Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 204: (Un)Kontrollierbar? Probleme der Steuerung von Polizeihandeln

Bürger­rechte in Zeiten der GroKo

aus: vorgänge Nr. 204 (4-2013), S. 106-118

„Koalitionsverträge sind das Papier nicht wert, auf dem sie gedruckt sind.“ Diese manchmal auch beruhigende Gewissheit gilt nicht in den Zeiten einer Großen Koalition, die über eine satte parlamentarische Mehrheit von annähernd 80 Prozent der Stimmen verfügt. Mit solchen Mehrheiten lassen sich selbst strittige Themen ruhig „durchregieren“. Ein Grund mehr für die vorgänge, die Vorhaben des Koalitionsvertrages von CDU/CSU und SPD genauer unter die Lupe zu nehmen: Was ist aus bürgerrechtlicher Sicht zu erwarten? Wo verweigert sich der Gesetzgeber den anstehenden Aufgaben? Und worauf muss die Zivilgesellschaft umso mehr achten? Wir versuchen einen Überblick.

Bioethik – das große Schweigen

[2.4. Gesundheit und Pflege | 4.1. Abschnitt Familie stärken]

Dass sich CDU/CSU und SPD auf ein bioethisches Konzept im Koalitionsvertrag einigen, hat niemand erwartet. In der Bioethik geht es nicht mehr um unüberbrückbare Gegensätze, sondern darum, dass keine der Parteien ein bioethisches Konzept vorzuweisen hat. In den letzten Jahren war zu beobachten, wie sich die Parteien in jeder Einzelfrage (bspw. bei der Präimplantationsdiagnostik) durch die gesellschaftspolitischen Diskussionen hangelten, um regelmäßig am Ende der gesetzgeberischen Debatten bei der Abstimmung den Fraktionszwang aufzuheben. Auch den derzeitigen Oppositionsparteien erging es bisher nicht anders. Die Zeiten, als parteipolitische Haltungen in bioethischen Fragen noch voneinander abgrenzbar waren (etwa zur Frage des Schwangerschaftsabbruches) scheinen lang vorbei zu sein. Erst wenn nach jahrzehntelanger Tabuisierung durch die Parteipolitik der gesellschaftliche Streit die ganze Gesellschaft erfasst hat, reagiert die Gesetzgebung gezwungener Maßen, bruchstückhaft und unsystematisch. So werden bis heute Embryonen außerhalb des Mutterleibes (im Gegensatz zu denen im Bauch) durch das Embryonenschutzgesetz scheinbar absolut geschützt, während es dann aber wieder Ausnahmen für die Stammzellenforschung gibt.

Dabei steht die Konzeptionslosigkeit in Sachen Bioethik im direkten Widerspruch zur existenziellen Bedeutung des Themas selbst – für jeden Einzelnen wie für die Gesellschaft. Die Entwicklung von Bio- und Gentechniken hat in den letzten Jahrzehnten unsere Welt ebenso stark verändert wie ihre digitale Spiegelung in Daten und deren Vernetzung und Austausch. Obwohl niemand davon ausgeht, dass diese Entwicklung an ihr Ende gekommen ist, schweigt der Koalitionsvertrag zum künftigen politischen wie rechtlichen Umgang mit diesen Technologien. Weder bei den Innovationstechnologien noch bei den medizinischen Forschungsschwerpunkten tauchen regenerative Medizin, Stammzellenforschung, geschweige denn die Gendiagnostik auf. Auf diese Weise erspart man sich jede bioethische Diskussion. Nur zufällig gibt es Bemerkungen zum Thema Fortpflanzungsmedizin im Koalitionsvertrag, die ihrerseits die Konzeptionslosigkeit bezeugen. In Abschnitt 4.1. wird festgestellt: „Die Leihmutterschaft lehnen wir ab, da sie mit der Würde des Menschen unvereinbar ist. Wir werden das Recht des Kindes auf Kenntnis seiner Herkunft bei Samenspenden gesetzlich regeln.“ (S. 99) Eine solche gesetzliche Regelung würde nur das bestehende, vom Bundesverfassungsgericht entwickelte Grundrecht auf Kenntnis der eigenen Abstammung einfach-gesetzlich ausformen, die geltende Rechtslage jedoch nicht verändern. Ob das Verbot der Leihmutterschaft sich aber tatsächlich aus Art. 1 Abs. 1 Grundgesetz ergibt, wie das im Koalitionsvertrag angenommen wird, ist eher zu bezweifeln. Schon lange werden die im Embryonenschutzgesetz ausgesprochenen absoluten Verbote verfassungsrechtlich kritisch hinterfragt. An die überfällige Regelung des gesamten Komplexes der Fortpflanzungsmedizin werden sich die Koalitionäre wohl nicht heranwagen, auch nicht an das in Deutschland stark diskutierte Thema der Eispende.

Weder die Patientenrechte noch die Patientenverfügung oder die Sterbehilfe haben es in den Koalitionsvertrag geschafft. Dort findet sich nur die lapidare Bemerkung: „Zu einer humanen Gesellschaft gehört das Sterben in Würde. Wir wollen die Hospize weiter unterstützen und die Versorgung mit Palliativmedizin ausbauen.“ (S. 84) Diese gelangte auf Druck der Bundesärztekammer, der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin und des Deutschen Hospiz- und Palliativverbandes in den Vertrag. Angesichts der fehlenden weiteren Konkretisierungen ist zu vermuten, dass alles einfach so bleibt, wie es ist: die Hospizkapazitäten bleiben, gemessen am Bedarf, viel zu gering; die Hospizarbeit und die palliative Betreuung von Sterbenden bleiben gegenüber der Pflege benachteiligt.

