Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 204: (Un)Kontrollierbar? Probleme der Steuerung von Polizeihandeln

Wie man vom „Dienst­leister“ erst zum Helden und dann zum lästigen Übel wird

Die Hamburger Polizei im Jahreswechsel 2013/2014. Gleichzeitig eine Kritik der Hamburger Gefahrengebiete. Aus: vorgänge Nr. 204 (4-2013), S. 74-81

Die Ausrufung der Hamburger Gefahrengebiete zum Jahreswechsel 2013/ 2014 hat erneut gezeigt, dass die Entstehungsbedingungen von Gewalt beispielsweise zwischen Demonstrant_innen und Polizeibeamt_innen nicht analysiert, sondern strategisch ausgeblendet werden. Damit nimmt eine Selbstinszenierung als „Law-and-Order“-Polizei dramatische Züge an, vor allem wenn sie dann noch politische Rückendeckung erhält.

Der einigermaßen wache Souverän, der sich nicht einlullen lassen will vom Pathos der politischen Rechtfertigungsrede, von medialem Alarmismus und gewerkschaftlicher Larmoyanz, fragt sich, auch nach des Innensenators eindringlichen Worten zu Beginn dieses Jahres, die dieses Nachdenken geradezu lächerlich erscheinen lassen: Muss es ein Gefahrengebiet geben, um (zuallererst) Polizist_innen zu schützen? Sind wir schon im Bürgerkrieg? Brauchen wir „Sonderzonen“, in denen die Unschuldsvermutung suspendiert ist und die Metapher von der „Disziplinargesellschaft“, die zur „Kontrollgesellschaft“ mutiert ist (vgl. Lindenberg/Schmidt-Semisch 1995), nunmehr polizeiliche Wirklichkeit wurde?

Ich habe in meinem früheren Leben als Polizeischüler noch den Grundsatz aus der „Polizeidienstvorschrift“ (PDV) gelernt: „Die Polizei sichert sich selbst und schützt andere“. Damit waren Grundsätze der Eigensicherung gemeint, die man natürlich schon immer zu beachten hatte. Heute amalgamiert „Eigensicherung“ mit „Besatzungszone“ und das scheint mir kein „Unfall der Geschichte“ zu sein, sondern eine folgerichtige Konsequenz aus der im Wesentlichen durch die Berufsvertretungen geschürten Hysterie, dass Polizist_innen heute immer mehr zu Opfern werden. In dieser Mischung aus eigenartiger Lagebeurteilung und Opfer-Mythos entstehen Wünsche nach einer Wiedererstarkung, die nur erreicht werden kann, wenn eine vollständige Kontrolle des öffentlichen Raumes sichergestellt ist. Das wirft ein eigenartiges Bild auf die Polizei und deshalb muss man als Polizeikulturforscher diese Vorgänge kommentieren.

Worüber reden wir?

Eine Demonstration am 21. Dezember 2013 in Hamburg lief früh aus dem Ruder, es gab Verletzte auf beiden Seiten, einige Tage später wurde noch ein Polizeibeamter in der Nähe der „Davidwache“ schwer verletzt und in dieser Zeit wurden polizeiliche Helden kreiert[1]. Die Verantwortlichen für die Gewalt waren schnell ausgemacht, nicht nur vom zuständigen Senator und der Polizei nebst ihren Gewerkschaften. Auch die Medien – namentlicher eine große Hamburger Tageszeitung – die viel später erst erkannten, dass sie, besonders in den ersten Tagen der Berichterstattung, wohl doch eher die Sicht der polizeilichen Presse- und Öffentlichkeitsarbeit übernommen hatten, als eine eigene journalistische Position dazu zu suchen, präsentierten sehr schnell ein Täter_innenprofil; es war nicht besonders differenziert, aber es eignete sich, um Menschen und Gruppen zu markieren, die offenbar „anders“ waren als die anderen (Hamburger_innen, Deutschen, Demokrat_innen). Dies nannte in der taz vom 18. Januar 2014 ein Teilnehmer an den demonstrativen Aktionen im Nachhinein „Pickelhauben-Journalismus“.

