Die Konstruktionsfehler der Eurozone, die QE-Programme der EZB und das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom Mai 2020
Die Europäische Währungs- und Wirtschaftsunion und das dazu gehörige Euro-Währungssystem haben eine Reihe grundlegender Konstruktionsfehler. Sie sind die Ursache für erhebliche Divergenzen in den Handels- und Zahlungsbilanzen, für hohe und auseinanderlaufende Arbeitslosenquoten sowie eine zunehmend ungleiche Wirtschafts- und Einkommensentwicklung in den Mitgliedsstaaten.
Im Finanzsystem stehen sich gewaltige Geldvermögen auf der einen und eine wachsende Verschuldung von Haushalten, Unternehmen und Staaten auf der anderen Seite gegenüber. Die damit verbundene Ausweitung spekulativer Geldbewegungen und Fehlallokation wirtschaftlicher Ressourcen verhindern eine effektive ökologisch und sozial ausgerichtete gemeinsame Wirtschaftsentwicklung und zerstören die Grundlagen der Europäischen Union. Sie bergen die Gefahr von Spekulationsblasen, Finanzkrisen und das Risiko eines Zusammenbruchs des Finanzsystems, beispielsweise bei Staatsinsolvenzen einzelner Mitgliedsstaaten. Mit den derzeitigen Regulationsdefiziten ist ein dauerhaftes Funktionieren des Euro-Währungssystems nicht möglich.
Die Europäische Zentralbank (EZB) versucht mit ihrer Geldpolitik, diese Krisen und Risiken zu kompensieren, indem sie das Zinsniveau niedrig hält und durch den Aufkauf von Wertpapieren Zentralbankgeld in die Finanzmärkte pumpt. Damit soll einerseits die Wirtschaft stimuliert werden (was nur eingeschränkt gelingt) und zugleich die Insolvenz der Länder mit defizitären Leistungsbilanzen verhindert werden, indem diesen Staaten ermöglicht wird, schuldenfinanzierte Ausgaben zu tätigen. So konnte ein Zusammenbruch des Euro-Systems verhindert werden. Die Geldpolitik der EZB kann die strukturellen Funktionsdefizite des Eurosystems jedoch nicht beseitigen, sondern nur kompensieren – und auch dies nur partiell und mit einer Reihe problematischer Nebenwirkungen. Und ob eine solche Politik, die offiziell auf die Zielinflationsrate, faktisch aber auf die Finanzierung der Staaten ausgerichtete Geldpolitik der EZB noch in deren Kompetenzbereich liegt, ist äußerst umstritten.
Im folgenden Beitrag beschreibt Rainer Land die grundlegenden Funktionsdefizite des Euro-Währungssystems. Anschließend skizziert er die verschiedenen Ebenen, auf denen eine weitreichende Reform des Eurosystems ansetzen müsste: die Durchsetzung einheitlicher Inflationsraten in den Mitgliedsländern der Eurozone; ein Verfahren zur Regulation der Lohnentwicklung und ein harmonisiertes Lohnstückkostenniveau in den Mitgliedsländern; eine eigene Fiskalpolitik und ein eigenes Investitionsprogramm der EU gegenüber den Mitgliedsländern; die Erweiterung der EZB-Kompetenzen als unbegrenzte Kreditgeberin für alle Staaten des Euro-Währungsgebietes (um Staatsinsolvenzen auszuschließen); die Regulation der Finanzmärkte.
Einleitung
Hat die Europäische Zentralbank mit QE[1], den Programmen zum massenhaften Aufkauf von Staatsanleihen und anderen Wertpapieren[2] ihre Kompetenzen überschritten? Hat sie Wirtschaftspolitik betrieben, was ihr lauf EU-Vertrag verboten ist? Hat sie das Verbot monetärer Staatsfinanzierung in unzulässiger Weise umgangen? Hat sie Staaten gerettet, indem sie die fortgesetzte Finanzierung ihrer Schulden durch Zinssenkungen ermöglicht hat, diese Staaten vor dem Druck der Finanzmärkte abgeschirmt und somit gerettet hat – obwohl man diese Staaten besser hätte Pleite gehen lassen sollen (und mit ihnen den Zusammenbruch des ganzen Euro-Systems riskieren)? Diese Fragen stellen sich in der Debatte um das Urteil des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 5. Mai 2020. Aber einfach ist die Sache nicht. Die juristischen Argumente für die Position, die EZB hätte außerhalb ihres Mandats („Utra vires“) gehandelt, sind durchaus nachvollziehbar.[3]
Eine ganze Reihe von Wirtschaftswissenschaftlern sind hingegen der Meinung, dass gerade die vom BVerfG kritisierten Maßnahmen den Euro gerettet hätten –indem sie Zeit gekauft haben (Streek 2013); Zeit um die Wirtschaft nach der Krise (2007) und der anschließenden bis etwa 2014 anhaltenden Depression zu stabilisieren, Spielräume zu gewinnen, vielleicht irgendwann später die Fehlkonstruktion zu beseitigen. Man kann vermuten, dass diese Zeit ein weiteres Mal verspielt werden wird, weil die verantwortlichen Akteure, die 19 Mitgliedsstaaten, ihre Parlamente und Regierungen, die Parteien und die verschiedenen Interessengruppen sich nicht auf neue, überarbeitete und insgesamt funktionierende Regeln einigen können. Bestenfalls wird man Instrumente zur Kompensation der Dysfunktionalitäten ausbauen, nicht aber die Ursachen der Fehlentwicklung der Euro-Zone beseitigen. Dazu fehlt absehbar der nötige Grundkonsens in der europäischen Gesellschaft und ihrer politischen Klasse, es gibt keine lang- und mittelfristig ausgerichteten geteilten Ziele wirtschaftlicher Entwicklung, es dominieren divergente und unvereinbare Interessengegensätze (Wachstum versus Postwachstum, Umverteilung von unten nach oben versus oben nach unten, mehr versus weniger Steuern, mehr Regulierung versus Deregulierung usw. usf.). Zum Schisma der politischen Klasse gehört auch das Zerwürfnis in den Wirtschaftswissenschaften zwischen der dominanten neoliberalen Ideologie und der zugrundeliegenden neoklassischen Theorie (Orthodoxie) und den heterodoxen Ansätzen, die abweichende und zum Teil grundsätzlich andere Modelle, Diagnosen und Empfehlungen vertreten, aber untereinander auch sehr uneinheitlich. Das Problem: es fehlt eine übergreifende konstruktive Debatte, die aus Fehlern und Krisen mehr lernt als kompensatorische Maßnahmen. Obwohl es in den heterodoxen Richtungen eine ganze Reihe von Erkenntnisfortschritten gegeben hat, so in verschiedenen keynesianischen Schulen, der MMT (Modern Monetary Theory, vgl. Ehnts u.a.) ist die Dominanz einer neoliberalen Ideologie bedrückend: der Markt weiß es besser, der Wettbewerb ist das beste Mittel, Wachstum ist entscheidend, vor allem wird wirtschaftliche Entwicklung nicht von Wachstum unterschieden, Finanzmärkte sind effizient und dürfen nicht reguliert werden, Spekulation ist ein gutes Mittel, um korrekte Preisrelationen zu erreichen, gesellschaftlich gesetzte und politisch umgesetzte Entwicklungsziele (wie etwa eine klimaneutrale Entwicklung oder ein ökologischer Umbau) sind mit einer Marktwirtschaft unvereinbar, eine gelenkte Marktwirtschaft ist gleichzusetzen mit kommunistischer Planwirtschaft.
Leider ist die neoliberale Handschrift auch in den Begründungen des Bundesverfassungsgerichts zu finden, wenn es wirtschaftswissenschaftlich zu argumentieren versucht. Zum Beispiel schreiben die Richter:
„Die mit dem PSPP unterstützte Senkung des allgemeinen Zinsniveaus entlastet damit unstreitig die Staatshaushalte der Mitgliedstaaten (vgl. Bundesverband öffentlicher Banken Deutschlands, 3 Jahre EZB-Wertpapierankäufe, S. 38 vom 30. November 2017). Hierdurch besteht – trotz der vom Gerichtshof angenommenen „Garantien“ – die Gefahr, dass notwendige Konsolidierungs- und Reformbestrebungen nicht umgesetzt oder fortgesetzt werden (vgl. Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Jahresgutachten 2017/2018, S. 172 f. Dezember 2017).“
Italien hätte also weiterhin exorbitante Zinsen an Finanzmarktspekulanten zahlen sollen? Hinter dieser Argumentation steckt die neoliberale Idee, dass die Staaten den Finanzmärkten und dem Druck der Finanzmärkte ausgeliefert sein sollen. Die negativen Folgen sollten aufgeklärten Menschen nach den Krisen der 1980er, 1990er und 2000er Jahre eigentlich bekannt sein.
Den Richtern scheint nicht klar zu sein, dass das EZB-Programm zur „Senkung des allgemeinen Zinsniveaus“ vor allem darauf abzielte, die Verschuldung der Staaten erträglich zu machen und Staatsinsolvenzen abzuwenden. Italien, Spanien, Griechenland und Portugal hätten womöglich aus dem Euro austreten müssen und auch Frankreich hätte in solche Schwierigkeiten geraten können. Die Eurozone wäre zusammengebrochen – in Chaos und einer schweren Depression, Arbeitslosigkeit, Flüchtlingsströmen usw.
Die Senkung der Zinsen für die Staaten war kein Kollateralschaden, es war die Absicht der EZB, den Druck der Finanzmärkte, darunter auch der Währungsspekulanten, von den Staaten zu nehmen; sie wollte ihnen Zeit verschaffen. Freilich ist das Wirtschaftspolitik. Bei einer engen Auslegung könnte man sagen, dass die Erleichterung der Staatsverschuldung eine Kompetenzüberschreitung ist. Die EZB hat selbst immer vermieden, diese Zielstellung ausdrücklich zu nennen und so eine Kompetenzüberschreitung zuzugeben. Ihr ginge es „nur“ um die Sicherung einer stabilen Inflationsrate knapp unter zwei, aber auch nicht viel unter zwei Prozent. Mittelbar dient natürlich auch die Erleichterung der Staatsverschuldung in Krise und Depression der Vermeidung von Deflation bzw. zu geringer Inflation, denn die Staaten müssen dann ihre Ausgaben nicht reduzieren, was Deflation nach sich zöge. Hier beginnt der Ermessensspielraum, den die EZB aus Sicht des BVerfG nicht genügend abgewogen und begründet hat. Vielleicht kann man sogar die Rettung der Eurozone als im Rahmen des Inflationsziels liegend betrachten, zumindest, wenn die Politik keine hinreichenden Maßnahmen ergreift – denn ohne Euro keine Euro-Inflation und kein Euro-Inflationsziel. Die EZB hat in gewisser Weise Selbsterhaltung betrieben – liegt das innerhalb oder außerhalb ihrer Kompetenz?
Vermutlich haben die Verfassungsrichter die Lage gar nicht so dramatisch gesehen und nicht verstanden, wie nah die Eurozone zwischen 2007 und 2014 dem Abgrund war. Und sie ist es immer noch, weil zwar Zeit gekauft wurde, aber ursächlichen Konstruktionsfehler des Euros bestehen nach wie vor. Nichts ist wirklich gelöst.
Dieser Beitrag beschäftigt sich im Folgenden mit den wirtschaftlichen Aspekten der EZB-Politik, die vom BVerfG nicht verstanden und nicht hinreichend berücksichtigt wurden. Zunächst betrachten wir die Phänomene der Krise der Eurosystems: Handels- und Zahlungsbilanzdivergenzen, auseinanderlaufende hohe Arbeitslosenquoten, divergente wirtschaftliche Entwicklung, sparende Unternehmen und Auslandsverschuldung. In einem zweiten Teil betrachten wir die Ursachen der Krisen: Hinter der Produktivität zurückbleibende Löhne und das deutsche Lohndumping. In einem dritten Teil wird es um die finanziellen Folgen gehen: Verschuldung von Unternehmen, Haushalten und Staaten, an denen sich Finanzanleger und Spekulanten bereichern. Der vierte Teil fragt, was die EZB gemacht hat, um mit ihren Aufkaufprogrammen den Euro zu stabilisieren und zu retten – und warum damit die Ursachen der Krise, die Konstruktionsfehler des Euro-Systems nicht beseitigt werden. In einem fünften Abschnitt werde ich mich damit befassen, was eigentlich nötig wäre, um eine funktionsfähige Währungsunion auf die Beine zu bekommen – wissend, dass es politisch unmöglich sein dürfte. Und im letzten sechsten Abschnitt begründe ich, warum auch eine institutionell funktionierende Währungsunion noch keine integrierte europäische Volkswirtschaft sein würde, sondern ein Verband kooperierender Volkswirtschaften, der zumindest über längere Zeit nur funktionieren kann, wenn die Freizügigkeit von Arbeit, Kapital und Waren sowie von Sozialleistungen bestimmen Regeln und Schranken unterliegt.
