Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 236: Der Streit um die Anleihekäufe der EZB

Der Streit zwischen dem Bundes­ver­fas­sungs­ge­richt und dem Gerichtshof der EU zu den Anlei­he­käufen der Europä­i­schen Zentralbank im Lichte der nachfol­genden Krisen - Ein Streit­ge­spräch

Die Europäische Zentralbank (EZB) wurde in den 1990er Jahren eingerichtet. Dies war eine institutionelle Voraussetzung für die Einführung des Euro, der ab 2023 mit dem Beitritt Kroatiens die Währung von 20 der 27 EU-Mitgliedstaaten sein wird. Die Strategien und Maßnahmen der EZB waren stets umstritten. Gegner*innen der Gemeinschaftswährung monierten, die EZB überschreite ihre Kompetenzen. In Deutschland gingen sie dagegen auch in mehreren Verfahren beim Bundesverfassungsgericht (BVerfG) vor. Für besonders viel Aufsehen sorgte die Entscheidung des BVerfG vom 5. Mai 2020, in der das Gericht – anders als zuvor der EuGH – den Ankauf von Staatsanleihen durch die EZB in der damaligen Form als Kompetenzüberschreitung einstufte, die mit Art. 23 Abs. 1 sowie Art. 20 Abs. 1 und 2 Grundgesetz (GG) unvereinbar sei.

Die Anleihekäufe wurden erheblich ausgeweitet, nachdem sich die EZB 2012 auf die Linie festgelegt hatte, den Euro „um jeden Preis“ zu stabilisieren und zu retten. Schon seit diesem „Whatever it takes“, vorgetragen vom damaligen EZB-Präsidenten Mario Draghi, scheint sich die EU von ihren rigiden, in den 1990er Jahren maßgeblich von deutschen Regierungen durchgesetzten Vertragsgrundlagen in der Fiskalpolitik zu verabschieden. Auch in der COVID-19-Pandemie und jetzt im Ukrainekrieg sehen sich die EU und ihre Mitgliedstaaten zu Maßnahmen gezwungen, die vorher undenkbar erschienen. Immer offensichtlicher finanziert die EU die Corona-Hilfspakete der Mitgliedsstaaten und widmet diese Mittel bei Bedarf um. Kritiker*innen sehen darin eine endgültige Hinwendung zur Vergemeinschaftung von Schulden und eine Abkehr von den vertraglich vereinbarten Stabilitätskriterien der Finanzpolitik. Die EU setzt immer neue Hilfs- und Konjunkturpakete der EZB auf, mit denen sie nicht nur den staatlich gelenkten Umbau der Wirtschaft in den Mitgliedsländern vorantreiben will, sondern auch die EU selbst als handlungsfähige Akteurin in einer multipolaren Welt zwischen der USA und China aufzustellen versucht. 

Angesichts dessen eskalierte der juristische Streit um die Maßnahmen der EZB, insbesondere um die vertraglichen Grundlagen ihrer Anleihekäufe. Hat das BVerfG bei den Verfahren zu den OTM (Outright Monetary Transactions) noch die Begründung des EuGH akzeptiert, tat es dies bei den nachfolgenden Anleihekäufen der EZB, den PSPP (Public Sector Purchase Programme) nicht mehr. Das Urteil des BVerfG vom 5.5.2020 ist der bisherige Höhepunkt dieser Auseinandersetzung in Deutschland. Danach kam es zu einem Vertragsverletzungsverfahren gegen die Bundesrepublik wegen der Missachtung des Vorranges des EU Rechts durch das BVerfG, das wie das Hornberger Schießen endete. Dieser Streit wird fortgesetzt werden, mit Entscheidungen über die Maßnahmen der EU zur Corona-Bekämpfung und um die von der EZB Präsidentin Christine Lagarde angekündigten Maßnahmen zur Inflationsbekämpfung des sogenannten TPI (Transmission Protection Instrument).

Die vorgänge-Redaktion hat vor diesem Hintergrund drei Wissenschaftler eingeladen, diese Entwicklungen aus ihrer unterschiedlichen fachlichen und finanzpolitischen Perspektive zu diskutieren: Andreas Fisahn (Verfassungsrechtler an der Universität Bielefeld), Hansjörg Herr (Volkswirt an der Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin) und Martin Höpner (Politikwissenschaftler am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung in Köln). Mit den folgenden Fragen versuchen wir herauszufinden,

  • was die EZB mit ihren Maßnahmen bezweckt, was sie dazu treibt und ob sie dies nach geltendem EU-Vertragsrecht darf
  • wie der EuGH sich zu dem, was die EZB macht, positioniert und wie er dazu den Vorrang des EU Rechtes interpretiert
  • was dem Dissens über den Vorrang des EU Rechtes zwischen dem EuGH und den nationalen Verfassungsgerichten zugrunde liegt
  • wie das Verhältnis von Politik und Markt in der EU dauerhaft neu gestalten werden kann.

 

I Zur Agenda des Europäischen Gerichtshofs/Gerichtshofs der EU (EuGH) gehört es, sich als Motor der europäischen Integration zu verstehen. Bereits 1963 nahm er an und 1964 hat er ausgesprochen, dass europäisches Recht dem nationalen Recht vorgeht – auch den nationalen Verfassungen. Erst 2009 wurde der Anwendungsvorrang (Supremacy) in Zusatzerklärung Nr. 17 zum Vertrag von Lissabon von den Mitgliedstaaten offiziell anerkannt. Der EuGH leitete die Supremacy aus dem Zweck der Wirtschaftsgemeinschaft ab: Es könne keinen gemeinsamen Markt geben, wenn jeder Mitgliedsstaat europäisches Recht nach seinem Gutdünken anwende und auslege. Ist diese Begründung des Vorrangs europäischen Rechts durch den EuGH juristisch korrekt?

Höpner: In der Tat, der Europäische Gerichtshof ist kein neutraler Hüter der europäischen Verträge. Er fungiert als Motor der Integration, man kann auch sagen: Er ist ein Gericht mit Agenda. Zahllose Grundsätze des Europarechts erweisen sich bei genauer Betrachtung als Schöpfungen des EuGH. Mit seinen Urteilen zum Vorrang und zur Direktwirkung des Europarechts hat er die Verträge faktisch in eine Verfassung transformiert. Er hat die Binnenmarktfreiheiten zu Individualrechten auf Liberalisierungspolitik umgedeutet und wurde in zahlreichen Politikfeldern übergriffig, etwa im kollektiven Arbeitsrecht.

Sie fragen nun, ob der Verweis auf den gemeinsamen Markt den EuGH berechtigte, den Vorrang des Europarechts vor nationalem Recht in die Verträge hineinzulesen. Natürlich nicht. Der Umstand, dass der Vorrang die Marktintegration intensiviert, legitimiert nicht die entsprechende Rechtsprechung des EuGH. Es darf daher nicht verwundern, dass der bedingungslose Vorrang bis heute aufseiten der Mitgliedstaaten nicht vollständig akzeptiert ist. Wie tief die Konflikte über den Anwendungsvorrang gehen, hängt davon ab, für welche Ziele der Gerichtshof ihn in Stellung bringt.

Freilich ist der EuGH darüber hinaus auch ein beispiellos autistisches Gericht. Er ist darauf angewiesen, dass seine Rechtsprechung von den Mitgliedstaaten als legitim erkannt wird. Das müsste seine Kreativität, seine forsche Rechtsfortbildung, seinen integrationistischen Drang eigentlich bremsen. Ihm fehlen aber die Antennen, mit denen er erkennen könnte, wann er statt Integration Widerstände erzeugt. Er zieht die Daumenschrauben immer weiter an. Das fällt dem Gerichtshof nun auf die Füße. Die Konflikte um die europarechtliche Kontrolle der EZB sind hier nur ein Anzeichen unter mehreren. Hinzu kommen die Konflikte über die extensive Auslegung der in Artikel 2 EUV aufgelisteten Werte und weitere Fälle, die etwa Dänemark und Frankreich betreffen.

Fisahn: Ich kann Herrn Höpner nur zustimmen. Der EuGH hat die Entwicklung der EU eigenständig vorangetrieben. Die Warenverkehrsfreiheit mit dem Verbot der „Maßnahmen gleicher Wirkung“ wie die mengenmäßige Beschränkung hat das Gericht schon in den 1970er Jahren umgedeutet oder so weiterentwickelt, dass sich die eher gemächliche Zollunion in Richtung gemeinsamer Markt aufmachte. Dabei wurde der „gemeinsame Markt“ ein neoliberal interpretierter Markt: Regulierungen wurden als europarechtswidrig kassiert und das oberste Gebot wurde die Vermeidung von Wettbewerbsverzerrungen, was innerhalb der nationalen Märkte, die ja auch einheitlich waren, bis dahin keineswegs der Fall war – Subventionen zur Rettung wichtiger Unternehmen waren eher die Regel als die Ausnahme. Der EuGH legte auch das Beihilfeverbot exzessiv aus. Kurz: der gemeinsame Markt war das Vehikel, um dem Kapitalismus in der EU ein neues Gesicht zu geben. In der Tat wurde der EuGH in diesem Sinne zum Motor der Integration. Nur man verkennt die Rolle oder Funktion eines Gerichtes, wenn man anerkennend vom „Motor“ spricht. Die Juristerei ist strukturell oder notwendig konservativ, weil sie altes Recht auf neue gesellschaftliche Verhältnisse anwenden muss. Aus dieser Rolle kann die Justiz gelegentlich ausbrechen, aber wenn sie die Rolle des Motors einnimmt, verkennt sie ihre Legitimität, die nur auf dem Recht gründet, im Verhältnis zur Legitimität der Legislative, die vom Volke ausgehen sollte – so ist es Aufgabe der Legislative neues Recht zu schaffen, also den Motor zu spielen. Die Justiz hat eher die Rolle der Bremse, was natürlich auch ambivalent ist.

In der Frage der Euro-Rettung beschreiben Sie beide das europäische Gericht als einen Akteur, der die Integration forciert. Ist das wirklich die eigene Agenda des Gerichts oder folgt es hier nur der Kommission oder der EZB?