Wie schnell das Schweigen in den bioethischen Grundsatzfragen diese Koalition einholte, zeigte sich bereits zum Jahresbeginn. Kaum waren die Unterschriften unter dem Koalitionsvertrag trocken, gelangte eines der unerledigten Themen der letzten Legislaturperiode zurück auf die politische Bühne: die sogenannte „organisierte bzw. gewerbliche Suizidbeihilfe“. Bereits 2012 beriet der Bundestag über einen entsprechenden Gesetzentwurf. Wir bezogen in einem ausführlichen Gutachten und bei einer Sachverständigenanhörung des Bundestages Stellung dagegen.[1] Obwohl den damals vorliegenden Entwurf niemand für gut befand und (wenn auch aus unterschiedlichen Gründen) ihn niemand haben wollte, soll er jetzt offenbar wieder neu aufgelegt werden. Bundesgesundheitsminister Gröhe will dabei – im Gegensatz zum Entwurf der vorherigen Justizministerin – ein gesetzliches Verbot jeder Form von organisierter Selbsttötungshilfe durchsetzen. Das schließt nach seiner Auffassung auch den ärztlich assistierten Suizid ein. Den Koalitionspartner traf das offenbar ganz unvorbereitet, denn anders noch als in der letzten Legislatur leistet er keinen Widerstand mehr.

Umso wichtiger wird es deshalb, zivilgesellschaftlichen Protest gegen dieses Vorhaben zu organisieren. Das von der Humanistischen Union mitbegründete Bündnis gegen ein Suizidbeihilfeverbot (s. Bericht auf S. 85) ist ein erster Anfang.

Bürger­schaft­li­ches Engagement und Parti­zi­pa­tion

[4.1. Bürgerschaftliches Engagement und Freiwilligendienste
 5.2. Moderner Staat, lebendige Demokratie und Bürgerbeteiligung]

Aus engagementpolitischer Sicht bietet der Koalitionsvertrag wenig Neues. Zwar taucht das bürgerschaftliche Engagement an mehreren Stellen auf, z.B. in den Abschnitten zu Pflege, im Zivil- und Katastrophenschutz, zum Engagement von Unternehmen, zur Sozialen Stadt oder bei der Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention. Ein schlüssiger Zusammenhang, gar eine Strategie zur nachhaltigen Stärkung des zivilgesellschaftlichen Engagements, wird dagegen nicht erkennbar: Der kurze Abschnitt zum bürgerschaftlichen Engagement (S. 111) verspricht bloß die Stärkung der Jugendfreiwilligendienste (und deren Zusammenführung im BMFSFJ) sowie des Bundesfreiwilligendienstes („BuFDi“) in der Nachfolge des Zivildienstes und betont dabei insbesondere die Rolle der tradierten Wohlfahrtsverbände als Mittler des Engagements. Isoliert betrachtet, ließe sich mit diesem Abschnitt auch eine „Indienstnahme“ des Engagements begründen, zur Schließung künftiger sozialstaatlicher Versorgungslücken. In diese Richtung zielt auch das erwähnte Vorhaben eines eigenen „weiterentwickelten Freiwilligendienstes bei der Bundeswehr“ (S. 112).

Jüngere Entwicklungen, etwa Engagementnetzwerke in Bund und Ländern oder lokale Infrastruktureinrichtungen wie Freiwilligenagenturen, Selbsthilfekontaktstellen oder Stadtteilzentren, werden nicht explizit erwähnt. Auch die Arbeitsergebnisse der über 400 Expertinnen und Experten aus dem Sektoren-übergreifend besetzten Nationalen Forum für Engagement und Partizipation (2008-2010) finden im Koalitionsvertrag – leider – kaum Berücksichtigung.

Engagementpolitisch aber auch demokratiepolitisch bedauerlich ist zudem die gedankliche Trennung des bürgerschaftlichen Engagements von der Partizipation, die im Koalitionsvertrag an anderer Stelle (S. 151) geregelt wird. Partizipation und Mitbestimmung werden immer noch nicht als selbstverständlicher Anspruch Engagierter auf demokratische Einmischung verstanden, sondern allenfalls als planungsrechtlich gebotenes Beteiligungsverfahren für öffentlich-rechtliche Großvorhaben, z.B. über „digitale Beteiligungsplattformen“ (S. 151). Immerhin wächst in der GroKo inzwischen die Zustimmung zur Idee einer Enquete-Kommission zum Thema „Partizipation“, die von der HU sicher kritisch begleitet werden wird. Dies gilt auch für die ebenfalls vereinbarte Wiedereinsetzung eines Unterausschusses für bürgerschaftliches Engagement.

Aus zivilgesellschaftlicher Perspektive lässt der Koalitionsvertrag eine verbindliche wie konsistente Beschreibung engagementpolitischer Ziele vermissen. Dazu gehörten beispielsweise eine Definition des freiwilligen Engagements, einschließlich einer längst überfälligen Abgrenzung der Formen geringfügig bezahlter Erwerbsarbeit vom reinen Ehrenamt. Auch weitere dringliche Fragen wie der Bürokratieabbau für gemeinnützige Vereine und Organisationen (z.B. Zuwendungsrecht, Gemeinnützigkeitsrecht) oder die Sicherung von infrastrukturellen Rahmenbedingungen für das organisierte bürgerschaftliche Engagement stehen schon lange an.