Auch für den obersten Dienstherrn der Polizei schien völlig klar zu sein, dass die Gewalt ausschließlich von den Teilnehmer_innen der Demonstration ausging[2]. Zwischen dem 21. Dezember 2013 (dem Tag der Demonstration mit dem Titel „Selbstorganisierung statt Repression! Refugee-Bleiberecht, Esso-Häuser und Rote Flora durchsetzen!“ und für und gegen alles Mögliche) und dem 04. Januar 2014 (dem Tag der Ausrufung der Gefahrengebiete[3]) gab es im Wesentlichen nur noch zwei Positionen im Koordinatensystem der bürgerlichen Parteien Hamburgs, des Hamburger Abendblatts, der Polizeigewerkschaften und vieler anderer auch: „gewaltbereite Chaoten“ auf der einen und „verletzte Polizisten“ auf der anderen Seite. Das Themenfeld „Gewalt von und an der Polizei“ wurde dabei ebenso strategisch ausgeblendet wie die Suche nach Kausalbeziehungen und den Entstehungsbedingungen von Gewalt.

Wie schnell aus „Held_innen der öffent­li­chen Sicherheit“ wieder „Law-an­d-Or­der-­Po­li­zist_innen“ und aus „Bürger_innen“ wieder „Herr­schafts­un­ter­wor­fene“ werden: das „Gefah­ren­ge­biet“ als Lackmustest für die Idee einer „Polizei in der Gesell­schaft“

Unmittelbar nach der Demonstration am 21. Dezember 2013 wurden zunächst 120 Polizeibeamt_innen als Opfer von „linker“ bzw. „autonomer“ bzw. „Chaoten“-Gewalt gezählt[4], später wurde die Zahl zunächst mit 158 verletzten Beamt_innen angegeben[5], zum Schluss waren es schließlich 169 bzw. 171 registrierte Verletzte[6]. Fortan war, wer die Verletztenzahl entweder in Frage stellte oder sie mit Verletztenzahlen auf der Demonstrant_innenseite in Verbindung brachte, quasi vom öffentlichen Diskurs ausgeschlossen, schon weil der Innensenator sagte, dass sich die Schuldfrage für die Gewalt nicht stelle. Es gab also für einige Zeit quasi eine Teilung in „gute Verletzte“, denen das öffentliche Mitgefühl gehörte, und weniger gute Verletzte, deren Existenz in Frage gestellt wurde (der stellvertretende Polizeipräsident sprach einige Wochen danach noch davon, dass das völlig unbewiesene Zahlen seien) oder deren Schmerz ihnen selbst zugeschrieben wurde und deshalb öffentlich nicht thematisiert werden musste.

Die hohe Zahl an Verletzten alleine reichte aber für eine öffentliche Empörung noch nicht gänzlich aus. Dazu kam ein Vorfall am 28. Dezember 2013 vor der sogenannten „Davidwache“ auf der Hamburger Reeperbahn. Mit diesem Tag änderte sich die öffentliche Meinung. Denn jetzt war von einem Angriff auf ein Polizeikommissariat die Rede, und von drei schwerverletzten Polizisten. Danach brachen alle Dämme der Zurückhaltung. Die Wirkung wurde erzielt, weil nun psychologisch eine Kausalbeziehung zwischen dem schwer verletzten Polizisten an der Davidwache und den 169 (oder 171) verletzten Polizist_innen rund um die Demonstration hergestellt werden konnte. Es bedurfte keiner dramatisierenden, aber auch keiner relativierenden Bilder mehr: der Nasenbeinbruch und andere Verletzungen bei einem Polizisten waren nun übertragbar und standen sinnbildlich für die verbrecherische Energie der „autonomen Chaoten“ und für das Leid aller verletzten Polizist_innen. Der Heldenmythos speiste sich dieses Mal aus der selbst erlebten oder der berichteten Gefahr und den selbst erlebten oder berichteten Verletzungen. Die Verletzbarkeit der Polizist_innen (und damit die der Polizei) geriet ins Zentrum des Heroismus-Diskurses. Das heroische „Opfer bringen“ und das bloße „Opfer sein“ fielen zusammen.