Fisahn: Der EuGH ist in den 1970er Jahren nicht der Kommission gefolgt, sondern hat eine eigene Integration des Freihandels betrieben. Aus diesen „frühen“ Jahren stammen die berühmten Urteile, mit denen Studentinnen bis heute gequält werden. Die „mengenmäßige Beschränkung und Maßnahmen gleicher Wirkung“, deren Verbot die europäischen Verträge immer enthielten, wurde vom EuGH extensiv ausgelegt und so verstanden, dass alle möglichen Sorten von Handelshemmnissen beseitigt werden mussten. Der Handelsverkehr wurde auf der Grundlage dieser Rechtsprechung „liberalisiert“, weitere Integrationsschritte in gleicher Richtung folgten. Und sicher hat Konrad Adenauer, als er die Europäischen Verträge unterzeichnete, niemals daran gedacht, dass das Reinheitsgebot des deutschen Bieres der Maßnahme gleicher Wirkung wie eine mengenmäßige Beschränkung subsumiert wird. In den folgenden Jahren haben sich die Intentionen von Kommission und EuGH überlagert, ergänzt und verstärkt, so dass der neoliberale Umbau der alten Europäischen Zollunion gelang. Spannend wird es sein, ob und wie der gegenwärtige Umbau der EU in Richtung „grüner Kapitalismus“ mit diesen Verträgen funktioniert und wie die Gerichte auf die neue Politik reagieren.

Höpner: In der Forschungsliteratur wurde die „Integration durch Recht“ häufig als das Ergebnis der Aktivitäten von drei Parteien beschrieben: sich vor nationalen Gerichten auf das Europarecht berufende Marktteilnehmer, vorlegende Gerichte und Europäischer Gerichtshof. Wo deren Interessen übereinstimmen, gewinnt die „Integration durch Recht“ an Dynamik. Hierzu braucht es im Prinzip keine Aktivitäten der Kommission. Sie ist an der rechtlichen Integration gleichwohl nicht unbeteiligt, weil sie selbst als Klägerin vor dem EuGH fungieren kann. Dann treten Kommission und EuGH gewissermaßen als strategisches Tandem auf. Das haben wir besonders bei der Ausweitung des europäischen Wettbewerbsrechts auf staatsnahe Sektoren beobachtet, für die dieses Recht ursprünglich nicht gedacht war. In den Konflikten über die europarechtliche Kontrolle der Europäischen Zentralbank haben wir die Kommission aber weniger direkt im Spiel, weil sie weder selbst klagt noch selbst die beklagte Partei ist. Hier gibt sie lediglich Stellungnahmen ab.

II In der Agenda des Bundesverfassungsgerichts ist das Urteil vom 5.5.2020 der vorläufige Endpunkt einer langen Auseinandersetzung darüber, wie weit der Vorrang des europäischen Rechts reicht. Zwar hat das Bundesverfassungsgericht den Vorrang des Gemeinschaftsrechts im Grundsatz anerkannt, aber es beharrt darauf, dass das Gemeinschaftsrecht diese Eigenschaft nur dann besitzt, wenn der deutsche Gesetzgeber die entsprechende Kompetenz der EU übertragen und dessen vorrangige Geltung in Deutschland per Zustimmungsgesetz angeordnet hat. Ob Deutschland eine Kompetenz wirksam übertragen habe, richte sich nach deutschem Verfassungsrecht – und das könne nur das Bundesverfassungsgericht beurteilen. Diese Kontrollbefugnis beansprucht der EuGH jedoch für sich. Wie weit reicht der Vorrang des europäischen Rechts?

Fisahn: Und da sind wir beim Problem der EU insgesamt, dass die Vorrangrechtsprechung betrifft. Die EU ist – das hat sich inzwischen herumgesprochen – nur beschränkt demokratisch legitimiert. Das BVerfG spricht von einer Überföderalisierung, weil der Grundsatz der Stimmengleichheit in der Zusammensetzung des Parlaments nicht eingehalten wird. Außerdem ist das gewählte Parlament in der EU gleichsam nur zweite Kammer, denn es ist immer noch nicht an allen Entscheidungen beteiligt, während die Exekutive in Form des Rates und der Kommission die zentralen gesetzgeberischen Instanzen sind.

Weil die EU ein Demokratiedefizit hat, wird sie als supranationale Organisation, nicht als Staat bezeichnet, auch wenn man damit natürlich vom Sein auf das Sollen schließt. Das heißt aber, die EU bezieht ihre Kompetenzen, genauer ihre Rechtsetzungskompetenz, also die Befugnis zu zwingen, nicht aus demokratischer Zustimmung, sondern sie ist nur abgeleitet, geliehen. Die Kompetenzen werden von den Mitgliedstaaten, die deshalb nach den Verträgen demokratisch organisiert sein sollen, auf die EU übertragen. Daraus folgt zwingend, dass die EU ihre Kompetenzen nicht selbstständig unter Berufung auf den Volkswillen erweitern kann. Dazu fehlt ihr die hinreichende demokratische Legitimation. Sie hat keine Kompetenz-Kompetenz, wie es so schön heißt. Übrigens: Mit der Kompetenz-Kompetenz würde sie nicht zwingend zu einem Staat. Bundesstaaten haben i.d.R. auch keine Kompetenz-Kompetenz, sondern können Zuständigkeiten von den Ländern auf den Bund nur mit Zustimmung der Länder − auch wenn z.B. in der BRD eine 2/3-Mehrheit im Bundesrat ausreicht – übertragen. Und umgekehrt: Die Bundesländer gelten – so die Rechtswissenschaft – als Staaten, können sich aber keineswegs Kompetenzen, die das GG dem Bund zugewiesen hat, aneignen. Die Staatsqualität hat m.E. andere Voraussetzungen – mindestens muss ein moderner Staat das Recht haben, Steuern selbstständig zu erheben. Aber das ist eine andere Frage.

Wenn man das Verhältnis von EU und Mitgliedstaaten so beschreibt, und das geschieht auch in Art. 4 Abs. 1 und 5 Abs. 1 EUV − wenn man also von der Übertragung von Zuständigkeiten an die EU ausgeht, kann das EU-Recht nicht über dem nationalen Verfassungsrecht stehen. Das würde in Deutschland gegen die Ewigkeitsklausel des Art. 79 Abs. 3 GG verstoßen, der verbietet, die Demokratie durch Verfassungsänderung abzuschaffen oder auszuhöhlen. Wohl aber können die Staaten und auch die BRD, das sagt Art. 23 GG ausdrücklich, ihre Rechtssetzungskompetenzen für bestimmte Bereiche auf die EU übertragen und sich damit in diesem Punkt dem EU-Recht unterwerfen, also seinen Vorrang vor dem einfachen Recht des Nationalstaates anerkennen. Das ist – wie die Frage schon erläutert – auch geschehen.

Höpner: Weil die von Herrn Fisahn beschriebene freiwillige Unterwerfung der Normalfall der europäischen Integration ist, ist der Vorrang in über 99 Prozent der Fälle praktisch nicht strittig: Das Europarecht geht vor, weil die Mitgliedstaaten die Regelung des betreffenden Sachverhalts an die europäische Ebene übertragen haben, also an den Unionsgesetzgeber oder an technokratische EU-Behörden. Wenn aber unklar ist, ob Gesetzgebungskompetenzen oder andere Befugnisse wirklich an die EU delegiert wurden, fällt der Vorrang als Mechanismus zur Konfliktlösung aus. Der EuGH ist dann nicht mehr alleiniges Kompetenzgericht und die Konflikte lassen sich nur noch auf Augenhöhe lösen. Diesen Einwand nicht nur des deutschen Verfassungsrechts gegen die Behauptung eines bedingungslosen Vorrangs europäischen Rechts vor jedem nationalen Recht halte ich in der Tat für absolut zwingend.

Was bedeutet die Ultra-vires-Rüge im Allgemeinen und in der Sache der PSPP-Anleihen?

Fisahn: Die EZB ist eine Institution der EU, die natürlich nicht von jedem nationalen Gericht, auch nicht vom Verfassungsgericht kontrolliert werden kann. Das ist zunächst Aufgabe des EuGH, was ja auch das BVerfG sagt. Wenn der EuGH diese Aufgabe aber nicht wahrnimmt und Anhaltspunkte bestehen, dass die EZB außerhalb der ihr durch die Verträge übertragenen Aufgaben handelt, d.h. konkret Wirtschaftspolitik und nicht nur Finanzpolitik betreibt, muss und kann ein nationales Verfassungsgericht prüfen, ob die Grenzen der Ermächtigung, die mit den EU-Verträgen vereinbart wurden, überschritten wurden. Man spricht dann von einer Maßnahme „ultra vires“, womit „jenseits der Kompetenzen“ gemeint ist. Das BVerfG hat diese Prüfung noch weiter zurückgenommen und beschränkt sich darauf, ob die EU die Verfassungsidentität des GG verletzt, will sagen, Maßnahmen ergreift, die eine deutsche Regierung nicht ergreifen dürfte, weil sie mit der Verfassung unvereinbar sind und vom deutschen Gesetzgeber deshalb nicht auf die EU übertragen werden könnten – etwa weil das Demokratieprinzip verletzt ist. Aber die Abgrenzung ist nicht immer ganz klar.

Genau dies, eine Prüfung ob Kompetenzen überschritten wurden, die mit dem GG unvereinbar sind − hat das BVerfG mit den EZB-Urteilen vorgenommen. Damit wurde das Recht konservativ eingesetzt. Die EZB hat nach der Finanz- und Wirtschaftskrise 2008, die engen Grenzen der neoliberalen Vorgaben der Verträge verlassen, was wirtschaftspolitisch wohl richtig war, aber rechtlich eben unzulässig, weil die Verträge einer strengen wirtschaftspolitischen Ideologie folgen, nach der die Zentralbank nur die Inflation „steuern“ soll und eben keine Wirtschaftspolitik betreiben soll. Die EU wird zum Gefangenen der eigenen wirtschaftspolitischen Ideologie, was auch die Corona-Krise deutlich macht.

Höpner: Das BVerfG hat im Kern ja gerügt, dass Luxemburg es versäumt hat, die Entscheidungen der EZB einer gehaltvollen Verhältnismäßigkeitskontrolle zu unterziehen. Das hat in den Rechtswissenschaften eine intensive Debatte angestoßen. Der entscheidende Einwand lautet: Das BVerfG kann dem EuGH nicht aufgeben, das deutsche Verständnis von Verhältnismäßigkeit zu übernehmen. Denn es gibt unter den EU-Mitgliedern und so auch im europäischen Verfassungsrecht nun einmal ganz unterschiedliche Handhabungen des Verhältnismäßigkeitsprinzips. So weit, so gut. Die Beschwerde aus Karlsruhe hatte aber einen anderen Twist. Die Richter rügten die strategisch-differenzielle Anwendung des Verhältnismäßigkeitsprinzips durch den EuGH: harte, gehaltvolle Tests, wenn mitgliedstaatliche Maßnahmen auf dem Prüfstand stehen, aber lediglich weiche Missbrauchskontrollen gegen Maßnahmen der EU-Organe einschließlich der EZB. Dass das für das mitgliedstaatliche Verfassungsrecht schwer zu akzeptieren ist, sollte zumindest nachvollziehbar sein.