Datenschutz und IT-Si­cher­heit – halbherzig, wider­sprüch­lich, fragwürdig

[4.4. Digitale Agenda für Deutschland
 5.1. Abschnitt Digitale Sicherheit und Datenschutz]

Die angekündigten Vorhaben der Koalition zum Datenschutz und zur IT-Sicherheit fallen aus bürgerrechtlicher Sicht unbefriedigend aus. Die Koalition möchte die USA in der NSA-Ausspähaffäre zu weiterer Aufklärung „drängen“ und ein Nicht-Spionage-Abkommen verhandeln. Inzwischen ist klar, dass die USA diese Vorhaben scheitern lassen werden. Gleichzeitig sollen bestehende, unzureichende Datenschutzverträge – insbesondere das „Safe-Harbour“- und das SWIFT-Abkommen – nachverhandelt werden. Das ebenso problematische Fluggastdatenabkommen wird nicht einmal erwähnt. Folgen wird dies wohl keine haben: Die Bürgerrechte und die Sicherheit unserer Kommunikationsinfrastruktur sollen offenbar den transatlantischen Beziehungen geopfert werden. Ebenso fehlen Vereinbarungen zur Ausspähung durch weitere Dienste – den britischen GCHQ, den BND und den Verfassungsschutz. Stattdessen wird die angestrebte Stärkung der Spionageabwehr zu einem weiteren Aufwuchs der Geheimdienste und zu einer Rüstungsspirale im Cyberspace führen.

Eine schnelle Verabschiedung der EU-Datenschutz-Grundverordnung, wie sie der Koalitionsvertrag anstrebt, hätte auch die Überwachung europäischer Bürger_innen erschwert. Eine sogenannte „Anti-Fisa-Klausel“ im Entwurf sieht vor, dass europäische Tochterunternehmen amerikanischer Konzerne personenbezogene Daten nur noch mit einer Genehmigung an US-amerikanische Sicherheitsbehörden übermitteln dürfen. Die überfällige Erneuerung der EU-Datenschutzregelungen wurde jedoch verschleppt, sodass eine Verabschiedung vor der Europawahl nicht mehr möglich ist. Berichten zufolge ist dafür die Bundesregierung in erheblichem Maße mitverantwortlich. Nach ihren Angaben ließen sich die hohen deutschen Datenschutzstandards auf europäischer Ebene nicht durchsetzen.[2] Auch wenn ein hohes europaweites Datenschutzniveau erstrebenswert ist – das Beharren auf nationalen Standards darf nicht als Bremse für eine europäische Einigung herhalten.

Die neue Regierung verspricht sogar noch mehr: neben europäischen will sie sich auch für die Etablierung weltweiter Datenschutzstandards einsetzen. „Um die Grund- und Freiheitsrechte der Bürgerinnen und Bürger auch in der digitalen Welt zu wahren und die Chancen für die demokratische Teilhabe der Bevölkerung am weltweiten Kommunikationsnetz zu fördern, setzen wir uns für ein Völkerrecht des Netzes ein, damit die Grundrechte auch in der digitalen Welt gelten. Das Recht auf Privatsphäre, das im Internationalen Pakt für bürgerliche und politische Rechte garantiert ist, ist an die Bedürfnisse des digitalen Zeitalters anzupassen.“ (S. 149) Immerhin: mit der kürzlich in der UN-Generalversammlung verabschiedeten Resolution „ The right to privacy in the digital age“ (A/C.3/68/L.45/Rev.1) vom 20. November 2013, die von Brasilien und Deutschland initiiert wurde, ist ein Anfang gemacht. Wie jedoch auf UN-Ebene gelingen soll, was sich bereits in Europa als nahezu aussichtsloses Unterfangen herausgestellt hat, darauf bietet der Koalitionsvertrag keine Antwort.

In der nationalen Datenschutzgesetzgebung beschränkt sich der Koalitionsvertrag auf zwei Ankündigungen: Ein IT-Sicherheitsgesetz soll verbindliche Mindestanforderungen für kritische Infrastrukturen und eine Meldepflicht für erhebliche IT-Sicherheitsvorfälle einführen. Dafür will sich die Koalition im Rahmen der europäischen Cybersicherheitsstrategie auch auf EU-Ebene einsetzen. Die Weiterentwicklung und -verbreitung kryptographischer Verfahren, von vertrauenswürdiger Hard- und Software und Angeboten wie De-Mail sollen ebenso gefördert werden wie der technikgestützte Datenschutz und der Datenschutz durch Voreinstellungen – Privacy by Design und Privacy by Default. Solange jedoch bei De-Mail noch keine Ende-zu-Ende-Verschlüsselung vorausgesetzt bzw. angeboten wird, ist die Vertraulichkeit solcher Angebote höchst zweifelhaft und steht im Widerspruch zu den versprochenen Sicherheitszielen.

Noch sehr vage bleibt die Ankündigung, das 2008 vom Bundesverfassungsgericht geschaffene IT-Grundrecht endlich umzusetzen: „Wir wollen das vom Bundesverfassungsgericht entwickelte Grundrecht auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme mit Leben füllen. Die Nutzung von Methoden zur Anonymisierung, Pseudonymisierung und Datensparsamkeit müssen zu verbindlichen Regelwerken werden.“ (S. 148) Nimmt man den Gewährleistungsauftrag ernst, den das Gericht damals formulierte, dann beschränkt er sich nicht auf ein paar Vorgaben an Telekommunikations- und Diensteanbieter, sondern verlangt eine aktive politische Gestaltung von Bildungsinhalten, der Technikentwicklung und -normierung sowie der Kommunikationsgesetzgebung unter den Gesichtspunkten der Systemsicherheit und -verfügbarkeit.

Wie weit die Koalition von einem solchem integrierten Ansatz entfernt ist, zeigen allein schon ihre Planungen für die Stiftung Datenschutz: Die wurde erst im letzten Jahr gegründet, um ein Datenschutzgütesiegel zu entwickeln und Menschen für den Datenschutz zu sensibilisieren. In den Verhandlungen konnte sich offenbar die CDU/CSU durchsetzen: die bei ihr unbeliebte Datenschutzinstitution wird nun beerdigt. Im Koalitionsvertrag heißt es dazu lakonisch: „Die Stiftung Datenschutz soll in die Stiftung Warentest integriert werden.“ (S. 125)

Dass der Koalitionsvertrag zum Export von Überwachungstechnologien – auch an undemokratische Regime – keine explizite Aussage trifft, legt nahe, dass diesbezüglich keine Veränderungen geplant sind.