1. Handels- und Leistungsbilanzdivergenzen in der Eurozone
In diesem Abschnitt betrachten wir zunächst die Leistungsbilanzdivergenzen. Dabei geht es um Leistungs- und Handelsbilanzüberschüsse bzw. -defizite der Volkswirtschaften, nicht um die Haushalte oder Haushaltsdefizite der Staaten! In den vorgängen Nr. 220/221 (Land 2017/2018) hatte ich das Thema ausführlich dargestellt. Ich rekapituliere hier Kernaussagen und aktualisiere, soweit nötig. Auf eine detaillierte Darstellung des Verlaufs für einzelne Länder verzichte ich (s. dort, Abb. 2.) Im Jahr 2019 betrugen die Überschüsse 465 Mrd. EUR, die Defizite dagegen 206 Mrd. Euro. Die Eurozone insgesamt hat nun einen Überschuss von 258,40 Mrd. Euro, davon allein Deutschland 227,8 Mrd. Euro. Die Divergenz innerhalb der Eurozone hat seit 2016 etwas abgenommen.
Abb. 1: Handelsbilanzsalden der EU-Mitgliedstaaten 2016 und 2019 (Quelle: Eurostat/Grafik: Statista). https://de.statista.com/statistik/daten/studie/252105/umfrage/handelsbilanz-der-eu-laender/
Abb. 1 zeigt die Überschüsse und Defizite der einzelnen Volkswirtschaften. Der deutsche Überschuss ist seit 2016 etwas zurückgegangen. Italien hatte 2010 ein Defizit von minus 39,75 Mrd. Dollar, aber inzwischen einen Überschuss von 52,9 Mrd. Dollar, während Griechenland, Spanien und Frankreich weiterhin erhebliche Handelsbilanzdefizite haben. Ist Italien der deutschen exportorientierten Strategie gefolgt? Mitnichten, der Export ist kaum gewachsen. Diese Veränderung ist Ausdruck der Krise, also auf Importkürzungen von über 20 Prozent in Folge sinkender Einkommen und Investitionen sowie verringerter bzw. stagnierender Staatsausgaben zurückzuführen. Die Eurozone stabilisiert sich mittels einer Abwärtsspirale in den Ländern mit Handelsbilanzdefiziten. Das dazu passende lebensweltliche Szenario kennt man aus Berichten über die Lage in Griechenland, Spanien und Italien.
Die Eurozone insgesamt hatte 2011 eine weitgehend ausgeglichene Handelsbilanz, hat also etwa so viel importiert, wie exportiert. Seit 2012 ist sie zunehmend in einer Überschussposition, wie Abbildung 2 zeigt. 2019 beträgt der Handelsbilanzüberschuss der Eurozone gegenüber Volkswirtschaften außerhalb der Eurozone 223 Mrd. Euro.
Abb. 2: Handelsbilanzsalden der EU und der Eurozone – ohne Großbritannien (Quelle: Eurostat /Grafik: Statista).
Handels- und Leistungsbilanzüberschüsse sind nicht automatisch gut, ebenso wenig anhaltende Defizite. Anzustreben sind mittelfristig ausgeglichene Handels- bzw. Leistungsbilanzen. Erstens gehen Überschüsse zu Lasten anderer Länder. Im Verhältnis der Euroländer zu Volkswirtschaften außerhalb der Eurozone kann das nicht lange gut gehen, denn die außereuropäischen Handelspartner sind keine Mitglieder der EU-Währungsunion. Überschreiten die Überschüsse ein bestimmtes Maß, reagieren die Wechselkurse oder die Zentralbanken der Handelspartner werten ihre Währungen ab, der Überschuss verschwindet wieder und die Exportbranchen geraten in eine Krise.
Zweitens tragen Geldeinnahmen aus steigenden Exporten nicht zur realwirtschaftlichen Entwicklung der eigenen Volkswirtschaft oder ihrer Infrastruktur bei. (Würde man Sachinvestitionen tätigen, würden die Güter entweder gar nicht erst exportiert, sondern im Binnenmarkt verkauft oder es würden entsprechend mehr Sachgüter importiert – und es gäbe in beiden Fällen eine ausgeglichene Handelsbilanz). Exportüberschüsse schaffen Finanzeinkommen für Kapitalanleger. Drittens aber sind wachsende Überschüsse und Defizite, die sich gegenseitig bedingen, Ursache für Instabilität auf den Finanzmärkten.
2. Die Ursachen der Handels- und Leistungsbilanzdivergenzen
Ich konzentriere mich im Folgenden auf die Handelsbilanz[4], also den Export und Import von Waren.[5] Die Handelsbilanz ist zwar nur ein Teil der Leistungsbilanz, aber wie die Abbildung 3 zeigt ist der Warenhandel der entscheidende Teil der deutschen Überschüsse.
Abb. 3: Die deutsche Leistungsbilanz in % des Bruttoinlandsprodukts (Quelle: Bundesbank 2020, S. 25)
Abbildung 3 zeigt, dass in den 1980er Jahren Überschüsse dominierten, bevor der Leistungsbilanzsaldo in den 1990er Jahren negativ wurde – bedingt durch geringere Exporte und mehr Importe im Rahmen des Aufbau Ost.[6] Die Handelsbilanz war auch in den 1990er Jahren positiv, aber der Exportüberschuss stieg ab 2000 weiter an.
Ich sehe die entscheidende Ursache der divergierenden Handelsbilanzen in der Eurozone in der Entwicklung der Arbeitskosten (Löhne plus Lohnnebenkosten und Ausgaben des Staates, die unmittelbar oder mittelbar in die Reproduktion der Arbeitskraft der Bevölkerung eingehen), genauer der Lohnstückkosten. Deutsche Löhne sind im Verhältnis zur deutschen Produktivität etwa 20 Prozent zu niedrig (vgl. unten, Abb. 7). Und sie sind daher auch zu niedrig im Verhältnis zu den Löhnen anderer Euroländer, insbesondere der Südländer, denn in diesen Ländern sind die Löhne im Verhältnis zur Produktivität nicht zurückgeblieben, jedenfalls nicht bis etwa 2012.
Vereinfacht gesagt ist es das deutsche Lohndumping, die Agenda 2010, der Billiglohnsektor, der es der deutschen Exportindustrie ermöglicht, ihre Produkte auf den Weltmärkten unter Preisen der Konkurrenzprodukte anzubieten, insbesondere in der Euro-Währungsunion, wo Lohndumping nicht durch Wechselkursanpassungen kompensiert werden kann, wie früher, wo die DM regelmäßig aufgewertet werden musste, wenn die deutschen Lohnstückkosten zu sehr und anhaltend hinter denen der Handelspartner zurückblieben.
Es gibt zwei andere Erklärungsansätze. Einige Autoren meinen, die Qualität der deutschen Produkte, der Service und das Marketing seien ausschlaggebend für die deutschen Exportüberschüsse, der Verweis auf die preisliche Wettbewerbsfähigkeit sei einseitig, sie sei nicht der entscheidende Faktor. Das ist für eine betriebswirtschaftliche Sicht angemessen, etwa wenn ein Unternehmen prüft, wie es der Verkauf seiner Produkte verbessern kann. Da geht es nicht nur um den Preis, sondern zunächst um die Qualität, Service und Marketing. Dies sind notwendige Voraussetzungen des Exportierens, aber keine hinreichende Erklärung von Exportüberschüssen. Makroökonomisch trägt dieses Argument nicht, weil es auf den Märkten immer um das Preis-Leistungs-Verhältnis geht, um Preise für vergleichbare Qualität, vergleichbaren Service und Marketing. Das bedeutet, das etwas bessere Produkte auch etwas höhere Preise durchsetzen können und etwas schlechtere Preisabschläge hinnehmen müssen. Preise und Qualität sind keine voneinander unabhängigen Faktoren. Dabei geht es nicht nur um die Arbeitskosten für den Hersteller der exportierten Produkte, sondern kumulativ um die Arbeitskosten, die über alle Vorprodukte und Vorleistungen und die Sozialabgaben in die Produktionskosten eingehen. Auch und gerade der Billiglohnsektor ist ein wichtiger Bestandteil dieser Kosten, denn auch die niedrigen Löhne der Reinigungskräfte, der Logistikbranche oder der Pflegekräfte, um einige zu nennen, spielen für das volkswirtschaftliche Lohnniveau eine wichtige Rolle. Der Billiglohnsektor in Deutschland umfasst etwa 30 Prozent der Beschäftigung.
Kosten für Produktionsmittel, Maschinen, Anlagen, Material und Vorprodukte lösen sich auf volkswirtschaftlicher Ebene weitgehend in Arbeitskosten auf. Wenn die volkswirtschaftlichen Lohn- und Arbeitskosten relativ zu Produktivität etwas geringer sind als bei Wettbewerbern, dann können qualitativ gleichwertige Produkte etwas billiger und qualitativ bessere Produkte zum gleichen Preis angeboten werden; und die Anbieter haben immer noch etwas höhere Gewinne.
Eine andere Erklärung besagt, dass die Finanzströme, das Sparen und Geldanlegen in den Überschussländern und das Schuldenmachen in den Defizitländern die Ursache für die Handelsbilanzdivergenzen seien. Finanzströme und Handelsbilanzsalden hängen zweifellos zusammen, aber die Kausalität ist umgekehrt: die auseinanderlaufende Lohnentwicklung verursacht Handelsbilanzdivergenzen und diese wiederum führen zu den Finanzströmen.
„Die deutschen Unternehmen investieren, anders als in der Vergangenheit, im gegenwärtigen Aufschwung deutlich weniger in den Realkapitalstock als sie an eigenen finanziellen Mitteln erwirtschaften. Ihr wachsender Finanzierungsüberschuss ist ein zentraler Treiber des sehr hohen Leistungsbilanzüberschusses, dessentwegen Deutschland international breit in der Kritik steht.“ (Borger 2018; Hervorhebung R.L.).
Allerdings geht Borger in diesem Beitrag auch auf die gesunkene Lohnquote, die gestiegenen Gewinne, die immer weniger ausgeschüttet werden, und die sinkenden Bruttoinvestitionen ein. Es ist m.E. eben die Frage, ob die Finanzierungsüberschüsse die Handelsbilanzen in den Überschuss treiben oder umgekehrt.
Wir gehen davon aus, dass die Handelsbilanzüberschüsse und -defizite Ausdruck divergierender Lohnstückkosten sind. Dies ist die Position der Mehrzahl der Autoren in Makroskop; eine Position, die Heiner Flassbeck und Friederike Spieker seit den 1990er Jahren vertreten und in einer Vielzahl von Publikationen umfassend begründet haben (vgl. u.a. Flassbeck/Spieker 2005). Der neoliberale Mainstream sieht das meist anders.
Lohnstückkosten und goldene Lohnregel – das theoretische Ideal
Entscheidend für das Verständnis des Zusammenhangs von Lohn und Handelsbilanz sind die Lohnstückkosten, also nicht die absolute Höhe der Löhne, sondern die Löhne im Verhältnis zur Produktivität.
Die Lohnstückkosten bleiben gleich, wenn die Stundenlöhne und Produktivität in gleichem Maß steigen. Die Lohnstückkosten zwischen handeltreibenden Volkswirtschaften sind gleich, wenn sich die durchschnittlichen Stundensätze so zueinander verhalten, wie die Produktivität der jeweiligen Volkswirtschaft. Es geht immer um die Volkswirtschaft als Ganze, nicht im einzelne Branchen oder Betriebe. Dabei kann und soll es durchaus so sein, dass die Lohnstückkosten einzelner Branchen und Betriebe differieren. Aber wenn die durchschnittlichen Lohnstückkosten gleich sind, dann gibt es in jedem Land einige Branchen, die günstiger und andere die teurer produzieren, weil die jeweiligen Sektoren oder Betriebe eine über- oder unterdurchschnittliche Produktivität haben. Genau dann lohnt sich der Handel, weil jedes Land die Güter exportiert, die es günstiger und besser herstellen kann und die importiert, wo das andere Land günstiger produziert. Dann hat der Handel für beide Vorteile und der Wettbewerb um steigende Produktivität treibt die wirtschaftliche Entwicklung beider voran.