Es geht also, wenn man so will, um einen verfassungsrechtlichen Theoriestreit. Der lässt sich nur äußerst schwer auflösen. Bemerkenswert finde ich, wie trivial sich hingegen die praktische Dimension des Konflikts bereinigen ließ. Die Notenbank lieferte Dokumente nach, aus denen hervorging, dass sie die Nebeneffekte der Anleihekäufe prüfte und bedachte. Bundestag und Bundesregierung prüften diese Dokumente und teilten Karlsruhe mit, dass den Vorgaben des BVerfG damit genüge getan wurde – Ende des Konflikts. Das PSPP und das nachfolgende PEPP blieben in praktischer Hinsicht unberührt.

Für Sie beide ist demnach der Streit um die Vorrangrechtsprechung ein Streit um die Grundkonstruktion der EU. Die Mitglieder beharren darauf, dass Sie selbst bestimmen können, welche Kompetenzen mit welchem Inhalt sie übertragen haben. Dass dies zwischen den einzelnen Mitgliedern und den EU-Institutionen unterschiedlich verstanden wird und zwangsläufig zu Konflikten führt, liegt auf der Hand. Braucht es dafür einen eigenen Konfliktlösungsmechanismus?

Fisahn: Nein, jedenfalls nicht, wenn man auf die Rechtsprechung des BVerfG blickt. Das Gericht entscheidet und argumentiert immer sehr EU-freundlich, holt Vorabentscheidungen des EuGH ein und hat hohe Hürden oder Voraussetzungen entwickelt, wann man zu dem Ergebnis kommen kann, dass die EU ultra vires, also jenseits ihrer Kompetenzen handelt. Konflikte sind das Kennzeichen von Politik und die deutsche sucht nach Einheitlichkeit oder gar der Carl Schmittschen Einheit scheint eh übertrieben.

Herr: Hinter der Frage versteckt sich ein Grundproblem der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion (EWU), der ja die meisten Mitglieder der EU beigetreten sind. Für eine stabile Währungsunion bedarf es nicht nur einer monetären Integration in Form der EZB, die ja als supranationale Institution für alle Mitglieder der EWU geldpolitische Entscheidungen trifft. Auch in anderen Bereichen, etwa der Ausrichtung der Fiskalpolitik, der Steuerpolitik, der Industriepolitik, der Mindestlohnpolitik, nur um einige Bereiche zu nennen, benötigt eine stabile Währungsunion gemeinsame Regeln und einen supranationalen Entscheidungsprozess. Notwendig wären eigene Entscheidungsmechanismen und -institutionen der EWU, die über die derzeitigen EWU-spezifischen Institutionen, wie etwa die Eurogruppe, weit hinausgehen. Die EU sollten somit dem „Zwiebelmodell“ folgen mit unterschiedlichen Integrationsstufen – die EWU sollte weitaus umfassender integriert sein als die EU. Entscheidungsmechanismen der EWU, welche die europäische Staatenbildung vorantreiben, sind derzeit politisch schwierig. Ein Konfliktlösungsmechanismus, der unterschiedliche Interpretationen von Kompetenzen oder Regelungen beseitigt, fördert die Integration und ist deshalb zu begrüßen.

Höpner: Im Hinblick auf den Mechanismus zur Konfliktlösung gibt es aus meiner Sicht zwei Möglichkeiten. Erstens, wir belassen es beim jetzigen Schwebezustand, den die Juristen als „konstitutionellen Pluralismus“ beschreiben: ein System, in dem kein Rechtsorgan klar das letzte Wort für sich beanspruchen kann und das, wenn es funktionieren soll, den guten Willen aller Beteiligten voraussetzt. Zweitens, die Einrichtung einer Letztentscheidungsinstanz, mutmaßlich in Form eines neuen europäischen Kompetenzgerichts. Ich persönlich sympathisiere mit der ersten Möglichkeit. Wenn wir auf die Beibehaltung des Schwebezustands setzen, dann sollten wir aufhören, Einwände vonseiten nationaler Verfassungsgerichte per se als Krisenphänomene zu deuten. Sie sind dann vielmehr notwendige Gegengewichte, die den EuGH hoffentlich dazu anhalten, die kreative Nutzung seiner Spielräume nicht zu weit zu treiben. Auch über die Einrichtung einer Schlichtungsinstanz lässt sich freilich diskutieren. Ich frage mich nur, ob das, was wir dazu bräuchten, wirklich ein Gericht ist – das Europarecht und das nationale Verfassungsgericht haben in solchen Konstellationen ja bereits gesagt, was sie zu sagen hatten, und haben festgestellt, dass die Ergebnisse nicht übereinstimmen. Und ein über beiden Rechtsquellen stehendes Hyperrecht, anhand dessen sich die Konflikte entscheiden ließen, gibt es nicht. Daher tendiere ich zu der Sicht, dass eine Schlichtungsinstanz, wenn wir sie denn haben wollen, eigentlich nur ein Organ der politischen – statt: der rechtlichen – Verständigung sein kann.

Warum wurde erst mit dem PSPP-Urteil des EuGH (und nicht schon bei der OMT- Entscheidung) ein Ultra-vires-Akt festgestellt? Und schließen sich die Feststellung eines solchen Aktes und die Forderung nach einer Verhältnismäßigkeitsprüfung nicht aus?

Fisahn: Nun für die Freaks: Beim OMT-Urteil, den Anleihekäufen mit dem Titel OMT, hat das BVerfG sich mit der Erklärung der EZB und des EuGH zufrieden gegeben, es handele sich um Inflationsbekämpfung – obwohl dies schon zähneknirschend geschah. Denn jeder wusste, es ging um die Rettung Griechenlands und des Euro. Über indirekte Folgen und eine Verhältnismäßigkeitsprüfung wurde in diesem Kontext noch nicht beraten. Diese haben die Kläger erst im zweiten Verfahren, bei dem es um die sogenannten PSPP-Anleihen ging, eingebracht mit dem richtigen Hinweis: die Geldschwemme der EZB führe z.B. zu einem unvertretbaren Anstieg der Immobilienpreise. Das BVerfG hat dieses neue Argument aufgegriffen und dem EuGH vorgelegt. Dabei lässt sich allerdings argumentieren: Entweder die EZB überschreitet ihre Kompetenzen oder nicht – dabei ist es egal, ob sie die Verhältnismäßigkeit der Kompetenzüberschreitung prüft. So sehen Kompromisse des Gerichts eben aus; in der Begründung wurde das mit den Rechtstraditionen der Mitgliedstaaten begründet, die ohne gescheite Abwägung verletzt würden. Die BRD habe ihre Geldpolitik nur der EZB unter der Voraussetzung übergeben, dass diese die Verhältnismäßigkeit ihrer Maßnahmen prüft – das wird gleichsam unterstellt.

Ist es ökonomisch möglich, zwischen der Inflationsbekämpfung und der Wirtschaftspolitik zu unterscheiden, wie die Juristen es tun, wenn sie über die Kompetenzüberschreitung der EZB durch die Anleihekäufe streiten?

Herr: Ökonomisch ist es schwierig zwischen Inflationsbekämpfung und Wirtschaftspolitik streng zu trennen. Das liegt daran, dass geldpolitische Entscheidungen wie die Zinspolitik oder Aufkaufprogramme von Wertpapieren durch die Zentralbank nicht nur auf die Inflationsrate einwirken, sondern auch auf das reale Wachstum der Ökonomie und die Beschäftigung. Erhöht die Zentralbank die Zinssätze, so würgt sie die Investitionstätigkeit ab und erzeugt eine sogenannte Stabilisierungskrise, in der dann auch die Inflationsrate sinkt. Oder, um ein anderes Beispiel zu nennen: Fällt die Ökonomie aufgrund eines externen Schocks oder ungenügender Regulierung des Finanzsystems in eine schwere Krise und sinkt die Inflationsrate auf sehr niedrige Werte oder wird gar negativ, wird die Zentralbank darauf mit Zinssenkungen reagieren.

Die Wirksamkeit der Zinspolitik ist asymmetrisch. Die Zentralbank kann immer eine Stabilisierungskrise erzeugen, aber sie kann dabei scheitern, mit niedrigen Zinssätzen eine Rezession zu beenden. Spitzt sich in einer Krisensituation die Lage in Teilen eines Währungsraumes zu, explodieren die Zinssätze für öffentliche Haushalte oder auch private Unternehmen. Können sich diese nicht mehr refinanzieren und droht eine Deflation, wird die Zentralbank gezwungen sein, durch den Kauf von Wertpapieren die Finanzmärkte und die Ökonomie zu stabilisieren. Dies ist Teil ihrer Funktion als Lender of Last Resort[1] bzw. Stabilisator von Finanzmärkten. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts durchlebten die jungen kapitalistischen Ökonomien die chaotischsten Krisen und ökonomische und politischen Turbulenzen, ausgelöst und verstärkt durch fehlgeleitete Geldpolitik, bis schließlich in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts angeführt von der Bank of England Zentralbanken ihre Funktion als Lender of Last Resort verstanden und übernahmen.

Selbstverständlich könnte die Funktion der Stabilisierung von öffentlichen Haushalten und auch Unternehmen und Banken in relevanten Teilen einer Währungsunion durch eine Zentralregierung im Rahmen massiver Unterstützungen stattfinden. Aber was tun, wenn die Zentralregierung nicht oder sehr spät und ungenügend interveniert oder gar keine Zentralregierung mit einem entsprechenden öffentlichen Haushalt und Kapazität der eigenen Kreditaufnahme existiert und sich die Krise unkontrolliert entwickelt? In einer solchen Situation wird die Zentralbank intervenieren und eine kumulative Krise wie in den 1930er Jahren zu verhindern versuchen. Genau in der beschriebenen Situation befand sich die EZB nach der Finanzmarktkrise und der großen Rezession 2008/09. Sie war faktisch zur Verteidigung der Existenz der EWU gezwungen, eine Geldpolitik zu betreiben, die große wirtschaftspolitische Auswirkungen hatte, denn einen supranationalen fiskalischen Partner hatte sie nicht. Eine simple Trennung der Steuerung einer Zielinflationsrate durch die Zentralbank und deren wirtschaftspolitische Enthaltsamkeit geht somit nur in ökonomisch äußerst stabilen Phasen und existiert in Sonntagsreden.

Fisahn: Diese Unterscheidung war der „Ausweg für Helden“ sowohl für EZB wie für das BVerfG. Allen war klar, dass es bei den Anleihekäufen nie nur um Inflationsbekämpfung geht, sondern um die Rettung des Euro und später um eine Konjunkturpolitik.