Friedens-, Außen- und Sicher­heits­po­litik

[7. Verantwortung in der Welt]

Auf den ersten Blick verspricht der Koalitionsvertrag eine Friedenslogik der Außen- und Sicherheitspolitik, die das Militärische in seine Schranken weist. So heißt es dort: „Wir stehen bereit, wenn von unserem Land Beiträge zur Lösung von Krisen und Konflikten erwartet werden. Dabei stehen für uns die Mittel der Diplomatie, der friedlichen Konfliktregulierung und der Entwicklungszusammenarbeit im Vordergrund“. (S. 168) Passend dazu sollen u.a. der Zivile Friedensdienst und die Deutsche Stiftung Friedensforschung stärker als bisher gefördert und die Friedens(forschungs)institute „stärker in die Politikberatung einbezogen werden.“(S. 175) Keine Erwähnung findet hingegen der Aktionsplan der Bundesregierung aus dem Jahr 2004 mit seinen rund 160 Maßnahmen zur zivilen Konfliktbearbeitung. Ebenso hätte man erwarten können, dass die im Bundestags-Unterausschuss „Zivile Krisenprävention“ entwickelten Vorschläge zur Reform der Strukturen ziviler Krisenprävention aufgegriffen würden.

Wie halbherzig das Bekenntnis zum Primat ziviler Krisenprävention ist, zeigt der aktuelle Entwurf des Bundeshaushalts für 2014: sein krasses Ungleichgewicht zwischen dem Aufwand für Ziviles (1,2 Mrd. €) und für das Militär (33 Mrd. €) spricht eine deutliche Sprache. Die steigenden Militärausgaben sind nicht zuletzt dem Ziel geschuldet, dass die Koalition die Fähigkeiten der Bundeswehr zur weltweiten Kriegsführung tatkräftig ausbauen will: „Die Bundeswehr ist eine Armee im Einsatz. Mit ihrer Neuausrichtung wird sie auf die veränderten sicherheitspolitischen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts ausgerichtet. Wir werden diese Neuausrichtung konsequent fortsetzen und zum Erfolg führen“ (S. 176). Dazu gehören das Bekenntnis zur NATO (u.a. Aufbau der NATO-Raketenabwehr) und deren Smart-Defence-Konzept ebenso wie die gemeinsame Nutzung militärischer Kapazitäten im Rahmen der EU (S. 177). Für ein „starkes Europa“ rechnet die Koalition mit gemeinsamen Einsätzen „zur Wahrung und Stärkung der Sicherheit Europas“, die zukünftig vorrangig „in unserer geografischen Nachbarschaft“ (S. 166) stattfinden sollen.

Wie sich die neue Bundesregierung eine zunehmende „außenpolitische Verantwortung“ Deutschlands vorstellt, zeigten die Reden auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2014. Derartige Ambitionen sind jedoch kein „Freifahrtschein“ dafür, „Bundeswehreinsätze weltweit zu legitimieren oder nun eine europäische Armee aufzubauen“, wie Prof. Conrad Schetter vom Bonner International Center for Conversion (BICC) jüngst feststellte.[3] Für den Aufbau rechtsstaatlicher Strukturen und die innere Sicherheit in Postkonfliktländern seien immer noch Polizist_innen besser ausgebildet als jede_r Soldat_in.

Auch wenn es heißt, der Parlamentsvorbehalt für Auslandseinsätze der Bundeswehr sei „keine Schwäche Deutschlands, sondern eine Stärke“ (S. 177), muss mit größter Aufmerksamkeit und Skepsis beobachtet werden, ob es nicht doch zu Aufweichungen dieses Parlamentsvorbehaltes kommt, wenn es um die zunehmende Mitwirkung deutscher Soldat_innen in integrierten Strukturen auf NATO- und EU-Ebene geht. Diese Diskussion wurde bereits von den CDU-Abgeordneten Schockenhoff und Kiesewetter angestoßen.

Wer im Koalitionsvertrag eindeutige Aussagen zum Abzug aller Atomwaffen aus Deutschland sucht, findet nur die Absichtserklärung, dass es darum gehe, „Bedingungen für eine Welt ohne Kernwaffen zu schaffen“. Bis dahin gelte: „Solange Kernwaffen als Instrument der Abschreckung im strategischen Konzept der NATO eine Rolle spielen, hat Deutschland ein Interesse daran, an den strategischen Diskussionen und Planungsinteressen teilzuhaben … Erfolgreiche Abrüstungsgespräche schaffen die Voraussetzung für einen Abzug der in Deutschland und Europa stationierten taktischen Atomwaffen.“ (S. 170)

Bei den Rüstungsexporten will die Koalition die Berichtspflichten der Bundesregierung verschärfen: Es soll einen jährlichen Rüstungsexportbericht noch vor der Sommerpause des Folgejahres und einen zusätzlichen Zwischenbericht geben. Über abschließende Entscheidungen des Bundessicherheitsrates „wird die Bundesregierung den Deutschen Bundestag unverzüglich unterrichten.“ Kleinwaffen sollen „mit einer möglichst unauslöschlichen Markierung versehen werden, um deren Nachverfolgbarkeit zu ermöglichen“ (S. 170). Enttäuscht wird, wer sich eine Einschränkung oder gar ein vollständiges Verbot des Exports von Kleinwaffen erhofft hatte. Der Koalitionsvertrag wirbt hingegen für eine Stärkung der europäischen Kooperation im Rüstungsbereich (S. 178).