Weichen hingegen die durchschnittlichen Lohnstückkosten voneinander ab, weil ein Land ein Lohnniveau über oder unter der jeweils eigenen Produktivität hat, wird der Handel ungleichgewichtig und unfair. Der Wettbewerb dreht sich dann nicht mehr nur um technische Innovationen, Produktqualität oder steigende Produktivität, Umweltkompatibilität, Senkung der Kosten für Naturressourcen und Produktionsmittel, sondern es kommt zu einem Wettlauf um Lohndumping, um hinter der Produktivität zurückbleibende oder gar sinkende Arbeitskosten, Löhne, Sozialkosten, Bildungskosten usw.
Wenn mehrere Volkswirtschaften relativ zu ihrer Produktivität zu geringe Löhne haben, wächst ihre (Binnen-)Nachfrage nicht im Maße der Produktivität (oder sie geht sogar zurück), während das Angebot wächst. Niemals können alle oder die Mehrzahl der Volkswirtschaften ihr Nachfragedefizit durch Exportüberschüsse ausgleichen, es muss weltweit immer genau so viel Importüberschüsse geben. Daher ist eine Lohnsenkungsstrategie weltwirtschaftlich und letztlich auch für die Überschussländer nicht zielführend. Sie endet immer dann, wenn andere die Überschüsse nicht mehr aufnehmen können (Verschuldung) oder wollen und sich gegen Defizite wehren. Haben Volkswirtschaften relativ zur Produktivität zu hohe Löhne, gehen sie wirtschaftlich zugrunde. Haben Volkswirtschaften aber im Verhältnis zu ihrer Produktivität zu niedrige Löhne, schädigen sie ihre Handelspartner und den eigenen Binnenmarkt und – wie zu zeigen sein wird, sie generieren Fehlentwicklungen im Finanzsystem.
Die goldene Lohnregel lautet also: die Löhne sollen so steigen wie die Produktivität. Das aber bezieht sich auf die Reallöhne oder die Löhne bei einer Inflation von Null. Wenn die Löhne im Durchschnitt genauso stiegen wie die Produktivität, wäre die durchschnittliche Inflation Null. Dabei können Preise für manche Produkte steigen und andere fallen, weil sich die Produktivität verschiedener Branchen unterschiedlich entwickelt oder auch weil sich die Struktur der Nachfrage nach Konsum- oder Investitionsgütern ändert.
Eine Inflationsrate Null ist volkswirtschaftlich nicht sinnvoll. Die Zentralbank hätte keinen Spielraum für Zinssenkungen. Und: Da die technische Produktivität für viele Dienstleistungen (z.B. Kinder pro Lehrer, Patienten pro Arzt, Kunden pro Verwaltung) nicht steigen kann, ohne die Qualität der Leistung zu schmälern, müssten die Preise solcher Dienstleistungen im Maße der volkswirtschaftlichen Produktivitätsentwicklung permanent steigen und die aller anderer Produkte stark fallen. Regulatorisch ist eine Inflationsrate im unteren einstelligen Bereich anzustreben. In der Eurozone gilt die Zielinflationsrate von knapp unter 2 Prozent. In diesem Fall bleiben die Preise vieler Güter gleich; nämlich der Güter, deren Produktivität etwa im Maße der Inflationsrate steigt. Produkte, deren Produktivität schneller steigt, würden dann im Preis leicht sinken (z.B. PCs). Die Preise von Dienstleistungen und Produkten, deren Produktivität nicht oder weniger als die Inflationsrate steigt, würden steigen. Die Zielinflationsrate sollte ideal etwa der volkswirtschaftlichen Produktivitätssteigerung entsprechen.
Das bedeutet, dass die Lohnstückkosten so steigen sollen, wie die Zielinflationsrate. Die goldene Lohnregel reformuliert lautet dann: Die durchschnittlichen Stundenlöhne (gesamte Arbeitskosten pro Stunde) sollen so steigen wie die Produktivität plus Zielinflationsrate. Steigt die Produktivität um 1,5 Prozent und beträgt die Zielinflationsrate 1,9 Prozent, dann sollten die Löhne in dem betreffenden Jahr um etwa 3,4 Prozent steigen. Dabei ist das mehrjährige Mittel wichtig. Zu geringe Lohnsteigerungen sollten in den Folgejahren aufgeholt werden, zu hohe sollten geringere in den Folgejahren nach sich ziehen, so dass das langfristige Lohnniveau angepasst wird. Besonders in einer Währungsunion, wie der des Euro, ist das wichtig. In Wechselkurssystemen hingegen werden langfristige Divergenzen durch die Wechselkurse kompensiert – allerdings nur, wenn die Wechselkurse nicht durch spekulative Währungsbewegungen verzerrt sind, was heute leider oft der Fall ist.
Wichtig ist noch, dass die Formel lautet: Produktivität plus Zielinflationsrate, nicht plus tatsächliche Inflation. Besonders die Folgen der 1970er Jahre (Ölpreissteigerungen) verweisen auf die Bedeutung dieses Unterschieds. Steigt die Inflation auf Grund externer Effekte in einem Jahr beispielsweise auf drei Prozent und würde man die Löhne auf 1,5 (Produktivität) plus 3 Prozent (tatsächliche Inflation), zusammen 4,5 Prozent, steigern, dann würde die höhere Inflationsrate an das Folgejahr weitergegeben – eine sogenannte Lohn-Preis-Spirale würde entstehen. Die Inflationsrate würde dauerhaft auf das höhere Niveau von 3 Prozent steigen. Beim nächsten externen Effekt würde dasselbe passieren und alle Steigerungen der Inflation würden sich kumulativ fortsetzen. Würden die Löhne hingegen nur um 3,4 Prozent (1,5 Produktivität plus 1,9 Zielinflation) steigen, so würde der externe Effekt kompensiert und im Folgejahr würde die einmalig zu hohe Inflation wieder auf die Zielinflationsrate zurückgehen (vgl. Flassbeck, Spieker 2005).
Wichtig in diesem Zusammenhang: die goldene Lohnregel bezieht sich auf die gesamten volkswirtschaftlichen Arbeitskosten, nicht auf einzelne Branchen und nicht nur auf die Nettolöhne, sondern auch auf die sogenannten Lohnnebenkosten, die der Arbeitnehmer wie die der Arbeitgeber. Und auch die Kosten der Sozialsysteme, soweit sie in die Reproduktion der Arbeitskraft und des Lebens der Bevölkerung eingehen, gehören dazu: Zuschüsse zu den Sozialsystemen, insbesondere dem Gesundheitswesen, zu Kultur und Bildung. Oft wird die ökonomische Notwendigkeit steigender Lohnnebenkosten und steigender Sozialausgaben volkswirtschaftlich nicht verstanden.
Die meisten Bereiche wie Gesundheit, Bildung, Pflege und Kultur können sich zwar qualitativ entwickeln, bessere Produkte und Leistungen anbieten, aber ihre physische Produktivität nicht steigern. Die Zahl der Patienten oder der behandelten Krankheiten pro Arzt, die Zahl der Schüler pro Lehrer oder der gespielten Musikstücke pro Orchesterstunde kann nicht steigen. In einer Volkswirtschaft gibt es Branchen, in denen die Produktivität durch Innovationen und Investitionen laufend steigt, vor allem in der Industrie und da, wo Massenproduktion möglich ist. Die Arbeitsstunden, die in einem Auto stecken, können durch Technisierung, Automatisierung und Produktivitätssteigerungen ständig sinken. Die Stunden an Lehrerarbeit, die in einem gut ausgebildeten Schüler gesteckt werden müssen, sinken mit dem technischen Fortschritt hingegen nicht, eher umgekehrt.
Mit dem skizzierten Beispiel soll verständlich werden, dass eine normale realwirtschaftliche Entwicklung mit steigenden Preisen in vielen Dienstleistungsbereichen bei sinkenden oder konstanten Kosten im Bereich der Industrie verbunden sein muss. Das bedeutet auch, dass der Anteil (am BIP und den Beschäftigten) der nicht zu Produktivitätssteigerungen geeigneten Dienstleistungsbranchen an der volkswirtschaftlichen Wertschöpfung ständig steigt, während der der Industrie zurückgeht. Das hat aber nichts mit Bedeutungsverlust oder geringerer Wertschätzung zu tun, sondern mit ökonomischen Gesetzmäßigkeiten. Das Sinken des Anteils der Industrie ist gerade Ausdruck ihrer Innovationskraft, Produktivitätsfortschritte und ihrer volkswirtschaftlichen Bedeutung, während sich der Erfolg der Kultur, der Gesundheits- und Bildungsbranche nicht an Produktivitätseffekten, sondern an der Qualität der erbrachten Leistungen misst.
Die neoliberale Parole „mehr Netto vom Brutto“ ist jedenfalls falsch. Sie zeugt von völliger Unkenntnis wirtschaftlicher Entwicklungsgesetze. Tatsächlich führt eine normale wirtschaftliche Entwicklung dazu, dass die Bruttolohneinkommen im Maße der Produktivität plus Zielinflationsrate steigen können, während die Nettoeinkommen auch wachsen, aber langsamer wegen der notwendigen Lohn- und Kostensteigerungen in den Branchen Gesundheit, Bildung, Kultur, Soziales, Pflege und der steigenden Renten. Sofern diese Leistungen durch Umlagen in Sozialsystemen finanziert werden, müssen diese Umlagen regelmäßig angepasst werden, sofern sie vom Staat finanziert werden, steigen diese Staatsausgaben, und zwar auch ihr Anteil am Gesamtbudget. Das muss man nicht beklagen, es ist Ausdruck von Fortschritt und Erfolg. Andernfalls bluten die Sozialbereiche und die Kultur aus. Diese notwendige Tendenz kann durch demographische Effekte noch verstärkt werden. Die Vorstellung, man könne den Anteil der Lohnnebenkosten auf einem bestimmten Niveau (40 Prozent) fixieren, ist absurd. Das spricht nicht gegen eine gute Kostenkontrolle. Maßstab sollten aber zu erbringenden Leistungen und die dafür effektiv erforderlichen Arbeits- und Sachkosten sein, nicht eine neoliberale Vorstellung von sinkenden Lohnnebenkosten.
Abb. 4: Entwicklung der Lohnstückkosten ausgewählter Euroländer zwischen 2004 und 2016 – jährliche Änderungen in Prozent (Datenquelle: European Commission – ECFIN, Eurostat, 24. Oktober 2017)
In den kritischen Jahren zwischen 2004 und 2015 sind die deutschen Lohnstückkosten Jahr für Jahr gesunken, oft um mehr als 10 Prozent pro Jahr, obwohl sie objektiven ökonomischen Notwendigkeiten entsprechend steigen sollten. Dadurch entstand die Differenz zu den anderen Euroländern. Seit 2016 steigen sie wieder leicht. Abb. 5 zeigt aber, dass der einmal entstandene Abstand von etwa 20 Prozent seitdem zwar nicht weiter zunimmt, aber fast unverändert erhalten bleibt. Italien, Griechenland und Spanien hatten hingegen zu hohe Steigerungsraten der Lohnstückkosten, die in Griechenland und Spanien durch die Krise inzwischen korrigiert wurden.
Die Abbildung zeigt Frankreich bis 2013 auf einem Pfad, der genau der Zielinflationsrate entspricht, ab 2014 aber nach unten abweicht. Frankreich folgt dem Druck des deutschen Lohndumpings auf einem zunehmend deflationären Kurs.
Abb. 5 und 6 belegen den Zusammenhang von Lohnstückkostenentwicklung und Handelsbilanzüberschüssen. Deutschland mit den niedrigsten Steigerungsraten der Lohnstückkosten wies einen stark wachsenden Handels- und Leistungsbilanzüberschuss auf, während Italien und Spanien mit überdurchschnittlichen Lohnstückkostenwachstum Defizite ausweisen musste. Frankreich hatte bis 2005 eine ausgeglichene Leistungsbilanz, rutschte aber dann ins Minus, obwohl die Lohnstückkostenentwicklung bis 2014 der goldenen Regel entsprach. Unter dem Druck der großen deutschen Volkswirtschaft mit erheblichen Überschüssen mussten auch französische Arbeitskosten reduziert werden. Trotzdem konnte die Leistungsbilanz nicht hinreichend unter Kontrolle gebracht werden. Nach wie vor überschreitet der deutsche Überschuss das in den Stabilitätskriterien erlaubte Maß von 6 Prozent des BIP.[7]
Abb. 5: Zielinflationsrate und Lohnstückkosten von Italien, Frankreich und Deutschland im Vergleich (Grafik: Makroskop).