III. Worum wurde im Vertragsverletzungsverfahren, das die EU-Kommission im Mai 2021 gegen Deutschland wegen des Urteils von 5.5. 2020 eingeleitet hat, gestritten und welche Ähnlichkeiten und Zusammenhänge hatte dieses Verfahren mit Verfahren gegen Polen und Ungarn?

Fisahn: Die EU-Kommission ist – merkwürdigerweise gedrängt von den deutschen Grünen, die einen mir unerklärlichen und geradezu unaufgeklärten EU-Nationalismus an den Tag legen – der Auffassung, dass das BVerfG mit dem von ihnen angesprochenen Urteil zu den Anleihekäufen der EZB gegen EU-Recht verstoßen hat, weil das BVerfG dessen Vorrang infrage gestellt hat. Dabei hatte das BVerfG den EuGH zunächst ganz freundlich gebeten, zu prüfen, ob die EZB denn Wirtschaftspolitik betreibt und ob sie das denn wohl dürfe. Der EuGH hat darauf ziemlich arrogant oder „schnodderig“ reagiert und das BVerfG auf wenigen Seiten mit einem Text abgespeist, den man kaum als Begründung bezeichnen kann. Darauf hat das BVerfG verlangt, dass – wie das üblich ist – die EZB doch bitte erklären möge, ob sie die wirtschaftspolitischen Folgen ihrer Politik erkannt und in ihre Erwägungen eingestellt habe, also eine Verhältnismäßigkeitsprüfung angestellt habe. Aber das BVerfG wurde auch unfreundlich, baute eine Drohung ein: wenn das nicht geschehe, dürfe sich die Bundesbank nicht mehr an den Anleiheaufkäufen der EZB beteiligen. Nun schien der Ball im Spielfeld der EZB zu liegen, wie man so schön sagt. Diese erklärte, sie könne nicht von einem nationalen Gericht zu etwas verpflichtet werden – womit sie ja recht hat. Aber ein nationales Verfassungsgericht kann eben der eigenen Regierung etwas untersagen – hier sich an der EZB-Politik zu beteiligen.

Etwas versteckt und gut geschminkt hat die EZB dann aber doch eine Erklärung geliefert und das BVerfG lehnte Folgeanträge auf Vollstreckung des Urteils vom Mai 2020 mit der Begründung ab, dass sich Bundesregierung und Bundestag mit den Erklärungen der EZB zur Verhältnismäßigkeitsprüfung befasst hätten und kein Problem entdeckt hätten. Damit hätte die Sache beendet werden können, wären da nicht die EU-Fetischisten, die EU-Kommission drängten, eine Klage beim EuGH einzureichen, mit dem Inhalt: Die BRD verletzt EU-Recht, weil das BVerfG keinen Vorrang des EU-Rechts vor deutschem Verfassungsrecht anerkennt.

Gleichzeitig hat der EuGH geurteilt, dass Polen durch seine Justizreform das Rechtsstaatsprinzip, das die EU-Verträge zur Bedingung für die Mitgliedschaft in der EU erklären, verletzt hat. Gehen wir mal davon aus, dass dies der Fall ist, dass mit den Disziplinarkammern die Unabhängigkeit der Justiz, ein wesentliches Element des Rechtsstaates, verletzt oder gefährdet ist, weil die Regierung unbequeme Richter abberufen und „ausschalten“ kann. Polen sagt nun: Der EuGH mische sich in polnisches Verfassungsrecht ein, dieses sei aber höher zu bewerten als das EU-Recht, weshalb man den Urteilen des EuGH zur Justizreform nicht folgen müsse. Das erklärte die polnische Regierung und das polnische Verfassungsgericht und meint, sich damit in bester Gesellschaft mit dem BVerfG zu befinden. Das ist aber wohl ein Irrtum, auch wenn das Urteil des Polnischen Verfassungsgerichts – nach meiner Kenntnis – bisher nur teilweise ins Englische übersetzt ist und folglich die Argumentation nur begrenzt nachvollziehbar ist.

Der Unterschied ist: Mit dem EU-Vertrag − genauer: Art. 2 und 7, dem sog Rechts­staatsmechanismus − haben sich die Mitgliedstaaten selbst darauf verpflichtet, die Rechtsstaatlichkeit einzuhalten und der EU, genauer dem Rat, die Kompetenz übertragen, dies zu überprüfen. Insofern liegt eine Zuständigkeit der EU vor, die Nationalstaaten haben sich nicht nur verpflichtet, Demokratie, Rechtsstaat usw. zu wahren, sondern auch der EU die Möglichkeit eingeräumt, dies zu prüfen und zu rügen. Ob die Verletzung aber anders, also auf anderem Wege als in Art. 7 EUV beschrieben, nämlich einstimmig durch den Rat, festgestellt und gerügt werden kann und ob durch einfaches EU-Recht ein Sanktionsmechanismus geschaffen werden kann, der denjenigen des Vertrages überschreitet ist eine andere Frage – da bin ich eher skeptisch. Anders gesagt, der EuGH war hier möglicherweise gar nicht zuständig, weil eine Sonderregelung in Art. 7 EUV geschaffen wurde, die das übliche Vertragsverletzungsverfahren „überspielt“. Ich hoffe, ich mache mich keiner Sympathien mit PiS verdächtig; ich meine nur, die Verträge sind auch an dieser Stelle zumindest überholt, aus der Zeit gefallen. Zum Rechtsstaat gehört, dass die Staatsgewalten sich an das selbst geschaffene Recht halten. Wenn der EuGH sich nun für die Rüge der Rechtsstaatlichkeit für zuständig erklärt, die der Vertrag ausdrücklich dem Rat zuweist, verstößt er und die Kommission möglicherweise selbst gegen das Rechtsstaatsprinzip, was sie Polen – und Ungarn – wohl richtigerweise vorwerfen. Ein Paradoxon oder ein Dilemma?

Höpner: Was der EuGH hier macht, lässt sich nur als revolutionär bezeichnen. Artikel 2 EUV listet Grundsätze zum Selbstverständnis der Union auf: die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit und Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit. Diese Posten werden dort aber gerade nicht als vertikal durchsetzbare Rechtspflichten der Mitgliedstaaten bezeichnet, sondern als Werte der Union. Wie Herr Fisahn richtig ausgeführt hat: Die Wächterfunktion über diese Werte wurde an den Rat delegiert, mit dem Artikel-7-Verfahren. In der neuen Lesart von Kommission und EuGH handelt es sich bei den Werten aber um Rechtspflichten, mit denen sich die Verfassungsordnungen der Mitgliedstaaten via Anordnung durch den EuGH transformieren lassen. Ein Paradox und ein Dilemma, meine ich. Paradox, weil offensichtlich gegen den Wortlaut der Verträge. Ein Dilemma, weil die EU hier ja gewiss gutes will – aber wenn es beim Kampf um Rechtsstaatlichkeit an Rechtsstaatlichkeit fehlt, ist das nun einmal ein Problem.

Ich finde beim Vergleich der Konflikte mit Deutschland und mit Polen aber noch etwas anderes bemerkenswert. Im Dezember 2021 hat die Kommission ihren Beschluss zur Einstellung des Vertragsverletzungsverfahrens wegen des Karlsruher PSPP-Urteils verkündet. Die Begründung hat es in sich. Der Mitteilung zufolge habe sich die Bundesregierung zur Einwirkung auf das Bundesverfassungsgericht verpflichtet, damit so etwas wie das PSPP-Urteil nicht noch einmal vorkommt. Genau die Einwirkungen auf Verfassungsgerichte, die im polnischen Fall zu Recht als Beschädigungen der Gewaltenteilung gekennzeichnet werden, gehen offenbar in Ordnung, wenn es der Kommission nützt. Besser kann man wohl nicht illustrieren, in was für Widersprüche sich die EU hier verstrickt. Das geht alles auf Kosten ihrer Legitimität.

Wie beurteilen Sie nun die Beilegung des Rechtsstaatkonfliktes?

Höpner: Beigelegt scheint der Konflikt um die Freigabe der Polen zustehenden Mittel aus dem Aufbaufonds, wenn ich das derzeit[2] richtig deute. Hierüber bin ich froh, denn die Zurückhaltung der Mittel war nicht ohne Willkür. Der Rechtsstaatsmechanismus erlaubt die Zurückhaltung von Mitteln, wenn Gefahren für den EU-Haushalt bestehen. Wenn also EU-Mittel drohen, etwa in Korruptionssümpfen der Mitgliedstaaten zu versickern und die Gerichte zur anschließenden Aufklärung ausfallen. Das ist aber keine Konstellation, die auf Polen gut passt.

Wir sollten hieraus aber nicht schließen, dass der Rechtsstaatskonflikt als solcher beigelegt ist. Wir wissen nicht, was in Polen, Ungarn und anderen Ländern als nächstes geschieht. Auch ich meine, dass die europäischen Nachbarn hier nicht tatenlos zuschauen sollten. Aber diese Konflikte lassen sich nur politisch bearbeiten. Eine spezifisch europarechtliche Lösung gibt es nicht, das Europarecht ist am Ende der Fahnenstange. Mehr noch: Die äußerst kreative, ja revolutionäre neue Lesart von Artikel 2 EUV ist ihrerseits eine Quelle neuer Konflikte. Mir will nicht in den Kopf, warum man in Brüssel und Luxemburg nicht begreift, dass man hier das Gegenteil dessen bewirkt, was man eigentlich bewirken will: Entfremdung statt Annäherung, Desintegration statt Integration. Mir will auch die Neigung der Europarechtswissenschaft nicht in den Kopf, alledem Applaus zu spenden.

Fisahn: Mir scheint, dass der Konflikt zwischen Polen und der Kommission zwar zunächst beigelegt wurde, aber ob das eine Lösung des Problems ist, wage ich zu bezweifeln. Die Korrekturen im Aufbau der polnischen Justiz und die Garantien der Unabhängigkeit scheinen doch eher kosmetisch zu sein – jedenfalls interpretiere ich die Berichte in der Presse, die ich zur Kenntnis genommen habe, so. Wegen fehlender Sprachkenntnisse kann ich das nicht wirklich überprüfen. Wie der Kollege bin ich auch skeptisch, dass Orban oder die PiS wirklich eines Besseren belehrt wurden.

IV Mit dem zweiten Lockdown hat die EZB ihr Anleihe-Programm aufgestockt, das Volumen wurde von 1,35 auf 1,85 Billionen Euro ausgeweitet. Es sieht so aus, als seien die europäischen Schuldenregelungen aufgehoben und als würde die EZB mit den Anleihekäufen in den kommenden Jahren die Haushaltsdefizite in den Euro-Ländern faktisch finanzieren. Zudem scheinen die EZB-Anleihekäufe in der Corona-Krise das wichtigste Mittel aktiver Fiskal-, Struktur- und Wirtschaftspolitik. Mit dem Ukrainekrieg wurden die übriggebliebenen Corona-Anleihen zur Verteidigung der Ukraine umgewidmet. Vor diesem Hintergrund soll zunächst geklärt werden, was Anleihekäufe sind und was sie bewirken. Was sind die finanzpolitischen, wirtschaftlichen und allgemein politischen Funktionen von Anleihekäufen der EZB?

