 Jahre gestiegen ist, obwohl sich die Angleichungsquote nur gering veränderte.

Das Tableau kann im Einzelnen durchgegangen werden und belegt, dass jeder Indikator einer eigenen Interpretation bedarf. Daraus folgt aber auch, dass es differenzierender Festlegungen über den weiteren Integrationsprozess bedarf. Insofern ist denen zuzustimmen, die sich für einen Rahmenplan der Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse aussprechen. Noch nicht erreichte Angleichung wird mehrheitlich nicht mit allgemeiner Unzufriedenheit oder „Ostalgie“ oder „ostdeutscher Lamorianz“ verbunden, sondern mit empfundenen Begrenzungen von Möglichkeiten für Viele, eine Verbesserung der Lebensverhältnisse durch eigenes Handeln erreichen zu können. Entweder weil Arbeit fehlt und damit die Voraussetzung für ein der eigenen Leistung entsprechendes Einkommen oder weil – z.B. bei Senioren und künftigen Rentnern – eine fehlende hinreichende Alterssicherung nicht mehr rückwirkend erreicht werden kann.

Tabelle Angleichung der Lebensverhältnisse[8]
XXXXXX Tabelle

Drittens hat seit 1989 auch eine Positionsprüfung in Bezug auf Demokratie und demokratisches Verhalten stattgefunden. Der Herbst 1989 war eine Sternstunde der Demokratie mit hoher Mitwirkung und Interessenartikulation. Inzwischen gewinnt der Widerspruch zwischen Demokratie als Wert und Demokratierealisierung ein zunehmendes Gewicht.

Nach wie vor hat Demokratie einen hohen Stellenwert: 67 Prozent der Bürger der neuen Länder halten sie für sehr wichtig/wichtig und 10 Prozent für weniger bzw. unwichtig. Aber nur 11 Prozent sind mit der Demokratie zufrieden, und nur 11 Prozent mit ihrem eigenen politischen Einfluss.

So wie sich 1989 die Forderung nach mehr Demokratie vorrangig aber keineswegs nur auf Wahlen begrenzte, so gehen inzwischen die Bürger auf Distanz zu einer alles regelnden parlamentarischen Demokratie von Berlin bis Brüssel. Wahlen bedürfen der notwendigen Ergänzung durch plebiszitäre Elemente und Aktionen. Volksentscheide, Abstimmungen der Bürger zu Sachverhalten, die ihr Leben betreffen, sind im Grundgesetz verankert, aber in der Praxis werden sie eher stiefmütterlich behandelt, auf Bundesebene be- und auch verhindert. Nur 21 Prozent der Bürger reicht es völlig, alle vier bis fünf Jahre wählen zu gehen. 60 Prozent der Bürger wollen über Abstimmungen in Sachentscheidungen, die ihr Leben betreffen, einbezogen sein – Letztere gehen davon aus, dass man mit Volksabstimmungen viel bewegen könne (was allerdings z. T. im Widerspruch zur Teilnahme an Volksabstimmungen, ebenso wie der Wahlteilnahme steht).

Wenn in der Vergangenheit festgestellt wurde, dass in den neuen Bundesländern die Gefahr bestehe, dass sich bestimmte politische Einstellungen und Haltungen der Resignation und Zurückhaltung in der Partizipation dauerhaft verfestigen, so trifft dies nach wie vor zu. Der Rückzug in eine „Zuschauerdemokratie“, die sich auf reine Beobachter- und Kritikerpositionen begrenzt, der es aber auch weitgehend an Interessenartikulation, Konfliktaustragung und Nutzung von Chancen zur aktiveren Gestaltung der Verhältnisse mangelt, hält weiter an.