Zurückhaltend formuliert der Koalitionsvertrag bei der Anschaffung von Kampfdrohnen. Extralegale, völkerrechtswidrige Tötungen mit bewaffneten Drohnen „lehnen wir kategorisch ab.“ (S. 178) Bewaffnete unbemannte Luftfahrzeuge sollen in das internationale Rüstungskontrollregime einbezogen werden. Man will sich für eine völkerrechtliche Ächtung vollautomatisierter Waffensysteme einsetzen. Auch wenn dies noch keine Ächtung von Kampfdrohnen bedeutet, scheint deren Anschaffung zumindest in dieser Legislaturperiode fraglich: Vor einer Entscheidung „werden wir alle damit im Zusammenhang stehenden völker- und verfassungsrechtlichen, sicherheitspolitischen und ethischen Fragen sorgfältig prüfen.“ (S. 178)

Wer in der Friedensbewegung engagiert ist, liest mit Verwunderung die Feststellung, wonach der Zugang der Bundeswehr zu Schulen, Hochschulen, Ausbildungsmessen und ähnlichen Foren „für uns selbstverständlich“ (S. 177) ist. Richtig ist dagegen, dass das Auftreten der Jugendoffiziere der Bundeswehr in Schulen nach wie vor bei vielen Schüler_innen und Eltern strittig ist und vielerorts eigenständige Angebote der Friedenserziehung gewünscht werden.

„Innere Sicherheit“ – hehre Verspre­chungen, reale Verschär­fungen

[5.1. Freiheit und Sicherheit]

Der Koalitionsvertrag benennt zwar das NSU-Debakel, entschiedene Schlussfolgerungen in Richtung einer stärkeren Einhegung der hierfür verantwortlichen „Sicherheitsbehörden“ sucht man darin jedoch vergeblich. Im Gegenteil, es wird die „Stärkung der Zentralstellenfunktion“ des Bundesamtes für Verfassungsschutz angekündigt. Das bedeutet einen Machtzuwachs für dieses Amt und eine weitere Aushöhlung der dezentralen „Sicherheitsarchitektur“, wie sie das Grundgesetz aufgrund der bitteren Erfahrungen der Nazizeit vorgeschrieben hat. Die Forderung der HU nach Abschaffung der Verfassungsschutzämter harrt also weiterhin der Einlösung.

Angesichts der umfassenden Überwachung der gesamten Telekommunikation durch die NSA und andere Geheimdienste will die Regierungskoalition das verlorene Vertrauen der Nutzer_innen wieder herstellen. Das klingt zunächst gut, genau wie das Versprechen, die Spionageabwehr zu stärken und sich für ein weltweites Abkommen zum Schutz vor Spionage einzusetzen. Verschwiegen wird dabei aber geflissentlich, dass der deutsche Verfassungsschutz eifrig an dem globalen Überwachungssystem partizipiert, anstatt – wie es schon jetzt seine gesetzliche Aufgabe ist – die Bürger_innen vor dem Ausspionieren durch „fremde Mächte“ zu schützen (auch wenn diese „befreundet“ sind – mit wem eigentlich?). Die Bundesregierung sollte ihrer verfassungsmäßigen Schutzpflicht für das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung sowie für das Telekommunikationsgeheimnis endlich entschieden nachkommen, und zwar sowohl durch entsprechende Aktivitäten gegenüber den Spitzelstaaten als auch im eigenen Haus, indem die ausufernden Befugnisse für die hiesigen Geheimdienste endlich zurückgeschnitten werden. Davon aber ist keine Rede im Koalitionsvertrag, im Gegenteil: die gesetzlichen Grundlagen zur sog. Quellen-Telekommunikationsüberwachung sollen präzisiert (sprich: erweitert) werden, um „das Bundeskriminalamt bei seiner Aufgabenerfüllung zu unterstützen“ (S. 146).

Um der „Verhängung von Zwangsgeldern durch den EuGH“ zu entgehen, hat die Große Koalition eine baldige Umsetzung der EU-Richtlinie zur sog. Vorratsdatenspeicherung angekündigt. Unmittelbar nach dem Antritt der neuen Bundesregierung wurde deutlich, dass der neue SPD-Justizminister nicht die grundsätzlichen Bedenken seiner Amtsvorgängerin gegen die Totalerfassung und Speicherung des Kommunikationsverhaltens aller Bürger_innen teilt. Sein Widerstand beschränkte sich darauf, vor einer Gesetzgebung die bald anstehende Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes abzuwarten (um sich die Blamage einer erneut rechtswidrigen Umsetzung zu ersparen?). Die Koalition verspricht zwar, sich auf EU-Ebene für eine Verkürzung der Speicherfrist auf 3 Monate einzusetzen – mit wie viel Nachdruck sie das verfolgt, wird aber kaum zu überprüfen sein. Der Gerichtshof wird vermutlich das Überwachungsinstrument nicht in Bausch und Bogen ablehnen, sondern nur einige Beschränkungen verlangen. Kurz nach dem Urteil werden wir also voraussichtlich eine im Segen des europäischen Unionsrechts erstrahlende Speicherung der Verkehrsdaten aller Telekommunikationsverbindungen erhalten. Deren faktisch schrankenlose Auswertung durch die „Sicherheitsbehörden“ ist ein weiterer Baustein im weltumspannenden Überwachungsnetz! Was bleibt dann noch von der „freiheitlichen demokratischen Grundordnung“, die unser Grundgesetz entschieden verteidigt wissen will?