Herr: Zunächst sollte verdeutlicht werden, dass Anleihekäufe das wichtigste Instrument der Geldpolitik nach dem Zweiten Weltkrieg wurden – auch bei der Deutschen Bundesbank. Bei Offenmarktgeschäften mit Rückkaufsvereinbarung kauft die Zentralbank von Banken insbesondere Staatspapiere, die dann nach einer festgelegten in der Regel kurzen Zeitperiode zu einem festgelegten Preis wieder zurückgekauft werden müssen. Der Zinssatz zwischen dem Kauf- und Verkaufspreis bestimmt dann den Refinanzierungszinssatz auf dem Geldmarkt. Letzterer bestimmt dann mit engen Abweichungen den Geldmarktzinssatz, also den kurzfristigen Zinssatz von Krediten zwischen Finanzinstitutionen. An diesem Zinssatz hängen dann unter anderem auch der Zinssatz für Bankeinlagen des Privatsektors. Der langfristige Zinssatz ist jedoch nicht an den Geldmarktzinssatz gekoppelt, kann also deutlich höher sein. Der Refinanzierungszinssatz der EZB über dieses Instrument liegt seit März 2016 bei Null und lag schon nach 2012 bei sehr niedrigen prozentualen Werten.

Outright Monetary Transactions (OMT-Geschäfte) wurden von der EZB 2012 als neues Instrument geschaffen. Als beginnend mit Griechenland im Jahre 2010 eine zunehmende Anzahl von Regierungen in der Europäischen Währungsunion (EWU) Schwierigkeiten hatten, ihre Umschuldungen und Budgetdefizite zu finanzieren, gab es eine Reihe von Unterstützungen durch andere EWU-Länder, schließlich wurde im September 2012 der Europäische Stabilitätsmechanismus (ESM) als permanente Institution zu Unterstützung von Regierungen in der EWU mit Refinanzierungsproblemen gegründet. Was nach 2010 in der sogenannten Staatsschuldenkrise von vielen Mitgliedern der deutschen politischen Elite, aber auch von führenden Personen in der Bundesbank und Vertretern Deutschlands bei der EZB nicht verstanden wurde, ist der Sachverhalt, dass Regierungen einen Lender of Last Resort genauso brauchen wie das Finanzsystem. In allen Ländern der Welt, beispielsweise auch in den USA, kauft die Zentralbank Staatspapiere, falls die Regierung diese nicht im Privatsektor unterbringen kann. Die Alternative wäre, dass die Regierung Polizisten nicht mehr bezahlen oder kein Schreibpapier mehr kaufen kann oder Transferempfänger kein Geld mehr für ihre Miete bekommen.

Selbstverständlich ist diese Form der Staatsfinanzierung potentiell gefährlich und muss reguliert werden. Aber Staaten kaufen auch Panzer und halten Atomwaffen, die töten können. Dass etwas gefährlich ist, besagt somit noch nicht, dass es nicht notwendig ist. Die Staatsschuldenkrise in der EWU spitzte sich aufgrund des Fehlens einer umfassenden Refinanzierungszusage anderer Regierungen und der Beschränkung der EZB zur Übernahme diese Aufgabe radikal zu. Der Euro stand 2012 vor dem Zusammenbruch. Der damalige neue EZB-Präsident Mario Draghi, sicherlich mit politischer Rückendeckung auch der deutschen Regierung, versprach dann im Juli 2012 in einer für den Euro äußerst zugespitzten Situation in seiner „Whatever it takes-Rede“, dass die EZB Regierungen in der EWU durch ihre Interventionen liquide und die Zinssätze für Neuverschuldung niedrig halten würde. Die sogenannte Staatsschuldenkrise war danach wie weggeblasen. Im September wurden dann von der EZB offiziell OMT-Geschäfte eingeführt, die besagen, dass die EZB Regierungen in der EMU unbegrenzt hilft, wenn sie sich den Auflagen des EMS unterwerfen. Bis heute musste die EZB faktisch nicht auf diese Geschäfte zurückgreifen – das Versprechen reichte aus, um die Finanzmärkte zu beruhigen.

Höpner: Trotz alledem bleibt die Eurozone ein Währungsraum ohne, in Bezug auf Staatspapiere, verlässlichen Lender of Last Resort. Wir sollten nicht vergessen, dass es 2012 nicht nur Draghis „Whatever it takes“ gab, sondern auch einen Schuldenschnitt. Das signalisierte den Anlegern, dass Staatsanleihen ein Ausfallrisiko haben. Würden Staatspapiere verlässlich von der Notenbank aufgekauft, wenn die Staaten die Anleihen nicht aus ihren Budgets bedienen können, dann gäbe es unter den Bedingungen der Währungsunion – in denen das Wechselkursrisiko ja definitionsgemäß ausgeschaltet ist – keine Spreads.

Die Währungsunion bleibt eine fragile Konstruktion. Auch wenn sich die Mitgliedstaaten entschließen, den Aufbaufonds zu verstetigen. Unwiderruflich fixierte Wechselkurse, aber 19 unterschiedliche Lohnpolitiken, keine Inflationskonvergenz, grotesk dysfunktionale Haushaltsregeln, kein verlässlicher Kreditgeber der letzten Instanz: der Euro ist aus meiner Sicht noch lange nicht über den Berg.

Welches sind die speziellen Funktionen des Public Sector Purchase Programme (PSPP)?

Herr: Mitte 2014 wurde von der EZB das APP (Asset Purchase Programme) initiiert, das vorsieht, dass die EZB jeden Monat eine bestimmte Nettosumme an Vermögenswerten kauft. Die Nettokäufe schwankten dann ab 2015 um etwa 60 Mrd. Euro monatlich, sanken dann 2019 auf den Wert von null, um dann schon vor dem Ausbruch der Pandemie wieder erhöht zu werden. Sie verharrten dann (Ende April 2022) auf dem Niveau von 20 bis 30 Mrd. Euro monatlich (alle Daten auf der Webseite der EZB ersichtlich). Das APP umfasst mehrere Programme. Das größte Teilprogramm ist das PSPP (Public Sector Purchase Programme), also das Programm zum Kauf von Staatspapieren. Andere Teilprogramme hatten den Zweck zinstragende Papiere von Unternehmen zu kaufen oder bestimmte Finanzmärkte liquide zu halten. Insgesamt hatte das APP den Zweck, die langfristigen Zinssätze auf niedrig Niveaus zu bringen und die Finanzmärkte funktionsfähig zu halten. Ende März 2022 addierte sich der Bestand an Vermögenswerten, die im Rahmen des APPs von der EZB gehalten wurden, auf 3.179 Mrd. Euro, 79 Prozent entfielen auf das PSPP.

Anfang 2021 wurde dann von der EZB das PEPP (Pandemic Ermergency Purchase Programme) beschlossen. In dessen Rahmen wurde bis Ende März 2022 von der EZB Vermögenswerte in Höhe von 1696 Mrd. Euro gekauft, davon 97 Prozent Staatspapiere. Bei diesem Programm war Griechenland einbegriffen, beim PSPP wurde griechische Staatspapiere nicht akzeptiert.

Die Interventionen der EZB sind gewaltig und die Bilanzsumme der EZB erhöhte sich von 10 Prozent am EWU-BIP (Bruttoinlandsprodukt) vor der Finanzmarktkrise 2008 auf um die 70 Prozent derzeit. Etwa 40 Prozent der Staatsschulden in der EWU werden von der EZB gehalten. Die EZB begründet diese Interventionen mit dem Argument, den geldpolitischen Transmissionsmechanismus zu stärken und ihr Inflationsziel zu erreichen – denn bis Anfang 2021 lag die Inflationsrate in der EWU unter dem Inflationsziel der EZB.

Können die Anleihekäufe den Euro retten?

Herr: Faktisch hat die EZB, wie die anderen Zentralbanken in den entwickelten Industrieländern, öffentliche Haushalte massiv mitfinanziert. Ist dies schlecht? Ich denke nicht. Die EZB hat die ökonomische Entwicklung in der EWU stabilisiert und den Zusammenbruch der Währungsunion verhindert. Dabei ist die EZB in einer schwierigen Lage. Denn sie hat keinen starken fiskalischen Partner, der auf zentraler Ebene der EWU hätte Fiskalpolitik betreiben könnte. Eine Währungsunion ohne eine abgestimmte Geld- und Fiskalpolitik (und auch noch einer Reihe anderer Politiken wie etwa der Koordinierung der Lohnentwicklung) funktioniert schlecht und bleibt fragil. Damit bleibt die Last der makroökonomischen Stabilisierung weitgehend bei der EZB hängen.

Was ist das Neue an den Coronabonds?

Herr: Unter dem Druck der Pandemie wurde das NGEU (Next Generation EU) Programm beschlossen. Dies ist ein erster kleiner Schritt in Richtung einer Fiskalunion. Das Programm hat mit aktuellen Preisen ein Volumen von 806 Mrd. Euro, etwa 6 Prozent des EU-BIPs. Finanziert wird das Programm durch die gemeinsame Ausgabe von Coronabonds. Für diese Schulden haftet Deutschland entsprechend seines Anteils am EU-BIP, was etwa 27 Prozent beträgt. Es ist zu hoffen, dass zumindest in der EWU eine weitere fiskalische Integration stattfindet, auch um die Geldpolitik zu entlasten.

Wie müsste diese fiskalische Integration aussehen, was ist dafür notwendig?