Es ist nicht zuletzt ein Ergebnis der Sozialreformpolitik, dass in immer stärkerem Maße festgestellt wird, dass sich der Wähler von den etablierten „Volksparteien“ abwendet, entweder hin zu Wählervereinigungen und kommunalen Bündnissen oder durch Verzicht auf die Ausübung des Wahlrechtes (Europawahl 2009/Bundestagswahl 2009). Der Glaube an die Aussagen von Politikern ist zunehmend verloren gegangen. Nur 0,4 Prozent glauben an Aussagen der Politiker vor der Wahl, 38 Prozent teilweise, 59 Prozent glauben ihnen nicht. Auch hier hat sich in den Jahren seit 1989 ein Wandel vollzogen, als im Osten Wahlversprechen noch fast blind vertraut wurden. Das wird nicht zuletzt gefördert durch eine von-Wahl-zu-Wahl-Politik, die bei wechselnden Koalitionen das zurücknimmt, was vorher z. T. von den gleichen politischen Kräften eingebracht und beschlossen wurde.

Die Entwicklung zu einem Fünf-Parteien-System mit unterschiedlichen Koalitionsmöglichkeiten führt zu einem Aufkommen personenbezogener Strukturen. Anstelle des Abgleichens von Politikfeldern treten Macht- und Führungsansprüche von Parteiführern, anstelle von Sachfragen stehen Beziehungsanimositäten, steht die Frage, wer mit wem kann oder nicht, im Vordergrund.

Dem entspricht, dass das Vertrauen in die politischen Institutionen insgesamt gering ist. Nicht einmal jeder fünfte Bürger hat volles bzw. viel Vertrauen zur Bundesregierung, zum Bundestag und den jeweiligen Landesregierungen, fast die Hälfte hat kein bzw. geringes Vertrauen. Im Gegensatz dazu wird den kommunalen Institutionen ein höheres Vertrauen entgegengebracht.

Oft wird den Ostdeutschen eine tief verinnerlichte Institutionenskepsis zugeschrieben, die mit der Überpolitisierung gesellschaftlicher Verhältnisse in der DDR begründet wird. Die nur schwache Verankerung der untersuchten gesellschaftlichen Institutionen wurde durch den Institutionentransfer im Einigungsprozess weiter verstärkt. Unter den hohen, an das neue System gestellten Erwartungen und dem Eindruck nicht eingelöster Versprechen einerseits sowie weiteren radikalen Eingriffen in die sozialen Sicherungssysteme wird sich die kritische und auf Distanz gehende Haltung weiter fortsetzen.

Viertens stehen die Bürger der neuen Bundesländer für eine Einheit der Grundwerte. Sie stellen nicht die Freiheit der Gerechtigkeit oder sozialen Sicherheit gegenüber, ebenso wenig wie sie ein „anstelle – von“ akzeptieren. Es gibt keine soziale Sicherheit ohne Freiheit, das belegen die Erfahrungen der DDR. Es gibt aber auch keine Freiheit ohne soziale Sicherheit und Gerechtigkeit.

Tabelle: Welcher der nachfolgenden Werte ist Ihnen wichtig?
(Angaben: neue Bundesländer in Prozent)
XXXXXX Tabelle

Die vorliegenden Untersuchungsergebnisse belegen, dass Soziale Sicherheit für 47 Prozent der ab 18-jährigen Bürger an erster Stelle steht, Freiheit für 42 Prozent und Gerechtigkeit für 41 Prozent, während Solidarität und Gleichheit inzwischen eher nachrangig sind. Die Positionen zu den Grundwerten sind stark altersspezifisch ausgeprägt. Jüngere Bürger geben der Freiheit, ältere Bürger der sozialen Sicherheit ein höheres Gewicht – beide Grundwerte verhalten sich in den Denkstrukturen scheinbar altersgegensätzlich.