Mit ihrer Sicherheitsgesetzgebung setzt die Koalition einen unheilvollen Trend der letzten Jahre fort: das gnadenlose Ausreizen und Überreizen der Grenzen zulässiger Überwachungsbefugnisse. So auch bei der jetzt notwendigen Anpassung des Antiterrordateigesetzes (ATDG). Das Bundesverfassungsgericht hatte mit seiner Entscheidung vom 24. April 2013 Teile des Gesetzes verworfen und forderte u.a. engere Vorgaben für die beteiligten Behörden, die zu speichernden Personenkreise und die abzufragenden Daten ein. Diese Nachbesserungspflicht will die Koalition jetzt nutzen, um den Datenaustausch zwischen Polizei- und Geheimdienstbehörden einmal mehr zu intensivieren: „Die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts zur Antiterrordatei werden umgesetzt und die Analysefähigkeit der Datei verbessert.“ (S. 146) Mit keinem Wort erwähnt der Vertrag das Prinzip der informationellen Trennung zwischen Polizei und Geheimdiensten oder die vom Verfassungsgericht beschworene föderale wie funktionale Gliederung der Sicherheitsbehörden: „Dass Informationen zwischen den verschiedenen Sicherheitsbehörden nicht umfassend und frei ausgetauscht werden, ist nicht Ausdruck einer sachwidrigen Organisation dieser Behörden, sondern von der Verfassung durch den datenschutzrechtlichen Grundsatz der Zweckbindung grundsätzlich vorgegeben und gewollt.“[4] Die Karlsruher Bewertung des alten ATDG stand unter der Prämisse, dass die Datei überwiegend der Informationsanbahnung, und nicht dem Informationsaustausch zwischen den beteiligten Behörden diene.[5] Wenn jetzt die Analysefähigkeiten (nicht die Suchmöglichkeiten!) ausgebaut werden, dürfte es sich weniger um die Anbahnung als vielmehr um den Austausch und die Gewinnung von Informationen handeln.

Wie mit Sicherheitsfragen symbolische Politik betrieben wird, zeigt ein weiteres Vorhaben der Koalition: Sie will den Schutz von Polizist_innen und anderen Einsatzkräften vor gewalttätigen Übergriffen verbessern (s.S. 146). Gemeint sein dürfte dabei eine erneute Verschärfung des Strafrechts. Dabei ist die letzte Ausweitung der Strafnormen zu sog. Widerstandshandlungen gegen Vollstreckungsbeamte (§ 113 StGB) noch nicht einmal drei Jahre her. Schon damals wurde kritisiert, dass den besonderen Konfliktsituationen, in denen es typischerweise zu Angriffen auf Polizist_innen kommt, mit strafrechtlichen Mitteln kaum beizukommen ist.[6]Auch der in der öffentlich/politischen Wahrnehmung vorherrschende Eindruck einer zunehmenden Gewalt gegen Polizeibeamt_innen und Einsatzkräfte stimmt in dieser Schlichtheit nicht. Hinter den Übergriffszahlen verbergen sich nicht nur gewaltbereite Demonstrant_innen oder Rocker (deren Vereine demnächst noch umfassender verboten werden sollen), sondern oft alkoholisierte „Randalierer“, die von der Polizei aufgegriffen werden.[7]

Zwischen Integration und Abschottung

[4.1. Abschnitt Integration und Zuwanderung gestalten
 5.1. Abschnitt Bundespolizei und Schutz unserer Grenzen]

Dank des deutschen Fachkräftemangels finden sich im Koalitionsvertrag manche Erleichterungen für Migrant_innen. Statt Fachkräfte im Ausland anzuwerben, sollen die Bedingungen und die Ausbildung für hier Angekommene durch Maßnahmen wie Sprachkurse (nach Abstimmung mit den Bundesländern), Erleichterung der Aufenthaltserlaubnis, Integrationsmaßnahmen oder die Verkürzung des Arbeitsverbots von neun auf drei Monate verbessert werden. Die Arbeitsaufnahme ist allerdings nur möglich, wenn keine Deutschen für die Tätigkeit zur Verfügung stehen.

Einen leichteren Zugang zum Arbeitsmarkt verspricht auch ein ESF-Programm zur Qualifizierung von Migrant_innen. Am komplizierten und nur bedingt erfolgreichen Anerkennungsverfahren für ausländische Abschlüsse sind hingegen keine Änderungen geplant. Lediglich sollen die Beratung intensiviert und die Kosten der Anerkennung „sozialverträglicher“ gestaltet werden.

Erleichtert wird ebenfalls die Aufenthaltserlaubnis für Jugendliche und Heranwachsende, um deren besonderer Integrationsfähigkeit zu entsprechen. Und noch eine positive Nachricht: Die langjährig Geduldeten (ca. 36.000 von ihnen leben länger als 6 Jahre in Deutschland) dürfen bleiben. Das gelte allerdings nur, wenn „die überwiegende Sicherung des Lebensunterhalts gewährleistet ist“. Wie viele Betroffene am Ende wirklich von dieser Bleiberechtsregelung profitieren, wird davon abhängen, wie restriktiv die von den Ländern bereits beschlossene Bleiberechtsregelung ausgelegt wird. Für die Mehrheit der Menschen mit Kindern ist bisher eine Existenzsicherung ohne Transferleistungen kaum möglich.

Ein Lichtblick ist schließlich, dass die Anzahl besonders schutzbedürftiger Flüchtlinge, die nach dem Resettlement-Verfahren aus anderen Ländern nach Deutschland geholt werden, „deutlich ausgebaut“ und die Einreise ihrer Familienangehörigen erleichtert werden sollen. Durch das Programm bleiben den Betroffenen gefährliche Fluchtwege erspart. Bisher wurden allerdings ganze 300 Flüchtlinge im Rahmen des Verfahrens in Deutschland aufgenommen.