Herr: Eine notwendige fiskalische Integration, wenn sie kommt, würde vermutlich auf die EWU begrenzt sein, was auch sinnvoll ist und wovon hier ausgegangen wird. Elemente einer Fiskalunion könnten folgendermaßen aussehen. Es könnte ein bestimmter Prozentsatz der Mehrwert- und Einkommensteuer an den zentralen EWU-Haushalt übertragen werden, wobei der EWU-Haushalt ein Teil des EU-Haushaltes wäre. In diesem Prozess sollten möglichst für die gesamte EU das Steuersystem so abgestimmt werden, dass es zwischen den Steuersätzen und Bemessungsgrundlagen der Steuern nur geringe Abweichungen gibt. In einem ersten Schritt könnte festgelegt werden, in welchen Bereichen die zusätzlichen Einnahmen verausgabt werden dürfen, etwa für öffentliche Investitionen. Mittelfristig sollten die Einnahmen der EWU-Zentralebene deutlich von derzeit um die 1 Prozent auf über 10 Prozent am EWU-BIP steigen. Ein fiskalisches Zentrum muss das Recht bekommen, eigene Kredite aufzunehmen – und dies nicht nur in besonderen Situationen. Die Kreditaufnahme könnte in einem ersten Schritt für öffentliche Investitionen, Regionalpolitik oder eine gemeinsame Verteidigung verwendet werden. Von zentraler Bedeutung ist schließlich die Möglichkeit der Zentralebene, aktive diskretionäre Fiskalpolitik zu betreiben. Zu diesem Zweck sollte sich die EWU-Zentralebene verschulden dürfen. Als Restriktion könnte man einbauen, dass mittelfristig die öffentliche Schuldenquote des Zentralhaushaltes nicht über einen bestimmten Anteil am BIP steigen darf, beispielsweise 20 Prozent. Wie sich dann langfristig die EWU bzw. EU entwickeln, kann hier offenbleiben. Wichtig ist, dass das Europäische Parlament bzw. der Teil, der aus den EWU-Ländern gewählt wurde, die Ausgaben kontrolliert und an Macht gewinnt. Die Europäische Kommission könnte sich im Fiskalbereich zu einer Regierung entwickeln, der Europäische Rat zu einer zweiten Kammer ähnlich dem Bundesrat.

Höpner: Folgendes Problem hat meines Erachtens Gewicht: Die von Herrn Herr aus guten ökonomischen Gründen geforderte aktiv-europäische Fiskalpolitik wird stets Umverteilungseffekte haben. Diese Effekte sind bei umverteilender Fiskalpolitik besonders sichtbar, sie treten aber auch im Fall gemeinsamer Verschuldung mit anschließend diskretionärem Einsatz der Mittel auf. So etwas ist normativ zu rechtfertigen, wenn es um Umverteilung von den reicheren zu den ärmeren Ländern geht. Das kennen wir von der europäischen Strukturpolitik und jüngst vom Aufbaufonds. Um aber die makroökonomische Situation der Eurozone während der ersten Dekade des Euro mit fiskalischen Mitteln zu bearbeiten, hätten die ärmeren, aber boomenden und inflationierenden südeuropäischen Länder Geld an das reichere, aber stagnierende Deutschland überweisen müssen. Aus rein makroökonomischen Gesichtspunkten wäre das absolut stimmig gewesen. Die normative Stabilisierbarkeit solcher Lösungen steht aber auf einem anderen Blatt. Das Ganze wäre uns wahrscheinlich schnell um die Ohren geflogen. Meine Skepsis gegenüber der Machbarkeit der eigentlich ja wünschenswerten Glättung der innereuropäischen Konjunkturverläufe durch Fiskalpolitik auf europäischer Ebene ist daher deutlich größer als die von Herrn Herr.

V Seit der Finanzkrise 2007/2008 sind die Anleihekäufe gewissermaßen zu einem Standardinstrument der EZB geworden. Im Folgendem soll es um die vertraglichen Grundlagen für diese Anleihekäufe und den juristischen Streit über sie gehen. Wie sehen Sie vor diesem Hintergrund das Verbot der monetären Haushaltsfinanzierung (Art. 123 AEUV), den Haftungsausschluss der Mitglieder untereinander (Art. 125 AEUV) oder das Gebot der Austerität (Art. 126 AEUV)? Sind die Anleihekäufe kompetenzwidrig?

Fisahn: In der Tat scheinen die EU-Verträge mit der Krisenbewältigung nicht vereinbar. Die Verträge − genauer Art. 123 bis 126 AEUV – werden insbesondere vom deutschen Verfassungsgericht sehr eng ausgelegt. Das BVerfG verlangt Haushaltsdisziplin und eine haushaltspolitische Gesamtverantwortung des Bundestages, der es entgegenstehe, wenn durch die EU oder andere Staaten Verbindlichkeiten für die BRD entstehen, die nicht vom Bundestag beschlossen werden. Dabei darf der Bundestag nach der Rechtsprechung des Gerichts auch keine unkalkulierbaren Risiken übernehmen, auch das widerspreche der haushaltspolitischen Gesamtverantwortung und damit dem Demokratieprinzip. Die Rechtsprechung des Gerichts ist an der Vorstellung ausgerichtet, dass Schulden künftige Generationen belasten, wobei nie die Folgenabwägung, die von der EZB eingefordert wurde, angestellt wird, also der Frage nachgegangen wird: Was ist eine stärkere Belastung, ein marodes Autobahn- und Schulsystem oder Staatsschulden? Diese Rechtsprechung findet ihre Grundlage in den genannten Artikeln der Verträge, die aber auch weiter ausgelegt werden könnten.

Wie auch immer: Die Verträge, die auf deutsche Intervention den Spielraum für Kredite der EU und Mitgliedstaaten seit Maastricht einschränken und die extrem restriktive Auslegung durch das BVerfG engen die finanzpolitischen Spielräume stark ein. Die Anleihekäufe durch die EZB nach der Finanzkrise wurden nicht als wirtschaftspolitisch sinnvoll gerechtfertigt, sondern wegen der engen Spielräume als Maßnahmen zur Angleichung der Inflationsrate und um den geldpolitischen Wirkmechanismus in allen Mitgliedstaaten gleichmäßig anwenden zu könne deklariert, also als Inflationspolitik. Dabei wussten alle, dass diese Erklärung der EZB nicht zutreffend ist – das habe ich schon angesprochen.

Die Corona-Hilfen und die Eigenmittelbeschlüsse der EU, um die Coronakrise zu bewältigen liegen zur rechtlichen Beurteilung beim BVerfG. Aber das BVerfG hat den Antrag auf einstweilige Anordnung abgelehnt, über den dem Bundespräsidenten untersagt werden sollte, das Eigenmittelratifizierungsgesetz auszufertigen. Das muss erklärt werden. Grundsätzlich ist die EU auf Eigenmittel festgelegt, was bisher so verstanden wurde, dass sie keine Schulden aufnehmen, d.h. ihre Politik nur aus den von den Mitgliedstaaten zugewiesenen Mittel finanzieren darf. Mit der Coronakrise haben die Mitgliedstaaten diesen in Art. 311 AEUV festgelegten Grundsatz aufgegeben und beschlossen, am Kapitalmarkt Schulden aufzunehmen, mit den der „Wiederaufbau“ in den Mitgliedstaaten finanziert werden soll. Es handelt sich um die bekannten 750 Mrd. Euro, die an die Mitgliedstaaten z.T. als Kredit, z.T. als Zuschuss ausgezahlt werden sollen, was zu einer Umverteilung von Geld führen dürfte. Die Kommission hat Art. 311 AEUV nun weit ausgelegt und die Kreditaufnahme für zulässig gehalten, wenn die Parlamente der Mitgliedstaaten zustimmen. Das ist in Art. 311 Abs. 3 AEUV geregelt, aber eigentlich für „das System der Eigenmittel“ nicht für die Erweiterung der Eigenmittel vorgesehen. Es bestand also Anlass, gegen diese Ausweitung der Eigenmittel auf Kredite zu klagen. In der Hauptsache ist noch nicht entschieden, aber das BVerfG meinte, bei einer Abwägung überwiegen die Nachteile, wenn Deutschland nicht zustimmt, hat den Weg also frei gemacht für den letzten Schritt der Ratifizierung, die Unterzeichnung durch den Bundespräsidenten. Das Hauptsacheverfahren ist damit nicht entschieden, aber der Beschluss ist ein Indiz dafür, dass das BVerfG – in neuer Zusammensetzung – seine Präferenz für eine restriktive Haushaltspolitik aufgibt oder abschwächt. Im Grunde gilt aber auch hier: Die Festlegungen in den Verträgen sind viel zu eng, legen die EU auf eine bestimmte Konzeption von Wirtschaftspolitik fest, nämlich eine, die der neoliberalen Ideologie folgt. Das ist angesichts der zukünftigen Herausforderungen nicht mehr passend, auch wenn man denn meint, dass es das jemals war.

Die sozial-ökologische Transformation oder auch nur die ökologische Transformation zu einem grünen Kapitalismus kann nur gelingen, wenn die haushalts- und finanzpolitischen Spielräume erweitert werden. Deshalb drängt die Kommission und viele Mitgliedstaaten auf eine Änderung beispielsweise der Schuldenobergrenze. Zum jetzigen Zeitpunkt ist aber noch nicht absehbar, ob und was entschieden wird. Die Kommission und auch das deutsche Wirtschaftsministerium, haben wohl erkannt, dass die neue weltpolitische Situation, Klimawandel und Konkurrenz mit China in der EU eine neue Industriepolitik erfordert, dass der Umbau der Wirtschaft nicht durch Märkte initiiert und vollzogen werden wird. Dazu braucht es staatliche Beihilfen im größeren Umfang oder eben sog. Wettbewerbsverzerrungen, die schon bei der Entwicklung des Impfstoffes geduldet wurden, aber eigentlich den Verträgen widersprechen. Hier sind weitgehende Neuorientierungen im Gange, die mindestens zu einer Neuinterpretation, besser zu Änderungen und klaren neuen Regeln in den EU-Verträgen führen müssen.

Was ist vom EuGH zu den Anleihekäufen der EZB noch erwartbar?

Höpner: Ich denke, in politischer und ökonomischer Hinsicht sind wir uns alle einig, dass die EZB ein Instrument braucht, um Spreads auch bei einem Zinssatz von größer als Null schließen zu können. Das angekündigte Transmission Protection Instrument zielt genau hierauf. Es wird sich gewiss nicht nur ökonomisch, sondern auch verfassungsrechtlich bewähren müssen. Der EuGH sollte uns hier keine Sorgen bereiten. Aber wie steht es um das BVerfG?

Die Sache ist knifflig, denn mit dem Ziel, die Inflation zurück auf die Zielmarke von 2 Prozent zu bringen, lassen sich das Instrument und sein konkreter Einsatz nicht mehr begründen, anders als noch beim PSPP. Man wird also, wie der Name des Instruments ja bereits nahelegt, mit dem Transmissionsmechanismus der Geldpolitik argumentieren müssen, anders geht es nicht. Dass der Mechanismus im Spannungsverhältnis zum Verbot der monetären Haushaltsfinanzierung stehen, ist unumgänglich und das ist ein Einfallstor für rechtliche Einwände. Auf alle Fälle sollte die EZB, wenn sie das Instrument einsetzt, eine umfängliche Verhältnismäßigkeitsprüfung vornehmen und diese sorgfältig dokumentieren. Also ganz konkret: Was haben wir in der Vergangenheit über die Nebenwirkungen von differenzierten, also von Land zu Land unterschiedlich getätigten Anleihekäufen gelernt? Und in welchem Verhältnis stehen sie zu den intendierten Hauptwirkungen?