Die 1989/90 öffentlich artikulierten und demonstrierend erkämpften Freiheitsrechte wurden zunächst als Freiheitsgewinne empfunden, die Erwartungen, die zu diesem Zeitpunkt fast ausschließlich aus Defiziten des DDR-Systems (im Vergleich zum Westen) resultierten, schienen für die Mehrheit der Bevölkerung mit der Vereinigung zunächst erfüllt. Erst allmählich begannen sich grundlegende Freiheitsgüter wie Arbeit und Zukunfts- sowie soziale Sicherheit für Teile der Bevölkerung als defizitär herauszustellen – nicht vorrangig im Vergleich zur DDR, sondern vor allem gemessen an ihren Erwartungen an das neue, vereinigte Deutschland (z. B. in Bezug auf freie Arbeitsplatz- und Berufswahl) und damit verbundene spezifische Lebensverhältnisse in den neuen Bundesländern.

Über die Grundwerte hinaus hat sich die Wertestruktur der Bürger der neuen Bundesländer weiter stabilisiert. An der Spitze stehen seit Jahren Arbeit (sie ist für 71 Prozent der 18-bis 60-Jährigen „sehr wichtig“; 2009), Einkommen sowie Wohnen (64 Prozent), gefolgt von Partnerschaft und Kindern (59 Prozent) als jene Bereiche, die von den Bürgern für ihr Leben als besonders wichtig angesehen werden.

Das sollte aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass es auch Entwicklungen gibt, die den freiheitlich-demokratischen Werten entgegenstehen. So gibt es durchaus Veranlassung, dass jeder Bürger seine Positionen zu Ausländern und rechtsextremen Auffassungen kritisch prüfen sollte. Oft ungewollt und unbewusst gibt es Denk- und Verhaltensmuster, die Spielräume für antidemokratisches Wirken geben. Das Verhalten gegenüber Ausländern im Osten ist kein Relikt der DDR, sondern begründet sich vor allem in der spezifischen Arbeitsmarktsituation (Furcht vor Arbeitsmigration) und ist auch nur mitgrundlegenden Änderungen in diesem Bereich zu mindern. Es sind auch keineswegs vorrangig die Jungen, welche sich ausländerunfreundlich verhalten.

Fünftens: Die Mehrheit der Ostdeutschen fühlt sich (noch) nicht hinreichend integriert. Integration heißt, nicht nur wirtschaftlich integriert zu werden (oder nicht), sondern heißt auch, anders gelebtes Leben mit anderen Wertvorstellungen, anderen sozialen Strukturen und sich unterscheidender kultureller Vielfalt anzuerkennen.

So wird im Jahresbericht der Bundesregierung „Zum Stand der Deutschen Einheit 2009“ völlig richtig festgestellt, dass „es noch immer Defizite bei der inneren Einheit gibt“, dass es notwendig sei, „Fortschritte bei der gesellschaftlichen und sozialen Einheit zu erzielen. Hierzu zählen gegenseitige Anerkennung, Respekt und Verständnis für unterschiedliche Positionen, Überzeugungen und Lebensleistungen“.[9]

Begrenzte wirtschaftliche Integration, eine kulturelle Integration, die „Anderssein“ und „Andersdenken“ nicht akzeptiert, sondern eine „Leitkultur“ einfordert, eine soziale und politische Integration, die soziale Ungleichheiten in einem Maße „stabilisiert“, dass nach wie vor zwei Teilgesellschaften existieren – all das behindert die Identifikation des einzelnen Bürgers im Osten mit den veränderten Verhältnissen und schafft soziales Konfliktpotenzial. Es ist auch für Ostdeutsche keine neue Erfahrung, dass wirtschaftliche Entwicklungen die soziale Stabilität und damit verbunden langfristig die politische Stabilität festigen, aber auch gefährden können.

Dass keine hinreichende Integration der Menschen in die neue Gesellschaft erreicht wurde, ist nicht zuletzt ein Ergebnis einseitiger Interpretationen des Lebens in der DDR, der Abwertung von Lebensbiografien vieler Bürger der neuen Länder und einer nach wie vor existenten Ungleichbehandlung in beiden Teilgesellschaften. So fühlen sich 47 Prozent der Bürger „stark“ mit der Bundesrepublik verbunden, 40 Prozent wenig und 10 Prozent gar nicht, u. a. aufgrund einer für sie nicht hinreichenden Anerkennung ihrer Lebensaktivitäten.