Abb. 6: Leistungsbilanzsalden ausgewählter Euro-Länder (Grafik: Makroskop).
Das Zurückbleiben de Löhne hinter der Produktivität ist eine Tendenz, die seit den 1980er Jahren zu beobachten ist und die nicht nur auf Deutschland zutrifft (vgl. Busch, Land 2012: 28f). Bis etwa Mitte der 1970er Jahre stiegen die Löhne genauso schnell wie die Produktivität und zwar in allen entwickelten Industrieländern (ebenda 29). Seit den 1980er Jahren bleiben sie zurück – was mit einer sinkenden Lohnquote einhergeht. In Deutschland sind es drei Schübe (Abb. 7): Anfang der 1980er Jahre (konservativ-liberale Regierung), Mitte der 1990er Jahre (im Zuge der Integration Ostdeutschlands und der Erosion des Flächentarifvertrags) und nach 2004 (Agenda 2010), die in der Konsequenz dazu führen, dass die Schere zwischen der Produktivitäts- und der Lohnentwicklung in Deutschland weiter auseinandergeht als in den USA oder den anderen EU-Ländern.
Abb. 7: Hinter der Produktivität zurückbleibende Löhne – Veränderung von Produktivität, Löhnen und Unternehmens- und Vermögenseinkommen in Deutschland 1950 bis 2019. Der Bruch 2009/10 resultiert aus einer stark reduzierten Erfassung von Erwerbstätigen, der auf eine Revision der Statistik zurückgeht und keine reale Entwicklung darstellt. (Quelle: Busch, Land 2013, Statistik 2019 ergänzt)
3.1. Folgen: Divergente Entwicklung der Arbeitslosenquoten auf hohem Niveau
Betrachten wir nun die Folgen divergenter Handelsbilanzentwicklung. Eine Volkswirtschaft, die mehr produziert als sie verbraucht, also mehr exportiert als sie importiert, schafft im Inland Arbeitsplätze zu Lasten der Handelspartner mit Importüberschuss. Die Arbeitslosenquoten der Defizitländer steigen und sind hoch, die der Überschussländer sind geringer – allerdings auch noch recht hoch, denn erstens wird in den Binnenmarkt zu wenig investiert und zweitens ist ein bestimmtes Maß an Arbeitslosigkeit im Interesse der Exportwirtschaft, weil sie die Löhne niedrig und den Billiglohnsektor groß hält.
Abb. 8: Arbeitslosenquoten in der Eurozone 1997 bis 2019 (Daten: Eurostat/Grafik: Rainer Land).
Abb. 8 zeigt, dass die Arbeitslosenquoten der Euroländer nach Beginn der Währungsunion recht eng beieinander lagen, etwa um 10 Prozent (nicht gerade berauschend), Deutschland lag leicht darüber. Nach der Finanzkrise 2007-2009 und der anschließenden Eurokrise gelang es, mit Hilfe des deutschen Lohndumpings, Agenda 2010 genannt, die deutsche Entwicklung von der der anderen Euroländer abzukoppeln. Ausschlaggebend ist die Differenz zu Frankreich, Italien und dem Euro-Durchschnitt. Die dramatische Entwicklung in Griechenland und Spanien ist zusätzlich durch den Fast-Zusammenbruch des Finanzsystems und die realwirtschaftlichen Folgen der geplatzten Spekulationsblasen in der Euro-Krise bedingt.
Die hohe Arbeitslosigkeit in den Defizitländern ging und geht mit einem Abbau industrieller Kapazitäten einher (Tendenz Deindustrialisierung). Aber auch in den Überschussländern war und ist keine ausgewogene wirtschaftliche Entwicklung möglich. Die Exportwirtschaft wuchs zwar bis zu Beginn der Corona-Krise übermäßig, aber der Binnenmarkt und die Investitionen in die Infrastruktur, besonders die öffentliche Infrastruktur stagnierten. Der Druck auf die Arbeitskosten traf insbesondere die Finanzierung der Sozialsysteme. Diese Dynamik ist paradox: Die Überschussländer verzeichnen einen enormen Zufluss an Finanzen aus dem Export. Aber diese Finanzen werden nicht verwendet, um zu investieren – dann gäbe es keine oder geringere Überschüsse.
In jedem Fall könnten massive Investitionen in Wirtschaft und öffentliche Infrastruktur den Handelsbilanzungleichgewichten entgegenwirken. Manche Autoren sehen daher in Investitionsprogrammen die entscheidende Möglichkeit, den Leistungsbilanzüberschuss abzubauen. Das könnte allerdings nur gelingen, wenn eine „Wirtschaftsregierung“ massive schuldenfinanzierte Investitionsprogramme und deutliche Steuererhöhungen für hohe Unternehmens- und Vermögenseinkommen durchsetzte. Das aber ist unter den gegebenen politischen Rahmenbedingungen ausgeschlossen, da die mächtige Export- und die Finanzindustrie dabei viel Geld verlieren würde und alles täte, um einem Abbau der Exportüberschüsse entgegenzuwirken (vgl. Land 2018, 6.2.)
Die Handelsbilanzungleichgewichte sind keine gewollten Effekte der Regierungen oder zentralen Wirtschaftsakteuren. Sie sind das nicht intendierte Ergebnis der Entscheidungen und Handlungen vieler Millionen Akteure, Unternehmen, Haushalte, Banken, Verwaltungen, in einem bestimmten institutionellen Rahmen und unter gegebenen Bedingungen. Unter den gegebenen Bedingungen ist es eben nicht rational und zielführend, in den Binnenmarkt oder die Infrastruktur zu investieren. Dies setzte Lohnerhöhungen oder mehr öffentliche Ausgaben, höhere Staatsverschuldung und höhere Steuern voraus. Wenn man eine andere Entwicklung der Eurozone will, muss man den institutionellen Rahmen verändern, insbesondere auch des Finanzsystems.
Man muss sich entscheiden ob man den Sinn des Wirtschaftens in der Produktion und Konsumtion von Gütern und Dienstleistungen, in der Verwertung von Realkapital, in der realwirtschaftlichen Entwicklung, in Innovationen und Investitionen sieht. Dann ist ein Regime wirtschaftlicher Entwicklung, das Handelsbilanzdivergenzen erzeugt, mindestens mittelfristig unsinnig und sollte überwunden werden. Folgt man hingegen der Logik des Finanzmarktkapitalismus, dann besteht der Sinn des Wirtschaftens in der Anhäufung von Geldvermögen der Kapitalanleger, die gerade nicht in reale wirtschaftliche Entwicklung umgesetzt werden sollen. Tatsächlich ist ein parasitärer Finanzmarktkapitalismus das notwendige Gegenstück zu divergenten Handelsbilanzen, beide existieren nur zusammen (vgl. Hein 2016).
3.2 Folgen: Verschuldung und Geldvermögen – Überschussrecycling
Divergente Handelsbilanzen sind mit Finanzströmen, mit der Aufhäufung von Finanzschulden und Finanzvermögen verbunden, die früher oder später das Geldsystem zerstören – über Finanzkrisen, Pleiten, Pech und Pannen bei denen viele Menschen ihr Vermögen und ihre Existenz verlieren. Zuweilen wird gesagt oder geschrieben, die Überschussländer müssten sogar den Defizitländern das Geld geben, mit denen diese die Importe finanzieren (Herrmann 2016). Das ist nicht ganz falsch, aber auch nicht wirklich richtig, zumindest ist es nicht so einfach. Wir sollen versuchen, dieses wenigstens auf elementaren Ebenen besser zu verstehen. Dazu sind aber mehrere Schritte erforderlich.
1. Schritt: Zwei Volkswirtschaften A und B, die miteinander handeln, generieren zunächst einen Finanzstrom: von A nach B für die Exporte von A und von B nach A für die Exporte von B. (Das ändert sich nicht grundsätzlich, wenn wir 10 oder 100 Länder betrachten). Bei ausgeglichenen Handelsbilanzen würde Geld laufend hin- und zurückströmen, einen Kreislauf bilden und den Reproduktionskreislauf von Gütern und Leistungen regulieren. Die Geldbestände müssten dabei nicht anwachsen. Würde zur Reproduktion auch noch Entwicklung mitgedacht werden (also Innovationen und Investitionen) und gäbe es unter Umständen Wachstum der jährlichen Gütermengen oder der Wertschöpfung, dann würde die im Handel umlaufende Geldsumme auch wachsen müssen (vorausgesetzt die Umlaufgeschwindigkeit bliebe konstant), aber sie müsste nur in dem Maße wachsen, wie das reale BIP wächst.
2. Sind die Handelsbilanzen nicht ausgeglichen, dann muss das Land mit dem Importüberschuss laufend mehr Zahlungen an das Überschussland leisten, als es umgekehrt empfängt. Jahr für Jahr würde eine bestimmte Geldsumme in das Überschussland fließen, aber nicht zurückfließen. Bei mittelfristigem Ausgleich kompensiert sich das natürlich, wenn jedes Land mal ein paar Jahre Überschüsse und dann wieder Defizite hat. Bei einer länger anhaltenden Divergenz aber müsste im Defizitland ständig neues Geld zusätzlich erzeugt werden, damit es seine Importe zahlen kann. Im Überschussland würde sich umgekehrt Geldbestände aufhäufen. In einem Fiat-Geldsystem, wo Geld formell in beliebigen Mengen erzeugt werden kann, ist das theoretisch möglich. Haushalte, Unternehmen (oder auch der Staat) in dem Land mit dem Importüberschuss würden Anleihen bei Privaten oder Kredite bei den dortigen Banken aufnehmen. Die Banken erzeugen im Zuge der Kreditvergabe die Zahlungsmittel, diese fließen in das Überschussland und landen dort auf den Konten der Unternehmen und Haushalte. Solange der Kreditvergabe und der Erzeugung von Zahlungsmitteln in dem Defizitland keine Grenzen gesetzt sind und die Akteure im Überschussland mit wachsenden Kontoständen (statt wachsendem Sachvermögen) glücklich sind, ist dem theoretisch keine Grenze gesetzt. Nur müssen zwei Dinge ausgeschlossen werden: die Kreditnehmer im Defizitland dürften nicht versuchen, ihre Kredite zu tilgen. Denn dann bräche dieser Handel zusammen. Und dasselbe würde passieren, wenn die Überschusskontoinhaber versuchen würden, für ihre Geldbestände Güter und Leistungen zu kaufen. (Solange es nur einzelne sind und nur kleine Mengen, würde das zwar gehen, nicht aber, wenn es eine allgemeine Tendenz zur Schuldentilgung bzw. zur Verringerung der Geldbestände gäbe.) Durchdenkt man dieses Szenario, dann wird schnell klar, dass es ein irrsinniges Tributsystem ist: Die Produzenten des Überschusslandes füttern die Konsumenten des Defizitlandes durch. Dafür bekommen sie heute kein Gold, nicht einmal mehr Geldscheine, sondern nur steigende digitale Kontostände. Die dürfen sie aber nicht massenhaft ausgeben, dann bricht das Kettenspiel zusammen. Man muss an die Sicherheit der Geldvermögen und die Unschädlichkeit der Schulden glauben, um da mitspielen zu können.