Unter dem Strich bin ich optimistisch, dass so ein Instrument nicht an Karlsruhe scheitern würde. Wie Herr Fisahn erklärte, hat ja auch das OMT-Programm eine Prüfung durch das deutsche Verfassungsgericht bestanden. Auch hier ging es um differenzierte Ankäufe mit dem Ziel, Spreads zu schließen. Das geht also im Prinzip auch aus Perspektive Karlsruhes. Die Frage wird nun sein: Geht es auch, ohne dass sich die betroffenen Länder gleichzeitig einem Anpassungsprogramm unterwerfen? Mein Optimismus rührt daher, dass sich Karlsruhe ja auch im PSPP-Konflikt bemüht hatte, in praktischer Hinsicht keine Schäden anzurichten. Zudem haben wir eine andere Zeit, eine andere Problemlage, und nicht zuletzt: einen anders besetzten Zweiten Senat.

Herr: Ich möchte zwei Argumente unterstützen, die Andreas Fisahn angesprochen hat. Der erste Punkt ist die unsägliche Argumentation mit der Generationengerechtigkeit, welche durch Staatsschulden untergraben werden soll. Es sollten zunächst zwei unverrückbare Tatsachen verstanden werden. Erstens, wenn sich Schulden von einer Generation zur nächsten übertragen, dann übertragen sich automatisch auch die Forderungen. Wer in der zukünftigen Generation dann belastet wird, hängt unter anderem davon ab, wer die Forderungen hält und wer die Schulden begleicht. Es gibt sicherlich eine Großzahl von Erben, die Staatspapiere von ihren Eltern in ihr Portfolio mit großer Freude aufnehmen und dies nicht als Belastung empfinden.

Zweitens, die Jungen müssen in einer geschlossenen Ökonomie immer die Alten unterhalten – und zwar unabhängig von der Höhe der Staatsschuld. Da gibt es logisch keine andere Option. Das gilt übrigens auch für das Rentensystem, also für ein Umlagerentensystem ebenso wie für ein kapitalgedecktes und eines, das keinerlei staatliche Unterstützung für die Alten kennt. Beim kapitalgedeckten Rentensystem gibt es allerdings die Möglichkeit, dass die jetzige Generation im Ausland investiert und dann das Ausland ein Teil der zukünftigen Renten bezahlt. Aber wollen wir uns bei Rentenzahlungen etwa von China abhängig machen oder den USA? Und was passiert, wenn hohe Inflation all die schönen Forderungen wertlos macht und Aktienunternehmen verstaatlicht werden?

Das zweite Argument von Herrn Fisahn ist, dass die jetzige Generation der zukünftigen marode Schulen und eine generell schlechte Infrastruktur hinterlassen kann. Man könnte auch die ökologischen Probleme nennen, die hinterlassen werden. Hier kann die derzeitige Generation mehr für die zukünftige tun. Dies spricht aber eher für verstärkte öffentliche Investitionen und eher höhere Staatsschulden als weniger.

Staatsschulden sollten allerdings nicht permanent anwachsen, da dies die makroökonomische Konstellation fragiler machen würde – beispielsweise bei einem plötzlich deutlich ansteigenden Zinsniveau. Aus diesem Grunde sind Regeln für Staatsverschuldung sinnvoll. Achim Truger, einer der Mitglieder des Sachverständigenrates, schlug wiederholt die goldene Regel der Fiskalpolitik vor, die vor der Schuldenbremse auch in der deutschen Verfassung verankert war. Diese Regel sieht eine Begrenzung der neuen Staatsschulden auf Höhe der staatlichen Investitionen vor. Konkret: Ich denke eine gute Regel wäre, dass die mittelfristige Neuverschuldung der öffentlichen Haushalte die mittelfristigen öffentlichen Bruttoinvestitionen nicht übersteigen sollte.

VI Was bedeuten es für die Europapolitik der Bundesrepublik, dass Bundestag und Bundesrat die Erklärung des EuGHs zum Urteil des BVerfG für ausreichend gehalten und anschließend den Corona-Bonds zugestimmt haben?

Fisahn: Gemeint sind die 750 Mrd. (je nach Zeitpunkt der Berechnung werden auch andere Zahlen genannt), welche die EU selbst als Schulden aufgenommen hat, um damit Konjunkturprogramme in den Mitgliedstaaten zu finanzieren, wobei das Geld an letztere z.T. als Kredit und z.T. als Zuschuss fließen soll. Das Programm wurde zunächst als Corona-Bonds kritisiert, dann aber im Bundestag mit großer Mehrheit verabschiedet. Gesprochen wird nicht mehr von Bonds, sondern von Fonds. Die Bezeichnung „Corona-Bonds“ sollte wohl insbesondere in Deutschland Abwehrreflexe auslösen, weil sich die Bundesregierung während der Finanzkrise vehement gegen eine „Vergemeinschaftung der Schulden“ durch sog. Euro-Bonds gewehrt hatte. Dahinter verbarg sich erstens die Auffassung, dass die BRD – im Vergleich zu anderen − eine solide Schuldenpolitik betreibe, was zweitens mit dem Egoismus oder dem Ausschluss von Solidarität, der tief in den Genen der neoliberalen Ideologie verankert ist, gepaart wurde. Der Ansatz ist schlicht gescheitert, weil die EZB ihre Konjunkturprogramme betrieben hat, ohne die so zu nennen. Die EZB hat das Geld billig gemacht und Staatsanleihen aufgekauft, also die Schulden indirekt vergemeinschaftet.

Mit dem Corona-Fonds, welchen Namen er nachher auch immer bekommen hat, hat die Politik gelernt. Erstens hat sich die Kommission das Heft des Handelns zurückerobert – was erstens unter Gesichtspunkten der Legitimation und Verantwortung richtig ist und zweitens auch unter Gesichtspunkten einer gezielten Steuerung. Geldpolitik muss notwendig ungezielt wirken und hat offenbar nicht-intendierte Nebenwirkungen – mindestens eine Rally bei Aktien und bei den Immobilienpreisen, vielleicht auch als Auslöser der Inflation. Wie dem auch sei: Mit dem Fonds, der durch Schulden der EU finanziert wird, hat die EU gegen die bisherige Interpretation der Verträge verstoßen, die besagte: die EU darf keine Schulden machen. Wirtschaftspolitisch ist das m.E. richtig: keynesianische Wirtschaftspolitik wird so in der EU möglich. Rechtspolitisch reiht sich der Beschluss allerdings ein in eine Reihe von Umdeutungen der Verträge, etwa im Kartellrecht oder Beihilfenrecht, die – das erwähnte ich schon – für eine sozial-ökologische Transformation notwendig sind. Das ist rechtsstaatlich natürlich problematisch. Das ist ja das Prinzip des Rechtsstaats: die Regierenden sind genauso an das Recht gebunden wie die „Untertanen“. Weil aber die Verträge im gegenwärtigen Zustand der EU nicht geändert werden können, muss man sie wohl uminterpretieren – und das geschieht gerade −, will man einen ökologischen Umbau hinkriegen und in der Konkurrenz mit China bestehen. Interessant ist, dass auch der EuGH von seiner radikal wirtschaftsliberalen Position abweicht und Tarifbindungsklauseln oder Schutzbestimmungen für Beschäftigte aus anderen Mitgliedstaaten (Stichwort Entsenderichtlinie) als vereinbar mit den Grundfreiheiten akzeptiert. Kurz: Der Corona-Fonds reiht sich ein in eine Reihe von Entscheidungen ein, die einen Politikwechsel in der EU signalisieren – ohne, dass dieser natürlich in Stein gemeißelt ist. Und diesen Politikwechsel kann man nur begrüßen.

VII. Wie geht die Krise der EU als Institution und ihre Eurokrise aus?

Fisahn: Mit der neuen Inflation in der gesamten EU steht die EZB vor einem Dilemma, weil sich gleichzeitig eine Rezession ankündigt. Ohne ausreichend Gas oder mit erheblich teurerem Gas – da muss man kein Prophet sein – wird es einen Einbruch in der Produktion und beim BIP geben – vermutlich in der gesamten EU. Eigentlich müsste das Geld also billiger gemacht werden, um die Rezession aufzufangen. Anleihekäufe gehören in die Politik des billigen Geldes. Andererseits müsste es teurer werden, um die Inflation einzudämmen. Letzteres könnte aber für einige Staatshaushalte problematisch werden, weil ja höhere Zinsen bedient werden müssten. Bisher versucht sich die EZB in Geisterbeschwörung nach dem Motto: die Inflation geht vorüber, sie ist nur Ergebnis der Kauflust nach Corona und des Krieges in der Ukraine. An dieser Erklärung werden Zweifel immer lauter, was die Geldpolitik als Mittel der Wirtschaftspolitik quasi neutralisiert. Will die EU aus dieser und den anderen Krisen, insbesondere der ökologischen Krise herauskommen, ohne die Gesellschaften noch weiter zu spalten, müssten radikalere Umbaumaßnahmen im Sinne einer anderen Wirtschaftspolitik erfolgen.[3] Dem stehen die Verträge und die Trägheit bürokratischer und politischer Routinen entgegen. Der Fokus auf den Konflikt mit Russland bis zu Baerbocks Ansinnen, Russland in die Knie zu zwingen, befördern Lösungsansätze sicher nicht. Und es ist zu befürchten, dass diese Konfrontationspolitik auch nach einer wie immer gearteten Beendigung des heißen Kriegens weitergehen wird. Bitte fragen Sie jetzt nicht, wie das Dilemma oder besser diese Dilemmata zu lösen wären.

Wie stellen sich die Anleihekäufe angesichts der aktuellen Inflationsentwicklung dar?