Die Stilisierung von Polizist_innen als bloße Opfer von Gewalt bleibt eine – zwar gut gemeinte, aber dennoch kontraproduktive – Zuschreibung, die auf Mitleid zielt, während im Zentrum der Selbstzuschreibung von street-cops das Heroische (Wagener 2012) steht, für das man im Idealfall Bewunderung, mindestens aber Anerkennung erwarten kann (oft verwechselt mit „Respekt“, aber das ist ein anderes Thema). Das polizeilich-gesellschaftliche Dilemma dieser Tage bestand darin, dass Polizist_innen gleichzeitig als Vertreter des staatlichen Gewaltmonopols und als verletzbare Menschen erschienen.

„Gefahrengebiete“ zum Schutz der Polizei einzurichten, halte ich für absurd. Worin besteht die „Gefahr“? Geht von dem Gebiet, also von der Topographie, eine Gefahr aus und wenn ja, für wen? Für die Bevölkerung, für die Polizei, für die Freiheit, für den Frieden? Oder geht von den Menschen in diesem Gebiet eine Gefahr aus, und wenn ja, von wem genau? Menschen, die dort wohnen oder Menschen, die sich dort aufhalten? Oder besteht nun eine größere Gefahr, weil das Gebiet „Gefahrengebiet“ genannt wird? Was ist die Botschaft an diejenigen, die nicht im Gefahrengebiet zuhause sind? Meiden oder hingehen? Meine Nichte, zugegebenermaßen Soziologiestudentin und als solche geradezu verpflichtet, sozialen Protest und seine Folgen dort zu erleben, wo er real stattfindet, verabredete sich in diesen Tagen mit ihrem Freund in Hamburg, um sich den „event in der danger zone“ anzuschauen. Kann man es ihr verdenken?

Die im Gefahrengebiet gefundenen Utensilien (Masken, Böller, Stichwerkzeuge) machten nicht den Eindruck, als seien sie geeignet, das staatliche Gewaltmonopol substanziell anzugreifen. Immer unter der Prämisse, es gibt keine weiteren Geheiminformationen, bin ich sicher, dass die Einrichtung eines Gefahrengebietes in Hamburg-Billstedt, in bestimmten Gegenden von Harburg/Wilhelmsburg oder anderen weniger gut beleumundeten Stadtteilen Hamburgs, sehr viel mehr Waffen und verbotene Dinge zutage gefördert hätte, als im Schanzenviertel.

Das Gefahrengebiet verändert das Verhältnis Polizei – Bevölkerung. Nunmehr müssen Polizist_innen eine Kontrolle nicht mehr begründen, auch nicht „pro forma“. Sie können nun kontrollieren, weil sie es dürfen, nicht weil sie einen Verdacht haben. Im Gefahrengebiet kommt es quasi zu einer Umkehr polizeilicher Kontrolllogik: die Kontrolle wird zum Normalfall, die Nicht-Kontrolle wird zur Ausnahme. Jeder Polizist und jede Polizistin kann eine Kontrolle damit begründen, dass er oder sie es kann und darf. Alle Menschen, die nicht augenscheinlich durch das Raster fallen (Kleinkinder, Greise, Mütter mit Kinderwagen, Menschen mit Designerkleidern etc.), können nun einer optischen Kontrolle unterzogen werden. Dieser radikale Zuwachs an Kontrollmöglichkeit führt zur Hybris, was die Einschreitschwelle betrifft. Die Gewissheit, jeden Menschen zu jeder Zeit kontrollieren zu dürfen, macht Omnipotenzgefühle, ob die Einzelnen wollen oder nicht. Und zwar nicht nur individuell oder in Kleingruppen, sondern auch institutionell.