3. Freilich hat ein solches System Grenzen, funktionale, physische und vereinbarte, rechtliche. Zunächst einmal: Haben die beiden Länder die gleiche Fiat-Währung[8]? Wenn die Handelspartner verschiedene Fiat-Währungen haben, die umgetauscht werden müssen, dann würde eine Währung, die des Überschusslandes, permanent aufwerten, die des Defizitlandes hingegen abwerten, zumindest wenn es keine Interventionspflicht der Zentralbank und keine Kapitalverkehrskontrollen gibt. Und zwar deshalb, weil auf dem Währungsmarkt die Nachfrage nach der Währung des Überschusslandes ständig größer ist (um die Importe in der Währung des Überschusslandes zu finanzieren) als die nach der Währung des Defizitlandes. Das hätte zur Konsequenz, dass die Waren des Überschusslandes immer teurer werden, die des Defizitlandes immer billiger – und zwar solange, bis die Käufer sich umstellen und beginnen, die billigeren Güter auf dem Binnenmarkt kaufen. Der Import bricht zusammen, weil die Käufer im Defizitland nun ihre eigenen Produkte vorziehen und die im Überschussland mehr günstige Produkte aus dem vormaligen Defizitland erwerben wollen. Die Überschüsse und Defizite würden recht schnell schwinden, die Zahlungsbilanz wäre wieder ausgeglichen. Das System würde – in dieser Modellvariante – zu ausgeglichenen Handelsbilanzen zurückkehren. Das funktioniert aber nur, wenn es keine externen Faktoren gibt, die die Nachfrage nach den Währungen unabhängig von der Leistungsbilanz beeinflussen. Das ist aber heute regelmäßig der Fall. Spekulation auf Kursveränderungen von Währungen, Rohstoffen, Immobilien und Wertpapieren oder auch Interventionen der Zentralbanken oder großer Fondsgesellschaften können die Kursanpassungen behindern oder sogar in die entgegengesetzte Richtung erzwingen (s. Schulmeister 2018).
Ist eine Währung wie der Dollar zugleich Reservewährung und Nennwährung für die Abwicklung vieler Handels- und Finanztransaktionen, zugleich Spekulationsobjekt und Anlagewährung für eine Vielzahl von Wertpapieren und Immobilien, dann ist die Nachfrage nach dieser Währung viel größer als das Handelsvolumen in Waren und Leistungen. Deshalb können die USA so ein enormes Handelsbilanzdefizit haben, ohne dass der Dollar dramatisch abwertet. Die Handelspartner akzeptieren die Zahlung mit frisch geschöpften Dollar, denn der Dollar ist jederzeit und überall in jede andere Währung umtauschbar. Das ist natürlich anders bei einer kleinen Volkswirtschaft, deren Währung nur im Binnenmarkt gehandelt wird. Wollen bulgarische Handelsunternehmen importieren, müssen sie die Importe in Euro oder Dollar bezahlen und sie bekommen Lewa, wenn sie sie die importierten Güter im Inland verkaufen. Für den Export bekommen sie Dollar, die sie in Lewa umtauschen müssen, um inländische Arbeitskräfte, Lieferanten, Rohstoffe und Vorprodukte zu kaufen. Ist der Handel ausgeglichen gibt es kein Problem. Aber wenn sie mehr importieren als sie exportieren nutzt die Geldschöpfung bulgarischer Banken nichts, denn die Exporte können nicht mit Lewa bezahlt werden. Und die Möglichkeiten bulgarischer Unternehmen, bei ausländischen Banken Schulden in Fremdwährungen aufzunehmen sind begrenzt.
4. Es gibt aber eine weitere Grenze und diese gilt auch, wenn die Handelspartner dieselbe Währung haben. Um die Importe zu finanzieren, müssen Unternehmen oder private Haushalte (oder auch der Staat) in dem Land mit den Importüberschüssen Kredite aufnehmen, und zwar zunächst mal bei Banken, die Geld schöpfen, zusätzliche Zahlungsmittel herstellen können. Die Grenzen der Finanzierung von Importen sind also die mobilisierbaren vorhandenen Geldvermögensbestände und die Möglichkeiten der Aufnahme geldschöpfungsfinanzierter Kredite bei Banken.
Die Kreditaufnahme von privaten Haushalten und Unternehmen bei Banken ist begrenzt. Zunächst einmal müssen Kreditnehmer Sicherheiten hinterlegen, zudem müssen sie die Kredite mit Zinsen zurückzahlen und einen Einkommensnachweis erbringen. Die Sicherheiten und die laufenden Einkommen sind somit eine Grenze für die Finanzierung von Importen. Wenn alle Haushalte und Unternehmen entspart haben und bis an die Grenze ihrer Sicherheiten und Einkommen verschuldet wären, dann sind keine negativen Handelsbilanzen mehr möglich – theoretisch. Bei ärmeren Volkswirtschaften ist dieser Spielraum nicht sehr groß. Hinzu kommen rechtliche Grenzen, die Bankinsolvenzen verhindern sollen und die Kreditvergabe der Banken entsprechend Eigenkapital und anderer Parameter begrenzen. Die Vorschriften des Ausschusses für Bankenaufsicht (Basel III) regeln die Risikoabdeckung und die Transparenz beim Eigenkapital der Banken und legen Verschuldungsquoten fest. Damit begrenzen sie die Kreditvergabe der Geschäftsbanken.
Grundsätzlich gelten solche faktischen und rechtlichen Grenzen auch für Staaten, wenn die Kredite in Fremdwährungen aufgenommen werden müssen. Zwar waren und sind die Grenzen für die Kreditaufnahme von Staaten weiter, aber grundsätzlich nicht unbegrenzt. Nur die USA können ihre Importe unbegrenzt finanzieren, zumindest solange der Dollar als Weltgeld überall unbeschränkt angenommen wird. In der Eurozone sind es vor allem rechtliche Grenzen. Theoretisch könnte die Europäische Zentralbank die Verschuldung der Mitgliedsländer unbegrenzt finanzieren. Aber der Euro wirkt wegen der Verschuldungsregeln des Stabilitäts- und Wachstumspaktes wie eine Fremdwährung – das ist einer der Konstruktionsfehler des Euro-Systems. Es gelten Schuldengrenzen, Staaten sollen das jährliche Haushaltsdefizit auf 3 % des BIP und die gesamte öffentliche Verschuldung auf 60% ihres BIP begrenzen (Maastricht-Kriterien). Allerdings wurden diese Regeln schon infolge der Weltfinanzkrise gebrochen und der Corona-Epidemie gebrochen. In Deutschland musste die Schuldenbremse immer wieder ausgesetzt werden.[9]
5. Wir kommen nun zu einem, Phänomen, das Varoufakis „Überschussrecycling“ nennt. Es ist in der heutigen Ausprägung typisch für den Finanzmarktkapitalismus und macht Finanzsysteme äußerst anfällig. Es ist mit dem Aberglauben an effiziente Finanzmärkte verbunden.
Wir beginnen wieder mit unserem Modell des Handels zwischen zwei Volkswirtschaften, von denen die eine einen Export- und die andere einen Importüberschuss hat. Wir nehmen vereinfachend an, es handelt sich um Transaktionen innerhalb einer Währungsunion, berücksichtigen also keine Wechselkurssysteme.
Im Defizitland kumuliert die Kreditaufnahme, im Überschussland häufen sich Geldbestände (Zahlungsmittelbestände) an. Solange das Defizitland genügend Geldbestände hat oder genügend Geld schöpfen kann, müssen keine Zahlungsmittel aus dem Überschussland in das Defizitland fließen. Es ist nicht zwangsläufig so, dass die Überschussländer die Importe in die Defizitländer finanzieren müssen. Das ist erst nötig, wenn wir verstehen wollen, wie man die oben dargestellten Grenzen der Kreditaufnahme weiter hinausschieben kann. Faktisch aber ist die Finanzierung von Handelsbilanzdifferenzen durch Überschussrecycling tatsächlich die Regel.
Die Geldbestände auf den Konten der Geldbesitzer im Überschussland machen diese nicht sehr glücklich, denn sie liegen auf Konten herum und werfen keine oder nur sehr geringe Zinsen ab. Deshalb suchen die Geldbesitzer*innen nach Anlagemöglichkeiten. Man kauft Grundstücke, Aktien, Staatsanleihen oder alle möglichen anderen Wertpapiere. Die Hoffnung ist natürlich, dass diese Anlagen Zinsen oder Dividenden abwerfen oder eine Rendite aus dem Wertzuwachs der Geldanlagen. Nicht alle, aber einige dieser Anlagen erweitern den Spielraum für die Finanzierung von Handelsbilanzdivergenzen.
Zunächst: Wenn ein Geldbesitzer inländische Aktien oder Immobilien kauft, ändert sich am Geldbestand nichts, er wechselt nur auf ein anderes Konto. Vielleicht werden damit Kredite getilgt, dann sinkt der Bestand an Geldvermögen und Schulden im Inland, aber das hat das keinen Einfluss auf die Zahlungsbilanz. Anders sieht es aus, wenn die Geldbesitzer des Überschusslandes ausländische Wertpapiere, Aktien, Staatsanleihen o.ä. kaufen. Es müssen nicht die des Defizitlandes sein, das kann über mehrere Stufen auf den internationalen Finanzmärkten laufen. Dann nämlich fließen Euro ins Ausland ab, die Giralgeldbestände im Inland nehmen ab, dafür nimmt der Bestand an ausländischen Wertpapieren oder -anlagen im Inland zu. Das gilt auch für den Fall, das im Ausland Grundstücke oder Unternehmen oder andere immobile Sachgüter erworben werden. (Mobile Sachgüter hingegen wären Importe. Wichtig ist, dass der erworbene Gegenstand im Ausland bleibt und für den Inländer Auslandsvermögen darstellt.) Derartige Transaktionen führen also zum Abfluss von Geldbeständen auf Auslandsmärkte.
Nun müssen wir die Kehrseite, das Defizitland, betrachten. Hier haben Unternehmen, Haushalte und ggf. auch der Staat ihr Kreditvolumen genutzt, um Importe zu finanzieren. Aber sie haben spiegelbildlich die gleiche Möglichkeit wie die Geldbesitzer im Überschussland: sie verkaufen Vermögensgegenstände: Aktien, Grundstücke, Staatsanleihen und ggf. verbriefte Schulden. Insbesondere werden die Renditen verbrieft, die aus den Zinszahlungen an die Kreditgeber fließen. Für den Verkauf dieser Finanzanlagen an ausländische Geldbesitzer fließt Geld in das Defizitland. Man kann vereinfacht denken, die Geldbesitzer aus dem Überschussland kaufen Wertpapiere, verbriefte Schuldscheine, Immobilien oder ganze Unternehmen in dem Defizitland. Dabei fließen die Zahlungsmittel, die für die Importe aus dem Defizitland in den Überschussland geflossen sind, wieder in das Defizitland zurück, es gibt einen Geldkreislauf. Statt Geldschulden im Defizitland und Geldvermögen im Überschussland sammeln sich nun Wertpapierbestände, Auslandsvermögen(stitel), Direktinvestitionen im Überschussland an, während das Defizitland Vermögenstitel generiert, diese „exportiert“ und ggf. Direktinvestitionen empfängt (vgl. Abb. 9). Das funktioniert auch über Zwischenschritte, d.h. es muss nicht der direkte Strom, von Geld und Wertpapieren zwischen diesen Handelspartnern sein.
Mit dem zurückfließenden Geld kann dann erneut importiert werden, ohne das weitere Zahlungsmittel emittiert werden müssen. Unter Umständen gleicht der Strom an Vermögensgegenständen den Zahlungsmittelstrom aus dem Handel vollständig aus, ansonsten bleibt ein Anteil Finanzierung durch Ausweitung der Kredite und Geldschöpfung. Das Überschussrecycling mittel Wertpapieren und Vermögenstiteln erweitert also die Reichweite der Finanzierung von Handelsbilanzdivergenzen über die Grenzen der Kreditschöpfung hinaus.
Auch hier gibt es natürlich Grenzen: nämlich die Menge an Grundstücken, Unternehmen und Wertpapieren, die aus dem Defizitland ans Ausland verkauft werden können. Allerdings hat die Finanzkrise gezeigt, dass der Fantasie bei der Kreation dubioser Wertpapiere kaum Grenzen gesetzt sind – solange die Käufer der Werthaltigkeit vertrauen und Kurssteigerungen erwarten – also bis die Blase platzt. Die Risiken bei dieser Form des Überschussrecycling sind beträchtlich. Die enorme Nachfrage nach Immobilien und Wertpapieren erzeugt selbstreferenzielle Kurssteigerungen ohne realwirtschaftliche Grundlage. Wenn diese von Kettenspielen getriebenen Kurse zusammenbrechen verschwinden Finanzanlagen und Geldvermögen im Nichts, das gesamte Handelssystem und die Produktionsabläufe geraten in die Krise. Besonders gefährlich wird es, wenn Finanzanlagen, also der Kauf von Wertpapieren Immobilien und anderen Spekulationsobjekten, über Geldschöpfung finanziert wird, Kredite verbrieft, gestückelt und gehandelt werden. Hier entsteht eine Pyramide von Finanzierungen. Erst erweitern Wertpapierkreisläufe die Möglichkeiten der Geldschöpfung, dann erweitert die Geldschöpfung die Möglichkeiten des Überschussrecycling durch Wertpapiere und Finanzanlagen. Und das alles ohne jeden realwirtschaftlichen Nutzen und verbunden mit Risiken und negativen Folgen für die Stabilität des Finanzsystems.