Anerkennung hat aus Sicht der Ostdeutschen drei Aspekte: bezogen auf ihr Leben in der DDR, bezogen auf ihre historischen Leistungen im Herbst und im Frühjahr 1989/1990 und bezogen auf die von ihnen bewirkten wirtschaftlichen, politischen und damit verbundenen sozialen Entwicklungen seit 1990. Die Anerkennung des Lebens in der DDR, als selbstbewusstes Leben, das kein unrechtes Leben war, steht bei großen Teilen der Politik und der ihre Auffassungen reflektierenden Medien noch aus. Nur rd. ein Drittel der ab 35-jährigen Bürger fühlt sich hinsichtlich ihres Lebens in der DDR anerkannt, ein Drittel „teilweise“. Dazu tragen nicht zuletzt einseitige Darstellungen des Lebens in den Jahren vor 1989 bei, die sich mehrheitlich nicht mit den gelebten Erfahrungen decken.

Auf die politisch-demokratischen Aktivitäten der Bürger im Herbst/Frühjahr 1989/1990 und den Stellenwert für die deutsche Einheit und das Selbstbewusstsein der Bürger wurde schon eingangs hingewiesen. Im Besonderen seien jedoch die Umstellungs- und Anpassungsleistungen seit 1990 hervorgehoben:

  • Der Anteil von Bürgern mit grundlegend veränderten/sich ändernden Erwerbs-, Berufs-, Einkommens- und betrieblichen Beziehungsstrukturen seit 1990 ist nahezu hundertprozentig. Der erfolgte soziale Umbruch beruht auf völlig neuen Wirtschafts- und Erwerbsstrukturen, die im Ergebnis der Wirtschaftsunion hergestellt wurden. Die veränderten Arbeitsverhältnisse und -bedingungen gehörten/gehören zu den radikalsten und vom Einzelnen am wenigsten beeinflussbaren Veränderungen.
  • 67 Prozent der heute 35- bis 60-Jährigen verfügen inzwischen über eigene Erfahrungen mit Arbeitslosigkeit von durchschnittlich 34 Monaten. 2,7 Millionen Bürger haben seit 1990 die neuen Länder Richtung Westen verlassen. Insbesondere junge Frauen mussten der Arbeit hinterher ziehen. 400.000 pendeln täglich/wöchentlich in die alten Länder. Das alles widerlegt die oft zitierte These von der fehlenden Flexibilität und Mobilität der Ostdeutschen. Von den Daheimgebliebenen übten bereits 1999 rd. 42 Prozent eine im Vergleich zum erlernten Beruf grundlegend andere Tätigkeit aus.
  • Hinzu kommen auch die enormen Anpassungsleistungen, die durch ein völlig anderes Sozialrecht, andere Bildungswege und zunehmende soziale Unterschiede erzwungen wurden. Die Sozialgesetzgebung der Bundesrepublik wurde als bewährt und für nicht reformbedürftig erklärt und für Ostdeutschland übernommen. So wurden10 mit dem Einigungsvertrag 777 bundesdeutsche Rechtsvorschriften (fast alle für DDR-Bürger unbekannt) in Kraft gesetzt und 237 Rechtsvorschriften der DDR erheblich verändert; von April 1990 bis Oktober 1990 wurden rd. 300 neue Gesetze und Verordnungen erlassen, die das Leben der DDR-Bürger beeinflussten. Bis in die Gegenwart bestehen in bestimmten Bereichen (Rentenrecht) zwei Rechtsgebiete bzw. Tarifgebiete.

Das Leben mit völlig veränderten Rechtsgrundlagen und die Aneignung dazu erforderlicher Grundkenntnisse waren eine einmalige Anpassungs- und Integrationsleistung der Bürger der neuen Bundesländer.