Der Kompetenzzuwachs auf der Handlungsebene erhöht den Kontrolldruck und damit die Disposition zu Fehleinschätzung und Übergriffigkeit (man stellt z.B. bei gefundenen Toilettenbürsten einen Zusammenhang zur Gewalt her und prüft deren Sicherstellung, darauf reagiert die Bevölkerung und die Klobürste wird zum Symbol der Verächtlichmachung der Polizei). Man braucht als Polizist_in im Gefahrengebiet weder polizeilich-kriminalistische Erfahrung noch eine professionelle Begründung für Verdachtsschöpfung. Das eigentlich Gefährliche am Gefahrengebiet liegt m.E. in dem Umstand, dass die Polizei (fast) jede Person kontrollieren kann und damit das Verhältnis Bürger_in – Polizei ruiniert. Wichtiger finde ich die Folgen auf der Strukturebene: die Einsatzleitung der Polizei fühlt sich in der Lage, ganze Stadtteile (nicht nur Vergnügungsviertel, die schon immer Gefahrengebiete sind) unter ihre Kontrolllogik zu bringen. Man muss lediglich die Politik davon informieren, dass es nicht ohne Steigerung des Kontrolldrucks geht. Das hat die Hamburger Polizeiführung vorexerziert.

Die Bürger_innen geraten in diesem gesellschaftlichen Klima vom Souverän zu „Störer_innen“. In der Gefahrenzone wird schon die Frage nach dem Grund der Kontrolle zur Provokation und Provokation dokumentiert in der schlichten Denkfigur einiger „Die-Gewalt-wird-immer-schlimmer“-Protagonist_innen Respektlosigkeit. Respektverlust ist identisch mit Beleidigungen und Beleidigungen sind (zumindest in der Terminologie der Polizei-Gewerkschaften) Gewalt. Aus der Reformära der 1990er Jahre haben sich Ideale eines „Polizierens aus der Mitte der Gesellschaft“ bis heute – zumindest rhetorisch – hinübergerettet. Die Bevölkerung wurde als „Kunde“ einer Polizei betrachtet, die nicht mehr Herrschaftssicherung betreibt, sondern ein „Dienstleistungsunternehmen für öffentliche Sicherheit“ geworden ist; in einigen Bundesländern wurde der Begriff „Bürgerpolizei“ sehr hoch besetzt.

Und heute? Mit dem Gefahrengebiet wird sichtbar, dass diese bemühte Freundlichkeit sofort suspendiert werden kann. Statt einer „Polizei in der Gesellschaft“ erleben wir eine „Polizei ohne Gesellschaft“. Sie verzichtet auf den Konsens, auch auf Auseinandersetzung, auch auf Kommunikation. Es ist ihr genug, wenn ihre Berufsvertretungen die Imagekampagnen erledigen und wenn das konservativ-bürgerliche Milieu klatscht.

„Gesellschaft“ ist dann nur noch, wer ihr zustimmt und ihr Handeln gutheißt. Ganze Stadtteile werden dagegen als „gefährlich“ eingestuft, als fremd allemal, und die Menschen dort sind alle potentielle „Gefährder_innen“ und „Störer_innen“.

Wie polizei­liche Vulne­ra­bi­li­täts­r­he­torik zum Anstieg von Gewalt führt und warum man Grund hat, den 1990er Jahren hinterher zu trauern

Zwei Effekte hat die „Vulnerabilisierungskampagne“ der Polizeigewerkschaften: 1. Die eigene Gewaltsamkeit gerät völlig aus dem Blick (es gibt Zeiten, da darf man auch als Außenstehende_r nicht über die Gewalt der Polizei sprechen, ohne sofort als Sympathisant_in der Gewalttäter_innen zu gelten). 2. Die Gesellschaft wird – trotz zahlreicher Aufkleber, die bezeugen, dass man gegen Gewalt sei – zunehmend als feindlich gesinnt wahrgenommen, weil diejenigen, die sich mit Solidaritätsaufklebern versehen oder auf Facebook angeklickt haben, dass sie mit der Polizei solidarisch sind, eben nicht zur „Konfrontationsklientel“ gehören, sondern lediglich virtuelle „Kunden“ der Polizist_innen darstellen. Zu Gesicht bekommen die Polizist_innen aber, besonders in Zeiten der politischen Spannungen, diejenigen, die es noch wagen, gegen die Politik (und gegen die Polizei) auf die Straße zu gehen oder sich sonstwie polizeilichen Weisungen zu widersetzen. Und diejenigen haben oft wenig Sympathie und unterliegen zudem einer „Radikalisierungsdynamik“ (was im Übrigen für alle Akteur_innen gilt). Polizist_innen ziehen sich in der Auseinandersetzung mit kritischer Öffentlichkeit zunehmend auf Positionen und auf soziale Kontakte zurück, die ihnen Sicherheit suggerieren. Das sind vor allem die Kolleg_innen, die selbst verunsichert über ihre Wertschätzung in der Bevölkerung sind. So rauft man sich zusammen und in diesen Zeiten entwickelt sich so etwas wie eine „Tribalisierung“ der Polizei, besonders unter jüngeren Polizist_innen ist das zu beobachten. Es ist mehr als nur „defensive Solidarität“, wie es Thomas Ohlemacher (2006) nennt, es ist schon eine Art „Rückzug in den eigenen Stamm“.