Trotz mancher Verbesserungen im Detail – viele überflüssige Repressionen für Flüchtlinge bleiben bestehen. Weder die Sammelunterkünfte (Lager) noch die Residenzpflicht, die Abschiebungshaft oder das Asylbewerberleistungsgesetz werden gänzlich abgeschafft; kleine Änderungen – wie die Bewegungsfreiheit für Asylsuchende und Geduldete innerhalb der Bundesländer – sind mit Ausnahme Bayerns bereits umgesetzt. Auf die Abschiebungshaft geht der Vertrag überhaupt nicht ein, obwohl sie überwiegend den EU-Richtlinien widerspricht. Dagegen wird die Umsetzung des Bundesverfassungsgerichtsurteils zu den Asylbewerberleistungen erwähnt – die ohnehin obligatorisch ist. Das gilt auch für die Umsetzung der Kinderrechtskonvention: Endlich werden unbegleitete, minderjährige Flüchtlinge erst ab 18 Jahren (bisher: 16) im Asylverfahren als mündig und wie Erwachsene behandelt. Die umstrittenen Verfahren zur Altersfestsetzung, etwa die Handwurzelmessung, werden jedoch weiter angewandt.

Die Staaten des Westbalkans (Bosnien und Herzegowina, Mazedonien und Serbien) will die Koalition als „sichere Herkunftsstaaten“ im Sinne des Asylverfahrensgesetzes deklarieren. Das benachteiligt vor allem Sinti und Roma, deren Asylanträge künftig – wenn sie aus diesen Staaten kommen – einfach abgelehnt werden können. Dabei wird die Volksgruppe in diesen Ländern weiterhin diskriminiert, bleibt von Arbeit, medizinischer Versorgung und menschenwürdigem Wohnen ausgeschlossen.

Die Reaktion der Koalition auf das Sterben im Mittelmeer beschränkt sich auf den Appell an die Grenzschutzagentur FRONTEX, humanitäre Standards einzuhalten und der Pflicht zur Seenotrettung nachzukommen. Gleichzeitig wird die Verlagerung der Grenzproblematik vom Mittelmeer auf den afrikanischen Kontinent fortgesetzt. Mittels Wirtschafts- und Entwicklungshilfe soll die Bereitschaft nordafrikanischer Transitstaaten gefördert werden, beim Schutz vor illegaler Migration (sprich: beim Schutz vor Flüchtlingen) stärker mit der EU zu kooperieren. Ebenfalls höhnisch nimmt sich die Forderung der Koalition nach mehr Solidarität unter den EU-Mitgliedsstaaten aus, wenn es um die Bewältigung der Flüchtlingszuwanderung in der europäischen Gemeinschaft geht. Es läge gerade in der Hand der Bundesregierung, hier tätig zu werden und eine Änderung des Dublin-Systems anzustoßen. Die übermäßige Belastung der Länder an den EU-Außengrenzen (v.a. die Mittelmeer-Anrainerstaaten) rührt ja daher, dass die Dublin III-Verordnung die Zuständigkeit für das Asylverfahren immer noch dem Land überlässt, in dem Flüchtlinge in der EU ankommen. Konkrete Hinweise, dass sich Deutschland für eine Reform des Dublin-Systems oder eine gerechtere Verteilung der Flüchtlinge in der EU einsetzt, sucht man im Text jedoch vergebens.

Religions- und weltan­schau­liche Fragen

[4.1. Abschnitt Kirchen und Religionsgemeinschaften]

Die Große Koalition zeigt bereits mit ihrer Überschrift für den Abschnitt zu religions- und weltanschauungspolitischen Fragen an, worum es ihr vor allem gehen wird: die Zusammenarbeit mit den Religionsgemeinschaften, zuvörderst den Kirchen. Säkularismus, der Schutz von Nicht- und Andersgläubigen oder die Religionsfreiheit als individuelle Freiheit werden in dem einseitigen Abschnitt gar nicht erwähnt. Deklaratorisch heißt es aber, dass eine offene Gesellschaft im Rahmen der Verfassungsordnung allen Religionen den Freiraum zur Entfaltung ihres Glaubens biete. Ob und ggf. wo in dieser Hinsicht noch Handlungsbedarf bestehe (vgl. vorgänge Nr. 203), darüber verliert der Koalitionsvertrag kein Wort.

In der Zusammenarbeit mit den Kirchen und Religionsgemeinschaften soll alles so bleiben, wie es ist: Kirchensteuererhebung durch den Staat, kirchliche Prägung von Wohlfahrtseinrichtungen, kirchliches Arbeitsrecht und das „bewährte“ Staatskirchenrecht. Forderungen wie die nach der Ablösung der jährlichen Staatsleistungen an die Kirchen, der Aufhebung des kirchlichen Sonderstatus im Arbeitsrecht oder der Entwicklung des Staatskirchenrechts zu einem umfassenden Religionsverfassungsrecht werden nicht behandelt. Positiv ist allenfalls das Vorhaben, auch jüdischen und muslimischen Gemeinschaften Unterstützung zuteil werden zu lassen. Offen bleibt aber, wie diese Unterstützung jenseits der Islamkonferenz aussehen soll.

Strafrecht und Straf­pro­zess­recht

[4.1. Abschnitt Kriminalität und Terrorismus]

Der Koalitionsvertrag enthält einige hehre Versprechen, deren Umsetzung jedoch ungewiss bleibt. Dazu gehören die verbesserte Opferbetreuung und -beratung sowie die Beschleunigung von Verfahren im Jugendstrafrecht, indem Strafverfolgungsbehörden und Kinder- sowie Jugendhilfe stärker zusammenarbeiten (die Strafe soll der Tat auf dem Fuße folgen).