Abb. 9: Überschussrecycling
Tabelle 1 zeigt die typischen Transaktionen für ein Überschussland (DE) und ein Land mit Handelsbilanzdefizit (FR) im Jahr 2016. Deutschland exportiert mehr Waren als es importiert (271,7 Mrd. EUR), der Saldo der Dienstleistungen ist negativ. Der Transfer von Primäreinkommen (vor allem zufließende Vermögenseinkommen aus dem Ausland) überwiegt den Transfer der Sekundäreinkommen (vor allem Überweisungen von ausländischen Arbeitnehmern in Deutschland, die Geld an ihre Familien im Ausland überweisen). Der Leistungsbilanzsaldo ist positiv, 261,4 Mrd. EUR. Diese Einnahmen müssten Deutschland als Saldo pro Jahr zuströmen. Würde die gesamte Summe als Geldvermögen in Deutschland deponiert würde dies in der Kapitalbilanz als Erhöhung der sonstigen Forderungen, darunter der Giralgeldeinlagen oder des Bargeldbestandes) erscheinen. Diese Position ist aber nicht negativ. Tatsächlich wird das aus dem Handel und den Handelsbilanzüberschüssen zuströmende Geld für Finanzanlagen ausgegeben, und zwar überwiegend für Wertpapieranlagen (207,9 Mrd.) und Direktinvestitionen (22,8 Mrd.).
Tabelle 1: Bilanz der Leistungen und des Kapitalverkehrs für Deutschland, Frankreich, Italien und Griechenland 2016 in Mrd. EUR (Quelle: Eurostat 2017).
Frankreich hat einen negativen Handelsbilanzsaldo, dementsprechend muss der Kapitalverkehrssaldo positiv (+31,8 Mrd.) sein, d.h. Kapital (Schuld) fließt zu. Frankreich vergibt per Saldo auch Direktinvestitionen (-16,5) an das Ausland und kauft ausländische Wertpapiere (-22,5), wenn auch weniger als in Deutschland. Der Saldenausgleich erfolgt im Posten übriger Kapitalverkehr, dabei sind Kredite aus dem Ausland die größte Position (+73,3 Mrd.), meist Kredite an französischer Unternehmen, Banken oder den Staat durch ausländische Geldgeber.
3.3. Folgen: Sparende Unternehmen
Seit etwa 2000 ist vor allem in Überschussländern ein neues Phänomen zu beobachten: Unternehmen mit positivem Finanzierungssaldo. Unternehmen legen mehr Geld an als sie für den laufenden Betrieb und Investitionen ausgeben. Das ist für eine Marktwirtschaft ein ungewöhnliches Verhalten. Normalerweise investieren Unternehmen Finanzen in Innovationen und Sachanlagen. Die laufenden Einnahmen reichten in der Regel nicht, man benötigte Einlagen von den Unternehmenseigentümern (Eigenkapital), nahm Anleihen oder Kredite bei privaten Haushalten, Fondsgesellschaften oder Banken auf oder gab Aktien aus.
Abb. 10a zeigt diese Situation zwischen 1960 und 1975. Die Finanzierungssalden zeigen: Private Haushalte sparen. Unternehmen nehmen Finanzmittel auf, verschulden sich, um investieren zu können. Der Staat hat mal Überschüsse, mal Defizite, gleicht so konjunkturelle Schwankungen aus. Das Ausland sollte eine ausgeglichene Bilanz haben, also mal Überschüsse, mal Defizite aufweisen, die sich mittelfristig ausgleichen. Im deutschen Fall sehen wir ein leichten Defizit zwischen Null und zwei Prozent des BIP, Deutschland neigte schon immer zu Überschüssen, die allerdings in dieser Zeit geringer waren als die derzeit zu verzeichnenden sechs bis acht Prozent. In den 1990er Jahren dreht sich das: die Haushalte sparen weiter, aber die Unternehmen nehmen diese Finanzen per Saldo nicht mehr über Kredite und Kapitaleinlagen auf.
Wie ist das zu erklären? Warum investieren die Unternehmen per Saldo weniger als sie einnehmen? Zuwenig Geld haben sie nicht und die Kreditzinsen sind zumindest seit Jahren niedrig. Es hat zwei miteinander verbundene Gründe: Erstens fehlt die Binnennachfrage für umfassende Investitionen. Zweitens sind die zu erwartenden Renditen für Finanzanlagen höher als die für Investitionen in die Realwirtschaft. Das ist eine paradoxe Situation, denn auf den Finanzmärkten entstehen keine Waren und werden keine realen Werte produziert, es wird nur umverteilt. Offensichtlich sind aber die Gewinne aus Spekulation und Umverteilung, Gewinne auf Kosten anderer, unter bestimmten Bedingungen und für einige Akteursgruppen höher als die Gewinne aus der Realwirtschaft.
Grundlage ist der Übergang von einem realwirtschaftlich orientierten fordistischen Teilhabekapitalismus in den Finanzmarktkapitalismus mit einem anderen Regime wirtschaftlicher Entwicklung (Hein 2016). Zu den Rahmenbedingungen gehören knappe Löhne, ein Billiglohnsektor, deregulierte Finanzmärkte, Shareholde-Value-Strategien im Management, Wettbewerb der Finanzanleger um Kapitalanlagen – und daraus folgen divergente Handelsbilanzen und eben sparende Unternehmen.
Abb. 10a: Finanzierungssalden der Wirtschaftssektoren 1960-1970 – sparende Haushalte und Kredite aufnehmende Unternehmen; Staat und Ausland sind mehr oder weniger ausgeglichen (Quelle Flassbeck, Spieker, 17.2.2015).
Abb. 10b: Finanzierungssalden der Wirtschaftssektoren 1991-2013 – sparende Haushalte, aber nun sparen auch die Unternehmen. Der Saldo muss sich aber zu Null summieren. Das Geldvermögen, das eine Seite spart, muss die andere als Schuld aufnehmen. Bis 2006 hat der Staat sich verschuldet, um die Wirtschaft am Laufen zu halten. Seit 2010 versucht aber auch der Staat, den Haushalt auszugleichen. Das gelingt nur, indem das Ausland in die Schuldnerposition geht – gezwungen durch deutsches Lohndumping und Exportüberschüsse zwingt (Quelle: ebd.).
3.4. Zwischenfazit
a) Ursache der Überschüsse in den Handelsbilanzen sind divergente Lohnstückkostenentwicklungen, also die Abweichung der Arbeitskosten (Lohn und Lohnnebenkosten) von einer produktivitätsorientierten Entwicklung nach unten, vor allem in Deutschland, verstärkt seit der Agenda 2010. Ursache der seit 2012 wachsenden Überschüsse der Eurozone gegenüber anderen Volkswirtschaften im Weltmarkt ist die mehr oder weniger erfolgreiche Anpassung der Entwicklung der Arbeitskosten nach unten an das deutsche Niveau. Dieses Niveau kann jedoch kaum erreicht werden, solange Deutschland nicht deutliche Schritte zur Reduzierung des Rückstands zur Zielinflationsrate macht (vgl. Abb. 5 und 7).
b) Folgen der Handelsbilanzdivergenzen sind eine hohe Arbeitslosigkeit, vor allem in den Defizitländern. In den Überschussländern sinkt die Arbeitslosigkeit (wird exportiert in die Defizitländer), ist aber mit über 3 Prozent immer noch zu hoch.
c) Eine Folge ist die Fehlorientierung der wirtschaftlichen Entwicklung auf Kostensenkungen vor allem im Bereich der Löhne und Arbeitskosten – obwohl gerade diese nur aus betriebswirtschaftlicher Sicht Kosten, aus volkswirtschaftlicher Sicht hingegen Grundlage von Wohlfahrtseffekten sind.
d) Die wirtschaftliche Entwicklung ist durch zunehmende Disproportionen und Disparitäten gekennzeichnet. In den Überschussländern wächst die Exportindustrie, während die auf den Binnenmarkt orientierte Wirtschaft, vor allem die Dienstleistungen und die öffentliche Infrastruktur zurückbleiben und erhebliche Investitionsrückstände aufweisen. In den Defizitländern sind De-Industrialisierungstendenzen festzustellen. Die Corona-Krise hat Defizite in der Infrastruktur und dem Gesundheitswesen aufgedeckt.
e) Die durch die Überschüsse und Defizite in den Handelsbilanzen ausgelösten Finanzströme, die Verschuldung von Unternehmen, Haushalten und Staat auf der einen Seite und die Anhäufung von enormen Finanzvermögen auf der anderen Seite destabilisieren das Finanzsystem und sind mit hohen Risiken verbunden. Das Platzen von Spekulationsblasen bei Immobilien, Wertpapieren, Währungen, Rohstoffen und Lebensmitteln kann das gesamte Zahlungssystem zerstören. Damit verbunden ist eine weitere Fehlorientierung in der Selektion von Innovationen und Investitionen, die auf die Rendite von Finanzanlagen statt überwiegend auf realwirtschaftliche Effekte orientiert ist.
4. Der Versuch der EZB, die Eurozone durch Zinssenkungen und QE-Programm zu stabilisieren
Die EZB hat auf zwei Wegen versucht, das Euro-Finanzsystem zu stabilisieren und zur Bewältigung der Krise beizutragen: Erstens durch Zinssenkungen (der Leitzins wurde von etwa 3 Prozent in der Finanzkrise 2009 auf unter 1 Prozent gesenkt und beträgt seit 2012 Null bzw. derzeit -0,5 Prozent).[10] Zweitens mit den verschiedenen QE-Programmen. Dabei kauft die Zentralbank auf dem Sekundärmarkt Wertpapiere, Aktien, Staatsanleihen u.ä. auf, wodurch zunächst Zentralbankgeld (Reserven) in das Bankensystem gelangen. Dabei steigt die Bilanzsumme der EZB. In der Folge sank das Zinsniveaus auf breiter Front.
Abb. 11: Bilanzsumme (Reserven) der EZB in Euro. Es sind drei Wellen der QE zu erkennen: 2011-2012, 2015-2018 und 2020 (Corona).
Der zentrale Auftrag der EZB ist die Preisstabilität, definiert durch eine Inflationsrate von knapp unter 2 Prozent. Da die Inflationsrate im Euroraum seit 2013 unter der Zielinflationsrate liegt (2015 bei 0,2 Prozent, 2019 bei 1,2 Prozent) kann sie QE im Rahmen ihres Auftrags begründen. Sie unterstellt dabei, eine Senkung des Zinsniveaus führt zu steigender Inflation. Die Rechnung ist aber nur teilweise aufgegangen.
Das durch QE emittierte Zentralbankgeld lag und liegt auf den Konten der Banken ohne deutliche Wirkung auf die volkswirtschaftliche Nachfrage. Das System – Staat, Unternehmen und Haushalte – war bis 2020 auf Sparen und Postwachstum getrimmt.[11] Dabei geht es nicht um das Wollen der einzelnen Akteure, sondern um die Rahmenbedingungen und die institutionellen Konstellationen, in denen Unternehmen, Staat und private Haushalte agieren. Der eigentliche Effekt von QE ist nicht direkt eine Nachfragesteigerung, sondern die Senkung des Zinsniveaus auf breiter Front.
Mittelbar aber ist eine solche Wirkung auf die Inflation doch vorhanden, weil durch die breite Zinssenkung Staatshaushalte entlastet wurden. Selbst im Rahmen der Schuldenbremsen waren etwas höhere Staatsaufgaben möglich, weil die Zinsbelastungen sanken. Man kann die EZB-Politik also durchaus mit der Zielinflationsrate begründen.
Das eigentliche Ziel der EZB-Politik aber war, das Euro-Finanzsystem vor dem Kollaps zu bewahren. Durch die umfassenden Zinssenkungen wurden zunächst Staatsinsolvenzen verhindert, denn Staaten konnten sich zum Zinssatz Null neu verschulden oder refinanzieren. Staatsinsolvenzen sind im Euro-System zwar nicht geregelt, wären aber unvermeidlich, wenn die EZB im Zahlungssystem die Finanzierung der Banken für bestimmte Staaten einstellen müsste, wie dies in der Griechenlandkrise tageweise der Fall war. Wenn die Zinssätze dem Druck der Finanzmärkte ausgeliefert immer weiter gestiegen wären hätte es nach Griechenland auch Italien, Spanien und Portugal treffen können, bei einem Kettenzusammenbruch vielleicht auch Frankreich. Eine Staatsinsolvenz, der Austritt aus dem Euro, eine Spaltung in einen Nord- und einen Südeuro, die organisierte Auflösung oder sogar der unorganisierte Zusammenbruch des Eurosystems wären mögliche Szenarien gewesen. Das konnte die EZB abwenden – nicht mehr, nicht weniger.