Die Polizei wird zur Ersatz-Familie und verspricht den jungen Polizist_innen im Innen Ordnung, wo im Außen nur Unordnung und Ablehnung zu bekommen ist. Das ist ein typisches Anzeichen einer Entfremdung von der Zivilgesellschaft. Ich will nicht behaupten, dass das durchgängig so ist und so bleibt, aber mich hat erstaunt, wie schnell es geht.

Das hohe Ansehen der Institution Polizei in der Bevölkerung resultierte bislang gerade nicht aus Stärke- und Gewaltdemonstrationen, sondern aus deren Verzicht. Denn nicht Angst vor einer gewalttätigen Polizei führt zu Ansehen, sondern Akzeptanz und/oder Wertschätzung für ein Handeln mit Augenmaß. Darauf könnte die deutsche Polizei mit Recht stolz sein, sie riskiert aber diese Wertschätzung durch ein zu rustikales Auftreten als „Staatsmacht“.

Ich bin eigentlich mit dem maßvollen Einsatz staatlicher Gewalt im Großen und Ganzen zufrieden und sage auch meinen Studierenden oft, dass es eine demokratische Polizei ausmacht, dass sie nicht alles das, was technisch geht, auch tut – „nicht alles, was man tun könnte, soll man auch tun dürfen“.

Eine „richtige“ Polizei in einer „falschen“ Gesell­schaft?

Man hätte sich ja durchaus eine Position der Gewerkschaften vorstellen können, die kritisch mit der Frage der polizeilichen Einsatzkonzeption umgeht. Man hätte z.B. fragen können, ob es tatsächlich klug und fürsorglich war, Beweissicherungs- und Festnahmeeinheiten (BFE) in die aufgebrachte Menge zu schicken, kurz nachdem die Demonstration verboten wurde, und zwar direkt in den sogenannten „Schwarzen Block“. Es waren Widerstand und Gegengewalt zu erwarten. Hätte man der BFE nicht zutrauen müssen (oder können), dass sie Straftäter_innen verfolgt, bis es eine weniger martialische Machtdemonstration braucht? Doch werden solche Einsatzfragen nie kritisch hinterfragt. Wenn es den Gewerkschaften nur um das Wohl der Kolleg_innen gehen würde, hätten sie das Verhalten der Einsatzleitung genauso distanziert-kritisch beurteilen müssen wie die Aktionen auf Demonstrant_innenseite.

Das Umgekehrte war der Fall. Mit der „Co-Expertise“ der Gewerkschaften, die quasi eigene Interpretationen des Einsatzablaufs lieferten und auch schon künftige polizeiliche Maßnahmen andeuteten – Herr Kirsch von der GdP „warnte“ vor einer Situation in der Polizist_innen von der Schusswaffe Gebrauch machen müssten – , erhöhte sich der moralische Impetus in der Debatte. Der Innensenator gerierte sich als der Senator seiner Polizist_innen.