Daneben finden sich einige brisante Vorhaben im Bereich des Beweis- und Sanktionsrechts im Vertrag: So sollen zur Aufklärung von Sexual- und Gewaltverbrechen unter Anwendung von Massengentests (molekulargenetische Reihenuntersuchung nach § 81h StPO) auch sog. „Beinahetreffer“ verwertet werden können, wenn die Teilnehmer_innen vorab über die Verwertung zulasten von Verwandten belehrt worden sind. Beinahetreffer sind solche, bei denen sich keine vollkommene Übereinstimmung mit der Tatort-DNA ergibt, allerdings eine teilweise Übereinstimmung nahe legt, dass die Tatort-DNA von einer/m Angehörigen der Teilnehmer_innen stammen könnte. Neben den ohnehin diskutierten Mängeln der DNA-Reihenuntersuchung (etwa der Umkehr der Unschuldsvermutung oder das Risiko von Fehlanalysen) wären bei diesem familial searching ein nahezu unüberschaubarer Personenkreis betroffen und ganze Familien unter Generalverdacht gestellt. Für die Betroffenen bedeutet das gegebenenfalls eingriffsintensive Ermittlungsmaßnahmen, die lediglich an das Verwandtschaftsverhältnis anknüpfen. Darüber hinaus umgeht die Verwendung der „Beinahetreffer“ die von § 81h StPO vorgesehene Einwilligung der Betroffenen.

Weiterhin soll „zum Schutz der Bevölkerung vor höchst gefährlichen, psychisch gestörten Gewalt- und Sexualstraftätern, deren besondere Gefährlichkeit sich erst während der Strafhaft herausstellt“, die Möglichkeit der nachträglichen Therapieunterbringung geschaffen werden. Dem stehen vielfältige Bedenken gegenüber: Die weitgehend abgeschaffte nachträgliche Sicherungsverwahrung würde unter der Hand wieder eingeführt; im Zusammenspiel mit dem Ausbau der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung entstünde ein insgesamt viel weiterer Anwendungsbereich für die unbefristete Unterbringung als vor der gesetzlichen Neuregelung der Sicherungsverwahrung vom 1. Januar 2011. Deren Zweck bestand aber u.a. gerade darin, die problematische, nachträglich angeordnete Unterbringung weitgehend auszuschließen, indem der Anwendungsbereich der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung ausgedehnt wurde. Es bleiben auch die grundsätzlichen Bedenken hinsichtlich der Unsicherheiten von Kriminalprognosen und die Frage, ob die geplante Neuregelung überhaupt mit dem vom Bundesverfassungsgericht und vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte aufgestellten Vorgaben vereinbar ist. Zur weiteren Kritik sei auf den von Johannes Feest und anderen initiierten „Offenen Brief an den neuen Bundesjustizminister“ verwiesen, dem sich auch die Humanistische Union angeschlossen hat (online abrufbar unter www.strafvollzugsarchiv.de).

Einer kritischen Begleitung wert sind auch die Pläne zur stärkeren Verfolgung von Zwangsprostitution, die derzeit im Hinblick auf eine schleichende Illegalisierung der Prostitution kontrovers diskutiert werden, sowie das Vorhaben, beim Straftatbestand des „Stalking“ (§ 238 StGB) die „tatbestandlichen Hürden für eine Verurteilung [zu] senken“. Problematisch ist auch die vorgesehene Einführung des Führerscheinentzugs als deliktsunabhängige, eigenständige Sanktion im Erwachsenen- wie im Jugendstrafrecht. Die Entziehung ist nach bisherigem Recht als Maßregel bei Delikten im Zusammenhang mit dem Führen eines Kfzs zulässig. Bei einer Anwendung als allgemeine Sanktion ist ein Verstoß gegen den in der Verfassung verankerten Gleichheitsgrundsatz zu befürchten; ganz abgesehen davon, dass an der Wirksamkeit dieser Strafe gezweifelt werden darf.

Für den Bundesvorstand der Humanistischen Union: Werner Koep-Kerstin, Norman Bäuerle, Tobias Baur, Anja Heinrich, Annika Mara Kunz, Martin Kutscha, Helga Lenz, Kirsten Wiese und Rosemarie Will, unter Mitarbeit von Stefan Hügel.

Alle Abschnitts- und Seitenangaben im Text beziehen sich – soweit nicht anders vermerkt, auf den Koalitionsvertrag von CDU/CSU und SPD: Deutschlands Zukunft gestalten. Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD zur 18. Legislaturperiode. Er ist im Internet abrufbar unter: http://www.bundesregierung.de/Content/DE/_Anlagen/2013/2013-12-17-koalitionsvertrag.pdf.

Anmerkungen:

[1] S. BT-Drs. 17/11126 v. 22.10.2012; Wortprotokoll der 109. Sitzung des Rechtsausschusses des 17. Deutschen Bundestages v. 12.12.2012; HU-Mitteilungen Nr. 218/219 (Dezember 2012), S. 10.

[2] Zu dieser Einschätzung vgl. das Interview mit dem früheren Bundesbeauftragten für Datenschutz, Peter Schaar, in diesem Heft auf S. 98 ff.

[3] Kommentar vom 6.2.2014.

[4] S. BVerfG 1 BvR 1215/07, Rdnr. 113.

[5] Ebd., Rdnr. 106 ff. und 124 ff.

[6] Vgl. Jens Puschke, Strafverschärfung für Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte – ein falsches Signal mit fragwürdiger Begründung, HU-Mitteilungen Nr. 215/216 (Heft 1/2012), S. 10/11.

[7] Vgl. Norbert Pütter, Viele Daten, wenig Klarheit. „Gewalt gegen PolizistInnen“: wenig Licht im Dunkelfeld, CILIP Nr. 96 (2/2010), S. 70-78ff.

Dateien

nach oben