Damit diente und dient die EZB-Politik der Staatsfinanzierung und somit der Stabilisierung des Euro-Finanzsystems. Dabei hat die EZB indirekt auch die Bankenrettung und die Rettungsschirme durch die EU und die Mitgliedsstaaten ermöglicht. Je nach Standpunkt kann man das formal als innerhalb oder außerhalb der Kompetenz der EU betrachten. Das ändert nichts daran, dass diese Rettungspolitik ökonomisch geboten war.
Die Funktionsdefizite des Eurosystems sind damit nicht beseitigt. Weder können die Arbeitslosenquoten massiv gesenkt noch die strukturellen Fehlentwicklungen im Binnenmarkt und den Infrastrukturinvestitionen korrigiert werden.
Bezogen auf das Zahlungssystem und die Staatsfinanzierung haben die EZB-Programme kompensatorisch gewirkt, allerdings immer nur zeitlich begrenzt. Solange die eigentlichen Ursachen nicht angegangen werden, wird ein Rettungsprogramm dem nächsten folgen müssen. Hinzu kommen erhebliche Nebenwirkungen, die ja auch das BVerfG beklagt – allerdings ohne sie gegen die Notwendigkeit, das Euro-System retten zu müssen, abzuwägen. Die niedrigen Zinsen und die vermeintliche Geldschwemme haben Spekulanten auf den Plan gerufen, die mit Krediten Immobilien, Wertpapiere, Rohstoffe und andere Spekulationsobjekte kaufen, Blasenbildung an den Börsen verursachen und Fehlallokationen bezogen auf die Realwirtschaft verursachen. Zudem sind auch Stiftungen und Sparer wegen der niedrigen Zinsen in Not. Hier hat das BVerfG zu Recht eine Verhältnismäßigkeitsprüfung gefordert – aber nötig wäre eine transparente, öffentlich zugängliche und der Diskussion unterworfene Vorgehensweise. Diese sollte aber nicht die Einstellung der EZB-QE-Programme zum Ziel haben, sondern eine Diskussion über die zentralen Funktionsdefizite des Euro und deren Beseitigung. Dann nämlich könnte man auf QE verzichten und müsste sich nicht mit den Nebenwirkungen herumschlagen.
Was ist zu erwarten, wenn eine grundlegende Revision der institutionellen Gegebenheiten der Eurozone nicht in absehbarer Zeit erfolgt? Ein Austritt einzelner Staaten, ein Auseinanderbrechen der Eurozone, die geordnete oder ungeordnete Auflösung in einer Krise ist nicht auszuschließen und auch nicht unwahrscheinlich. Aber wahrscheinlicher ist, das die verschiedenen Rettungsschirme einschließlich der EZB-Politik temporär immer wieder in der Lage sind, Finanzkrisen zu managen und den Zusammenbruch zu verhindern.
Unter diesen Voraussetzungen wird es auf absehbare Zeit bei Handelsbilanzdivergenzen innerhalb der Eurozone sowie zwischen Eurozone und Volkswirtschaften außerhalb der Eurozone bleiben. Allerdings werden die jährlichen Überschüsse nicht mehr weiter wachsen sondern langsam zurückgehen, weil die Defizitländer innerhalb der Eurozone nicht mehr in der Lage sind, ihre Defizite weiter zu vergrößern und Länder außerhalb der Eurozone, insbesondere die USA, beginnen, gegen Außenhandelsdefizite vorzugehen.
Für Deutschland ist in Zukunft nicht mit starken Wachstumsimpulsen vom Außenbetrag zu rechnen. Der Exportüberschuss wird zurückgehen, das sollte möglichst kontrolliert und schrittweise geschehen. Dies wird zu einem Rückgang der wirtschaftlichen Dynamik und wieder steigenden Arbeitslosenquoten führen – vielleicht nicht im Maße der 1990er Jahre, weil die demographische Lage eine ganz andere ist – die in den Arbeitsmarkt eintretenden Jahrgänge sind geburtenschwach. Neue Dynamik könnte nur mit einem anderen Entwicklungsmodell gewonnen werden (Abschnitt 6).
5. Was wäre nötig für eine funktionierende Euro-Währungsunion?
Es gibt drei entscheidende Defizite des Eurosystems:
1. Es gibt keine Koordinierung der Inflationsraten, was vor allem eine Koordination der Lohnentwicklung erforderte. Die Lohnentwicklung der einzelnen Mitgliedsländer muss mittelfristig der jeweiligen Produktivität entsprechen.
Die Inflationsraten liegen seit 2013 nicht nur teilweise erheblich unter der Zielinflationsrate (Abb. 12). Die folgende Abb. 13 zeigt, dass die Inflationsraten auch 2020 erheblich differieren, zwischen Griechenland (-2,1 Prozent) und Österreich (+plus 1,8) bzw. Deutschland (0,0) und Frankreich (+0,9) – bei einer gemeinsamen Zielinflationsrate von 1,9, die kein Euroland einhält. In einer Währungs- und Wirtschaftsunion sind differente Inflationsraten ein unhaltbarer Zustand.
Abb. 12: Inflationsraten in EU und Eurozone (Quelle: Eurostat/Grafik: Statista).
Die EZB ist für die Einhaltung einer Zielinflationsrate von 1,9 Prozent zuständig und sie hat mehr oder weniger gut funktionierende Instrumente (Leitzins, QE), um die durchschnittliche Inflationsrate der gesamten Eurozone zu beeinflussen. Aber es gibt ohne Lohnregulation keinerlei Möglichkeit, für eine einheitliche Inflationsrate in allen Mitgliedsstaaten zu sorgen.
„Wichtig ist an dieser Stelle anzumerken, dass selbst wenn die durchschnittliche Inflationsrate dem EZB-Inflationsziel entsprechen würde, nichts gewonnen wäre. Nur dann, wenn die Inflationsraten aller Euro-Mitgliedsländer mehr oder weniger gleich hoch wären, könnten die schädlichen makroökonomischen Ungleichgewichte in der Eurozone vermieden werden.“ (Steinhardt 2020, 22.05)
2. Es gibt keine Koordinierung der nationalen Finanzpolitiken, abgesehen von einer formalen Verschuldungsgrenze, keine Orientierung der Fiskalpolitik an der für das Funktionieren der Währungsunion unabdingbaren Forderung nach gleichen Inflationsraten. Statt der Verschuldungsregeln des Fiskalpaktes muss die Fiskalpolitik an der jeweiligen nationalen Wirtschaftsentwicklung ausgerichtet werden. Wichtig wäre, die Auslastung des Wirtschaftspotenzials zu Grund zu legen und zu bremsen, wenn die Kapazitäten überlastet werden und zu stimulieren, wenn die Auslastung sinkt und die Arbeitslosigkeit zu steigen droht. Allerdings ist heute eine derartige konjunkturell orientierte Fiskalpolitik nur zielführend, wenn sie mit inhaltlichen Kriterien, insbesondere einer Beachtung der ökologischen Tragfähigkeitsgrenzen, verbunden würde.
Abb. 13: Inflationsraten der EU Mitgliedsländer im Juli 2020 gegenüber dem Vorjahresmonat (Quelle: Eurostat/Grafik: Statista).
3. Es wäre sinnvoll, das Verbot der monetären Staatsfinanzierung aufzuheben. Es ist unsinnig, durch die Bindung an Sekundärmärkte den Steuerzahler mit Provisionen für Banken, Spekulanten und alle möglichen Anleger zu belasten. Zudem hätte die EZB bei direkter Staatsfinanzierung einen wesentlich größeren Spielraum, um Finanzkrisen schnell und wirksam zu bekämpfen. Als Zentralbank der Eurozone sollte die EZB jedem einzelnen Mitgliedsland als Kreditgeber der letzten Instanz unbegrenzt verpflichtet sein. Gerade deshalb sollten Budget und Verschuldung einer öffentlichen und einer fachlichen Kontrolle unterliegen. Der richtige Weg ist nicht eine unabhängige Zentralbank und eine juristisch konstruierte Schuldenbremse, sondern ein demokratisches Verfahren. Die nationalen Parlamente sollten mit einem jährlichen Bericht über die wirtschaftliche Entwicklung entscheiden, welche Ausgaben- und Verschuldungspolitik in der jeweiligen Lage angemessen ist. Dabei besteht die Gefahr, dass Parteien und im Wahlkampfmodus oder unter dem Einfluss von Sonderinteressen in Parlamenten Beschlüsse durchsetzen, die volkswirtschaftlich dysfunktional sind und zu Fehlentwicklungen führen. Daher sollte ein demokratisches Verfahren zur Entscheidung über Ausgaben, Investitionen und Verschuldungsgrenzen zweckmäßigerweise durch ein Expertengremium ergänzt werden, das einen Bericht vorlegt und evtl. auch über Vetorechte politische Entscheidungen öffentlich wahrnehmbar kritisieren und an Parlamente zurückverweisen darf.
Wie könnte eine verfassungskonforme Koordinierung der Lohnentwicklung aussehen? Die Löhne sollten nach wie vor durch die Tarifpartner ausgehandelt werden. Dies ist verfassungsrechtlich geboten und auch wirtschaftlich vernünftig. Allerdings muss man sich davon verabschieden, dass hier der Markt Löhne festlegt. Tatsächlich ist es ein politischer Interessenausgleich, der zugleich mit ökonomischen Erfordernissen und objektiven Gesetzen in Einklang gebracht werden muss – und hier eben auch mit den Funktionsbedingungen der Euro-Währungsunion, die gleiche Inflationsraten und daher gleiche Lohnstückkosten erforderlich macht.
Mein Vorschlag (Land 2018, 19.4.) wäre ein dreistufiges System: Zur ersten Stufe gehört ein jährlicher Bericht über die volkswirtschaftliche Lohnentwicklung im Verhältnis zur Produktivität aufgeschlüsselt nach Bereichen (Lohnkosten, Lohnnebenkosten, staatlich finanzierte Sozialausgaben, die zum volkswirtschaftlichen Lohnfonds gehören) und Branchen (welche Branchen lagen über oder unter dem volkswirtschaftlich erforderlichen Lohnentwicklungspfad, evtl. auch warum). Mit einem solchen Bericht, der von einem Expertengremium zu erarbeiten wäre und dem Parlament vorzulegen ist, sind alle Informationen verfügbar, die es den Tarifpartnern ermöglichen, volkswirtschaftlich vernünftige Lohnziele anzustreben.
Die zweite Stufe würde eintreten, wenn die Abweichung der Lohnentwicklung von Produktivität und Zielinflationsrate ein bestimmtes Maß überschreitet, beispielsweise 2 Prozent. Hier sollte die Regierung oder das Parlament eine Disproportion feststellen und die Tarifpartner förmlich auffordern, das zu korrigieren. Darüber hinaus können auch staatliche Maßnahmen (Sozialausgaben oder Arbeitsförderung betreffend) beschlossen werden.
Die dritte Stufe würde eintreten, wenn im Jahr nach einer solchen Aufforderung die Abweichung erneut 2 oder 3 Prozent beträgt. Dann sollte das Parlament eine erhebliche volkswirtschaftliche Disproportion feststellen und selbst in die Tarifverträge korrigierend eingreifen dürfen. Die Tarifpartner hätten zuvor alle Möglichkeiten, verantwortungsvolle und an objektiven den volkswirtschaftlichen Erfordernissen orientierte Tarifabschlüsse in eigener Verantwortung zu erreichen. Der Eingriff in die Tarifautonomie ist in dem Falle zeitlich befristet und mit einer Notlage begründet.
Eine gemeinsame Investitionspolitik kann eine Koordinierung der Lohnentwicklung nicht ersetzen. Das Volumen der durch divergente Lohnstückkosten entstehenden Überschüsse und Defizite ist so groß, dass weder Transfers noch asymmetrische Investitionen dies kompensieren könnten. Es würde sich um mehrere hundert Milliarden pro Jahr handeln (vgl. Flassbeck 2016, 11.7. und Land 2018, 2.6.)