Auf dem Fußballfeld würde man sagen, die Gewerkschaften wurden zu den „Ultras“ in der Polizei, die die Wut- und Schlachtengesänge gegen „linke Chaoten“ anstimmten, in die die Medien und zahlreiche Bürger_innen der Stadt gern mit einstimmten. In alter Manier wurden alle, die nicht für die Polizei waren, zu deren Gegner_innen stilisiert. Das Getöse um verletzte Polizist_innen entzündete sich an drei Verletzten an der „Davidwache“ und schlug sofort als Stimmung in die gesamte Berichterstattung um.

Die Frage nach den genauen Zahlen, nach den Ursachen und den Schweregraden der Verletzten war genauso unmoralisch wie der Hinweis, dass es auch auf der Aktivist_innenseite zahlreiche Verletzte gegeben hat – die sich oft nicht mehr wagen eine Anzeige zu erstatten, weil sie mit Gegenanzeigen überzogen werden. Die Medienpräsenz der Gewerkschaften führte dazu, dass jede Kritik an der Einsatzstrategie der Polizei und eine Kritik der Einsatzleitung unterblieb. Das nenne ich das polizeilich-gewerkschaftliche Arbeitsbündnis bei der Sicherung der Deutungshoheit der Polizei. Wie so oft zeigte sich, dass Polizeigewerkschaften in erster Linie Lobbyisten sind, die nicht nur die Interessen ihrer Mitglieder vertreten, sondern auch sehr wirkungsvoll Stimmungspolitik betreiben.

Wir haben allen Grund, die vielen Unsicherheiten, denen sich gerade junge Polizist_innen ausgesetzt sehen, ernst zu nehmen und durch eine adäquate Berufsvorbereitung bzw. Berufsbegleitung zu bearbeiten. Und man wird die vielen kleinen und großen Konflikte um Wertschätzung in der Polizei selbst und durch Polizist_innen (auf der Ausführungs- und auf der Führungsebene) beheben müssen, um einen Ausweg aus dem Respekt-Dilemma zu finden. Es reicht jedenfalls nicht aus, Respekt von der Bevölkerung einzufordern und zu postulieren, dass man als Polizei alles richtig macht, aber die Gesellschaft das leider nicht einsieht. Es reicht auch nicht, immer wieder „Keine Gewalt gegen Polizist_innen“ zu fordern, ohne über die eigene Gewalt nachzudenken.

In der Konsequenz bedeutet das Selbstaffirmation in jeder Beziehung. Wir hätten dann nämlich eine richtige (und in der Folge: unantastbare) Polizei und eine falsche Gesellschaft. Folgerichtig müsste sich die Gesellschaft ändern, nicht die Polizei. So absurd das auch klingt, so ernst wird diese Forderung in einigen Köpfen der Polizei und insbesondere in den Gewerkschaften bewegt. Das eine dürfte schwer werden, das andere – die Veränderung der Polizei – aber auch. Für einen Veränderungswillen gibt es nach den Hamburger Ereignissen keine Anzeichen. Für Selbstaffirmation und Legitimation des eigenen Handelns dafür umso mehr. Es gibt nach meiner Wahrnehmung wieder Grund zur Sorge, dass die Hamburger Polizei(führung) recht autonom bestimmt, was polizeipolitisch sinnvoll ist und was nicht. Wenn es stimmt, dass die Entscheidung, ein Gefahrengebiet einzurichten, vom ranghöchsten Einsatzleiter der Hamburger Polizei getroffen wurde, der das mit dem stellvertretenden Polizeipräsidenten abgestimmt und dieser den Staatsrat informiert hat, dann deutet das auf einen zu hohen Machtfaktor der Exekutive hin. Wenn die politische „erste Reihe“ (Polizeipräsident und Innensenator) erst im Nachhinein informiert worden ist und das schon Vollzogene, wenn man den Medien glauben darf, nur noch politisch legitimieren konnte, dann stimmt etwas nicht im Stadtstaat Hamburg.

RAFAEL BEHR   Jg. 1958, ist seit 2008 Professor für Polizeiwissenschaften am Fachhochschulbereich der Akademie der Polizei Hamburg. Nach 15 Jahren Dienst bei der Hessischen Polizei studierte er Soziologie in Frankfurt am Main und arbeitet u.a dort als Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fachbereich Erziehungswissenschaften. Promotion über den „Alltag des Gewaltmonopols“ (erschienen als „Cop Culture“ in der 2. Auflage 2008) und zahlreiche Veröffentlichungen zu Themen der Organisationskultur im Sicherheitsbereich.