Herr: Die EZB hat im Juni 2022 angekündigt, die massiven Programme zum Ankauf von Staatspapieren und anderen Vermögenswerten im Jahre 2022 auslaufen zu lassen. Konkret wurde entschieden, den Nettoerwerb ab Juli 2022 einzustellen. Dies ist ein Teil der restriktiveren Geldpolitik zur Bekämpfung der ab Mitte 2021 anziehenden Inflationsrate, welche durch die steigenden Energiepreise im Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine weiter angeheizt wurde. Der andere Teil restriktiver Geldpolitik sind steigende Zinssätze. Am 21. Juli 2022 hat der EZB-Rat beschlossen, die Leitzinssätze sofort um 0,5 Prozent zu erhöhen – die erste Erhöhung nach 11 Jahren. Weitere Zinssatzerhöhungen sind angekündigt. Lassen Sie mich zwei Bemerkungen zu diesen geldpolitischen Maßnahmen machen:

Erstens werden mit hoher Wahrscheinlichkeit die Refinanzierungskosten nach dem Ende der Aufkaufprogramme für Staatspapiere für hochverschuldeten EWU-Länder kräftig ansteigen und diese potentiell in (Re-)Finanzierungsprobleme bringen. In diesem Fall könnten OMT-Geschäfte in Anwendung kommen, die es erlauben in Probleme geratene öffentliche Haushalte durch die EZB zu finanzieren. Der Haken dabei ist, dass bei diesen Geschäften sich die betreffenden Regierungen an den ESM wenden und dessen Auflagen akzeptieren und erfüllen müssen. Dies kann einerseits langwierig sein und kann andererseits zu politischen Turbulenzen führen, da sich Länder nicht dem ESM unterwerfen wollen. Ausreichende Erfahrungen mit OMT-Geschäften gibt es noch nicht. Die EZB hat dieses Problem erkannt und zusammen mit der Zinserhöhung im Juli 2022 das Transmission Protection Instrument (TPI) ins Leben gerufen, das Herr Höpner oben bereits angesprochen hat. Im Rahmen dieses Instrumentes darf die EZB unbegrenzt Staatspapiere von EWU-Mitgliedsländern kaufen, wenn öffentliche Haushalte durch ungerechtfertigt hohe Zinssätze oder Probleme der Refinanzierung belastet werden. Zwar gibt es eine Liste von Kriterien, welche bei diesen Interventionen erfüllt sein müssen, jedoch entscheidet die EZB selbst und diskretionär, ob eine unbegrenzte Finanzierung angebracht ist. Zudem soll bei den alten Aufkaufprogrammen die Reduzierung des Bestandes an Wertpapieren langsam und flexibel erfolgen. Damit kann die EZB weiterhin die umfassende Rolle als Lender of Last Resort in der EWU ausfüllen.

Zweitens stehen die EMU und auch andere Währungsräume durch die ansteigende Inflationsrate vor einem schwierigen Dilemma. Die Preissteigerungswelle wird durch die steigenden Energie- und Nahrungsmittelpreise sowie Engpässe in Lieferketten angetrieben.  Dies senkt die Realeinkommen deutlich und senkt auch die Nachfrage nach Gütern und Dienstleistungen. Es besteht die ernsthafte Gefahr, dass eine Preis-Lohn-Preis-Spirale und damit ein Verteilungskrieg den Inflationsprozess weiter verstärkt. Geschieht dies, besteht eine ähnliche Konstellation wie in den 1970er Jahren. Damals mussten die Zentralbanken früher oder später mit aller Brutalität den Inflationsprozess stoppen mit hohen Kosten bezüglich von Wachstum, Einkommen und Beschäftigung in den Industrieländern, großen politischen Veränderungen und massiven Problemen für Entwicklungsländer. Man denke an die Wahl von Margret Thatcher (1979) im Vereinigten Königreich oder Ronald Reagan (1980) in den USA und an das „verlorene Jahrzehnt“ in den 1980er Jahren in Lateinamerika.

Welche Wirtschaftspolitik ist zu empfehlen? Im Idealfall müsste der Inflationsschub ohne Reaktion der Nominaleinkommen durch die Ökonomie laufen, wobei besonders betroffene Gruppen durch staatliche Maßnahmen wie Transfers oder auch Mindestlohnerhöhungen geschützt werden. Auch Lohnerhöhungen in Form einer moderaten Festsumme für alle und nicht eines Prozentsatzes könnten ein Ansatz sein. Die EZB könnte bei Konstellationen, welche die Inflationsrate nicht antreiben, auf restriktive Geldpolitik mit folgender „Stabilisierungskrise“ verzichten. Staatliche Politiken zur Abfederung der Folgen des Inflationsschubs nur bei besonders Betroffenen und Tarifverhandlungen ohne kräftige Lohnerhöhungen sind jedoch die kommenden Jahre schwierig durchzusetzen. Die Geldpolitik steht somit vor äußerst schwierigen Entscheidungen und die EWU vor potentiell dramatischen politischen Zuspitzungen innerhalb und zwischen Ländern.

Höpner: Eine Preis-Lohn-Spirale, gegen die die EZB am Ende mit einer deutlichen Zinserhebung vorgehen müsste, wäre fatal. Da bin ich ganz bei Herrn Herr. Meine Vermutung ist, dass sich eine solche Spirale in Deutschland vermeiden oder zumindest sehr klein halten lässt. Aus einer Reihe von Gründen: wegen der sehr wettbewerbssensitiven Lohnfindung im Exportsektor, wegen der Einschränkung der Spielräume der öffentlichen Lohnpolitik durch den Fiskalföderalismus, wegen der geringen Tarifbindung bei den privaten Dienstleistungen, wegen der durch die Arbeitnehmerentsendung auf die Spitze getriebenen transnationalen Lohnkonkurrenz im Bausektor. Was für Deutschland gilt, gilt aber nicht notwendig für andere Eurozonen-Länder. Man denke etwa an Belgien, wo man bis heute die Inflationsindexierung von Löhnen hat. Meine Befürchtung ist daher, dass sich im Euroraum unterschiedliche Preis-Lohn-Spiralen entwickeln, also mittelfristig unterschiedliche Inflationsraten stabilisieren könnten. Das ist genau, was in einer Währungsunion nicht passieren darf. Auf einheitliche Preis-Lohn-Spiralen kann die EZB stimmig reagieren, wenn auch zum Nachteil von Wachstum und Beschäftigung – aber nicht auf unterschiedliche Inflationsraten. Auch differenzielle Anleihekäufe oder eine umverteilende transnationale Fiskalpolitik würden hier nicht wirklich helfen, denn keines dieser Instrumente würde eine transnationale Lohnkoordination bewirken. Daher halte ich die aktuellen angebotsseitigen Preisschübe für eine große Gefahr für die Eurozone.

Der Krieg in der Ukraine stellt die gesamte Weltordnung auf den Kopf – die Rede ist von einer Zeitenwende. Dafür muss sich die EU nicht nur nach innen, sondern auch nach außen neu aufstellen. Können die diskutierten Probleme nach dem Ende des Ukrainekrieges durch eine Revision der EU-Verträge gelöst werden? Und wie könnte diese Lösung aussehen?

Herr: Der Krieg in der Ukraine könnte einen Anschub geben, die Integration in der EU bzw. EWU beschleunigt voranzutreiben. Dies würde der EU ein größeres Gewicht im internationalen Geschehen und größere Unabhängigkeit in einer neuen Weltordnung geben, die vermutlich multipolarer sein wird als die derzeitige. So erscheint es widersinnig, dass die EU kein gemeinsames Raketenabwehrsystem hat und keine europäische Armee existiert. Schon Helmut Schmidt und Giscard d’Estaing hatten bei der Schaffung des Europäischen Währungssystems (EWS) im Jahre 1979 die Vision eines stärkeren und unabhängigeren Europas. Es bietet sich hier das schon erwähnte Zwiebelmodell an, mit einer Staatenbildung im Rahmen der EWU, enger Integration im Rahmen der EU und enger Kooperation mit anderen europäischen Staaten. In einem solchen Modell könnten nach dem Ukrainekrieg faktisch alle europäischen Länder mit unterschiedlicher Intensität am europäischen Projekt teilnehmen. Zum Schluss möchte ich noch auf das kürzlich von Michael Heine und mir erschienene Buch „Die Europäische Zentralbank“ aufmerksam machen, in dem viele der hier gestellten ökonomischen Fragen ebenfalls diskutiert werden.[4]

Fisahn: Ich prognostiziere, was ja schwierig ist, weil es sich immer auf die Zukunft bezieht, dass es keine Revision der Verträge geben wird. Die 27 − oder wie viele auch immer dann zur EU gehören – Mitgliedsstaaten, die den Vertrag nur einstimmig ändern könnten, sind nicht mehr handlungsfähig. Was schon gegenwärtig stattfindet ist eine Uminterpretation der Verträge – auch durch den EuGH. Plötzlich wird der Sozialstaat oder „das Soziale“ ebenso hervorgeholt wie die Umwelt und gegen ehemals hehre Prinzipien der Marktsteuerung in Anschlag gebracht. Damit mich niemand missversteht: das ist gut so, aber ehrlicher wäre es, die grundlegenden Vorschriften zu ändern, statt sie neu zu interpretieren. Denkbar ist allenfalls, dass sich Koalitionen der Willigen bilden, die neue Vereinbarungen treffen, damit der sozial-ökologische Umbau gelingen kann.

Höpner: Die Kluft zwischen den Vertragsgrundlagen und den tatsächlichen Vorgängen in EU und Eurozone wird immer größer, und sie wird sich nicht ewig durch immer kreativere Vertragsinterpretationen übertünchen lassen. Irgendwann wird man daher eine Vertragsrevision angehen müssen. Das von Herrn Fisahn angesprochene Konsenserfordernis ist brutal, zumal in einigen Ländern ja noch Volksabstimmungen obendrauf kommen. Ich glaube, dass solche Abstimmungen nur gewonnen werden können, wenn die Revision vertikal verteilungsneutral ist: neue Befugnisse der EU-Organe, wo es wirklich nötig ist, gleichzeitig aber Rückzug aus souveränitätssensitiven Bereichen, in denen die Integration möglicherweise zu weit gegangen ist. Und bei letzterem denke ich gar nicht in erster Linie an die Kompetenzen des Unionsgesetzgebers, sondern vielmehr an die Rücknahme extensiver Überinterpretationen europäisch geschützter Individualrechte, insbesondere der Binnenmarktfreiheiten. Ähnliches gilt für die Spielräume der mitgliedstaatlichen Industriepolitik und der staatsnahen Infrastruktursektoren. Für eine solche, unter dem Strich verteilungsneutrale Generalüberholung der Verträge ließe sich vielleicht – hoffentlich – die notwendige Zustimmung mobilisieren.

Wir danken Ihnen für das Gespräch.

Das Gespräch führten Hartmut Aden, Rosemarie Will und Sven Lüders.

 

 

Anmerkungen:

[1] Letzte Instanz zur Refinanzierung, die als Kreditgeber die Insolvenz von Schuldnern (bzw. in diesem Fall: den Staatsbankrott) vermeiden soll.

[2] Stand: Mitte August 2022, Anm. der Redaktion.

[3] S. dazu den Beitrag von Land in diesem Heft.

[4] Michael Heine & Hansjörg Herr: Die Europäische Zentralbank, Metropolis-Verlag: Marburg 2022; s. dazu die Besprechung in diesem Heft.

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