Die genannten Entwicklungen tragen maßgeblich dazu bei, dass sich nur 25 Prozent der Bürger der neuen Bundesländer als „richtige Bundesbürger“ fühlen, 10 Prozent die DDR wiederhaben wollen und 60 Prozent mit „weder – noch“ antworten. Das ist seit 1997 ein Anstieg erreichter Integration von 16 auf 25 Prozent. Es sind als Ergebnis einer veränderten gesellschaftlichen Sozialisation vor allem die jüngeren Jahrgänge, welche sich zu 41 Prozent als richtige Bundesbürger fühlen (im Gegensatz zur Altersgruppe 50 bis 60 Jahre, in der sich nur 13 Prozent als vollwertige Bundesbürger fühlen – darunter 47 Prozent der Besserverdienenden). Arbeitslose wollen zu 26 Prozent, in prekären Arbeitsverhältnissen Tätige zu 24 Prozent die DDR wiederhaben. Natürlich will – von Ausnahmen abgesehen – de facto niemand die DDR wiederhaben, sondern Arbeit und ein auf eigener Arbeit beruhendes Einkommen.

Insgesamt sind die Entwicklungen in Ostdeutschland durch unterschiedliche, zum Teil gegensätzliche Momente charakterisiert. Neben Bevölkerungsrückgang stehen Einkommenszuwächse (besonders bis 2000), neben steigender Lebenserwartung und verlängertem Seniorendasein sinkende Rentenzahlbeträge bei Neurentnern, neben sinkenden Schülerzahlen ansteigende Haushaltsausstattungen. Wenn jedoch bilanziert wird, dann darf sich diese Bilanz nicht auf Wirtschaft und Einkommen begrenzen, sondern muss die seit 1989/90 gezeigten Aktivitäten, die den Vereinigungsprozess letztlich ermöglichten, ebenso wie die durchlebten Umstellungs- und Anpassungsprozesse einschließen. Die Ostdeutschen haben allen Grund, auf diese, ihre eigene Leistungen stolz zu sein.

* Dem Beitrag liegt eine ausführliche Darstellung des Autors zugrunde: „20 Jahre später – 1989 bis 2009 – Die friedliche Revolution und ihre Ergebnisse“, herausgegeben vom Sozialwissenschaftlichen Forschungszentrum Berlin-Brandenburg e.V., November 2009, 300 Seiten, zu beziehen über das SFZ.

[1] Die verwendeten Daten beruhen auf der seit Januar 1990 jährlich durchgeführten repräsentativen empirischen Erhebung „Leben in den neuen Bundesländern“ seitens des Sozialwissenschaftlichen Forschungszentrums Berlin-Brandenburg e. V.

[2] Datenbasis: sfz/leben 1990-2009 (gew.).

[3] Datenbasis: sfz/leben 2009 (gew.).

[4] Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und FDP – 17. Legislaturperiode, Oktober 2009.

[5] Grundgesetzänderung des Artikels 72 (2) vom 27.10.1994.

[6] Vgl. Jahresbericht der Bundesregierung zum Stand der Deutschen Einheit 2009, Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung, Berlin, 10. Juni 2009, S 7.

[7] Vgl. hierzu auch bezogen auf ökonomische Parameter: Busch, Ullrich/Kühn, Wolfgang/Steinitz, Klaus: Entwicklung und Schrumpfung in Ostdeutschland, VSA Verlag 2009, S. 129/130.

[8] Tabelle im Detail mit absoluten Zahlen und Bezugsgrößen in Gunnar Winkler: 20 Jahre später 1989 bis 2009… a.a.O., S. 280/281.

[9] Vgl. Jahresbericht der Bundesregierung zum Stand der Deutschen Einheit 2009, a.a.O., S. 30.

[10] Vgl. Bönniger, K.: Statement, in: Von der Einigung zur Einheit, Düsseldorf 1991, S. 17.

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