Anmerkungen

[1] Einen informativen und sachlichen Überblick über die Geschehnisse gibt Wikipedia unter
http://de.wikipedia.org/wiki/Demonstrationen_in_Hamburg_am_21._Dezember_2013 (25.1.14).

[2] „Die Schuldfrage stellt sich überhaupt nicht“, sagte Innensenator Neumann vor dem Innenausschuss am 4.1.14, vgl. http://www.abendblatt.de/hamburg/article123609171/Innensenator-Neumann-nimmt-Polizei-in-Schutz.html (06.01.14).

[3] Vgl. http://www.presseportal.de/polizeipresse/pm/6337/2632317/pol-hh-140103-3-wiederholteangriffe-auf-polizeibeamte-und-polizeiliche-einrichtungen-polizei (01.02.14)

[4] So etwa von Spiegel Online berichtet, vgl. http://www.spiegel.de/panorama/gesellschaft/rote-flora-in-hamburg-dutzende-verletzte-nach-krawallen-a-940508.html (22.12.13)

[5] Vgl. http://www.abendblatt.de/hamburg/altona/article123344316/Zahl-der-verletzten-Polizistenauf-158-erhoeht.html (2.2.14)

[6] Vgl. Anm. 1.

Literatur

Rafael Behr, „Gewalt“ und „Zwang“ – Überlegungen zum Diskurs über Polizei, in: Schmidt-Semisch, Henning/Henner Hess (Hrsg): Die Sinnprovinz der Kriminalität. Zur Dynamik eines sozialen Feldes, Wiesbaden, 2014, S.203-218.

ders., Die Polizei als Dramatisierungsgewinner oder: Wem der „Die-Gewalt-wird-immer-schlimmer“-Diskurs wirklich etwas bringt, in: Ellen Bareis /Christian Kolbe/Marion Ott/Christian Schütte-Bäumer (Hrsg.): Episoden sozialer Ausschließung: Definitionskämpfe und widerständige Praktiken: Festschrift zum 65. Geburtstag von Helga Cremer-Schäfer, Münster, 2013, S. 210-223.

ders., Cop Culture – Der Alltag des Gewaltmonopols. Männlichkeit, Handlungsmuster und Kultur in der Polizei, Opladen, 2. Auflage 2008

ders., Polizeikultur. Routinen – Rituale – Reflexionen. Bausteine zu einer Theorie der Praxis der Polizei, Wiesbaden, 2004

ders., Polizei und sozialer Wandel. Ergebnisse einer teilnehmenden Beobachtung bei der Schutzpolizei in Thüringen, Holzkirchen, 1993

Michael Lindenberg/Henning Schmidt-Semisch, Sanktionsverzicht statt Herrschaftsverlust: Vom Übergang in die Kontrollgesellschaft, in: Kriminologisches Journal, 27. Jg. 1/1995, S. 2-17.

Herfried Münkler, Heroische und postheroische Gesellschaften, in: Merkur 61, 8/9, Stuttgart, 1997, S. 742-752.

Thomas Ohlemacher, Folgen einer fahrlässigen Etikettierung? Wahrgenommene Fremdwahrnehmung und Selbstbild der Polizei, in: Birgit Menzel/Kerstin Ratzke (Hrsg.): Grenzenlose Konstruktivität? Standortbestimmung und Zukunftsperspektive konstruktivistischer Theorien abweichenden Verhaltens, Oldenburg, 2004, S. 160 ff.

Ulrike Wagener, Heroismus als moralische Ressource rechtserhaltender Gewalt? Ethische Reflexionen zu heroischen und postheroischen Elementen in der polizeilichen Organisationskultur, in: Thorsten Meireis (Hrsg.): Gewalt und Gewalten. Zur Ausübung, Legitimität und Ambivalenz rechtserhaltender Gewalt, Tübingen, 2012, S. 133-160.

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