6. Grenzen und Bedingungen einer weitergehenden Integration: ein neues Entwicklungsmodell und eine ökologische Globalisierungsstrategie
Im vorigen Abschnitt sind die notwendigen Voraussetzungen für die Funktionsfähigkeit der Währungsunion genannt worden. Gelänge ihre institutionelle Umsetzung könnten dramatische, das Eurofinanzsystem destabilisierende Handelsbilanzdivergenzen vermieden werden.
Allerdings wären damit noch nicht alle Probleme gelöst. Innerhalb der Eurozone gibt es beträchtliche Produktivitätsunterschiede (Abb. 14) und folglich große Differenzen der Löhne und der Arbeitskosten. Eine volkswirtschaftlich korrekte Regulierung der Lohnstückkostenentwicklung würde daran nichts ändern, vielmehr liefe die goldene Lohnregel gerade darauf hinaus, dass die Löhne in weniger produktiven Ländern entsprechend geringer sein müssten. Damit wäre ein erhebliches Wohlstandsgefälle innerhalb der Eurozone und der EU verbunden.
Abb. 14: Entwicklung der Produktivität in ausgewählten Euro-Ländern 2004-2013 (Daten und Grafik: Eurostat).
Unter den Voraussetzungen der Freizügigkeit von Arbeit und Kapital würde das dazu führen, dass Arbeitnehmer*innen aus den Ländern mit geringerem Lohn- und Wohlstandsniveau in die mit höheren abwandern. Ebenso würden Unternehmen versuchen, Arbeitskräfte aus Ländern mit geringerem Lohnniveau anzuwerben oder Leiharbeitskräfte einzukaufen. Wenn man dies nicht institutionell verhindert, würde dies die Produktivitätspotenziale in weniger entwickelten Ländern weiter schwächen. Angesichts des Fachkräftemangels in den entwickelten Ländern ist zu befürchten, dass gut ausgebildete Personen migrieren. Bei Ärzten, Pflegekräften, Ingenieuren und einigen anderen Dienstleistungsbranchen ist dies schon seit Jahren zu beobachten. Auch eine gut regulierte Eurozone würde nicht verhindern, dass die Produktivitäts- und Lohndifferenzen weiter anwachsen, zumindest aber nicht abgebaut werden.
Heute hat die EU einen gemeinsamen Markt und die Eurozone zusätzlich eine einheitliche Währung. Die Integration der Eurozone zu einer Volkswirtschaft erfordert nicht nur eine funktionierende gemeinsame Währung, sondern auch ein annährend gleiches Lohnniveau, ein überwiegend einheitliches Steuersystem und annähernd gleiche Vorgaben im Hinblick auf Umweltregelungen, Arbeits- und Verbraucherschutz und das Rechtssystem. Die Integration zu einer Volkswirtschaft und der Grundlage für einen Bundesstaat „Vereinigte Staaten von Europa“ sind angesichts der Produktivitäts- und Einkommensunterschiede und der verschiedenen institutionellen und kulturellen Voraussetzungen nicht absehbar.
Eine weitergehende Integration muss durch eine Annäherung des Niveaus der wirtschaftlichen Entwicklung geschehen. Daher muss perspektivisch die Entwicklung der Eurozone so ausgerichtet werden, dass die schwächeren Länder aufholen und größere Produktivitätsfortschritte machen, indem sie ihre eigenen Stärken durch Selbstorganisation entwickeln.
Mit dem derzeitigen Wettbewerbsmodell, das vor allem auf die Senkung der Arbeitskosten orientiert ist, kann das nicht erreicht werden. Es müssten neue Felder wirtschaftlicher Entwicklung entstehen, die für nachholende Entwicklung auf komplementären Pfaden geeignet sind. Und diese Felder müssten echte Zukunftschancen enthalten – statt Finanzmarkt- und Digitalisierungsgeklingel.
Hier treffen sich zwei Überlegungen: Wie ist eine neue wirtschaftliche Dynamik zu gewinnen und worauf sollte ein neues Entwicklungsmodell ausgerichtet werden? Und wie sind die Produktivitätsdifferenzen innerhalb der Eurozone zu überwinden? Nicht auf den bisherigen Pfaden des Finanzmarktkapitalismus. Aber auch eine Rückkehr zu einem keynesianisch regulierten Teilhabekapitalismus, der auf die Rückkopplung von Produktivitätssteigerung durch Massenproduktion und Massenkonsum setzt, ist aus ökologischen und sozialen Gründen kein gangbarer Weg.
Wirtschaftliche Dynamik könnte wieder gewonnen werden, wenn die Industriestaaten ihr Entwicklungsmodell auf Investitionen in den ökologischen Umbau in globalem Maßstab umstellen. Dabei sollte der Binnenmarkt entwickelt und ausgeglichene Handelsbilanzen im Rahmen einer neuen Globalisierungsstrategie angestrebt werden. Der ökologische Umbau kann nicht nur national erfolgen. Sinnvoll ist die Ablösung der bisherigen durch eine neue Globalisierung: Aufbau einer ökologischen Weltwirtschaft durch globale Infrastruktur in den Bereichen Energiewirtschaft, Ressourcenmanagements und nachhaltiger Verkehrsgestaltung sowie einer lebens- und umweltfreundlichen Gestaltung von Megacitys. Da dabei nationale und internationale Investitionen kombiniert werden müssen, ist mit einer solchen auf die Realwirtschaft ausgerichteten Strategie wirtschaftlicher Entwicklung ein Ausgleich der Handelsbilanzen möglich. Die Umsetzung von Strategien zur Begrenzung und Bewältigung des Klimawandels wären der naheliegende Schritt. Eine verstärkte Beteiligung an der von China angestoßenen One Belt, One Road-Initiative könnte dafür den Ausgangspunkt bilden.
Nachtrag
Dieser Text wurde 2020 verfasst, in einer noch deflationären Situation. Inzwischen hat sich die Lage gedreht: Die Corona-Epidemie und der Ukraine-Krieg haben Lieferketten unterbrochen und führten zu Angebotsdefiziten bei bestimmten Zwischenprodukten, Rohstoffen sowie Energie, welche durch Spekulation auf steigende Energiepreise erheblich verstärkt wurden. Dadurch sind die Preise vor allem für Energie und Lebensmittel weltweit gestiegen. Die Verbraucherpreise steigen Monat für Monat, im Mai um knapp 9 Prozent im Vergleich zum Vorjahresmonat. Noch stärker stiegen die Erzeugerpreise: im April 2022 um 33,5 Prozent gegenüber April 2021 (Statistisches Bundesamt, Pressemitteilung 210 v. 20.5.2022).
Die in dem Text dargestellten Zusammenhänge sind auch in dieser nunmehr inflationären Wirtschaftslage weiter gültig, denn diese Preissteigerungen haben zunächst externe Ursachen. Immer noch bleiben die Löhne mittelfristig hinter der goldenen Lohnregel zurück und die Handelsbilanzdivergenzen werden vor allem durch das deutsche Lohndumping verursacht.
Aber wenn es gelänge, im volkswirtschaftlichen Durchschnitt Lohnforderungen in Höhe der realen Inflation (also etwa 8 Prozent) durchzusetzen, würde die Marke „Produktivität plus Zielinflationsrate“ (also 2 + 2, also 4, maximal 5 Prozent) überschritten. Die Arbeitnehmer müssten einen Rückgang ihres Realeinkommens hinnehmen, um die exogen verursachten Preissteigerungen zu kompensieren. Ansonsten bestünde die Gefahr einer positiven Rückkopplung von Preisen und Löhnen, einer Preis-Lohn-Preis-Lohn-Spirale. Nun ist es in Deutschland unwahrscheinlich, dass es gelänge, im volkswirtschaftlichen Mittel Lohnforderungen in Höhe von 8 Prozent durchzusetzen. Aber in einzelnen Branchen ist das nicht ausgeschlossen. Das würde die Ungleichheit zwischen prosperierenden Branchen (z.B. der Angestellten der Finanzbranche) und dem Billiglohnsektor (vor allem Bauwirtschaft und öffentlicher Dienst) weiter verschärfen.
Zudem kann man begründet vermuten, dass der Inflationsausgleich in den einzelnen Mitgliedsländern der Eurozone unterschiedlich ausfällt. In Deutschland wird es bei Lohndumping besonders im unteren Einkommensbereich bleiben, also Lohnsteigerungen unter der Inflationsrate. In anderen Ländern werden die Gewerkschaften vermutlich deutlich mehr Inflationsausgleich durchsetzen. Dann aber würden die Divergenzen der Lohnstückkosten zwischen den Euroländern und die dadurch bedingten Handelsbilanzungleichgewichte weiter verschärft. Eine neue Runde der Eurokrise könnte die Folge sein. Ggf. werden wir diese Perspektive in einem Folgeartikel analysieren, wenn die mittelfristigen Folgen der neuen Lage, die Reaktionen der Tarifpartner und der Politik abzusehen sind.
Dr. Rainer Land Jg. 1952, studierte Philosophie und Wirtschaftswissenschaften an der Humboldt-Universität zu Berlin. Seit 1992 ist er Redakteur der Zeitschrift Berliner Debatte Initial. Seit den 1980er Jahren arbeitet er an »Bausteinen zu einer evolutorischen Theorie der Moderne«. Seit 2000 ist er in diversen empirischen und theoretischen Projekten am selbst gegründeten Thünen-Institut e. V. in Bollewick tätig.
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Anmerkungen:
[1] QE bedeutet Quantitative Lockerung oder QE von englisch quantitative easing; vgl. https://de.wiki pedia.org/wiki/Quantitative_Lockerung.
[2] „Die verschiedenen Aufkaufprogramme nennen sich Europäischer Stabilitätsmechanismus (ESM), Eurobonds, Saftybonds, Coronabonds, common debt-instrument, Wiederaufbaufonds ‚recoveryfonds‘ genannt und schließlich das Rahmenprogramm der EZB EAPP (Expanded Asset Purchase Programme – EAPP, jetzt bezeichnet als Asset Purchase Programme – APP) mit dem Unterprogramm PSPP genannt, was in Langschrift Public Sector Asset Purchase Programme heißt.“ (Schellmann 2020:1) Nach Pressemitteilung des BVerfG sind hingegen „aktuelle finanzielle Hilfsmaßnahmen der Europäischen Union oder der EZB im Zusammenhang mit der gegenwärtigen Corona-Krise … nicht Gegenstand der Entscheidung.“
[3] Vgl. dazu die Beiträge von Mayer und Schellmann sowie das Streitgespräch zwischen Fisahn, Herr und Höpner in diesem Heft
[4] Die Handelsbilanz beinhaltet alle Transaktionen mit Waren, also Importe, Exporte und den Saldo. Ist der Saldo positiv, so übersteigen die Exporte die Importe, umgekehrt bei negativem Vorzeichen. Entscheidend ist eigentlich die Leistungsbilanz. Dazu zählen neben dem Warenhandel auch exportierte und importierte Dienstleistungen sowie Primär- und Sekundäreinkommen. Im Bereich der Dienstleistungen importiert die deutsche Volkswirtschaft mehr als sie exportiert, was auf den Reiseverkehr zurückzuführen ist (Saldo ist negativ). Wenn deutsche Touristen in Griechenland Urlaub machen, so ist dies für Griechenland Export einer Dienstleistung, für Deutschland ein Import. Die Primäreinkommen beinhaltet grenzüberschreitende Einkommen aus Arbeit, unternehmerischer Tätigkeit und Vermögen (Zinsen, Dividenden). Ist der Saldo positiv, sind mehr Einkommen dieser Art aus dem Ausland ins Inland geflossen – vor allem wegen der Zuflüsse von Gewinnen, Dividenden und Zinsen. Sekundäreinkommen sind grenzüberschreitende Zahlungen, mit denen keine Leistungen verbunden sind, beispielsweise Zahlungen an Familienangehörige im Ausland, Zahlungen aus der Rentenkasse an im Ausland lebende Deutsche, Spenden an Ausländer oder Beiträge an internationale Organisationen, Entwicklungshilfe u.ä. Der Saldo ist negativ, weil mehr Transfers aus dem Inland ins Ausland geflossen sind, vor allem Zahlungen im Inland arbeitender Personen an Familien im Ausland. Der Leistungsbilanzüberschuss ist durch den Saldo der Handelsbilanz bestimmt, die anderen Positionen gleichen sich fast aus und sollen nicht weiter beachtet werden.
[5] Der Export und Import von Dienstleistungen hat keinen so bedeutenden Einfluss. Die Transfers aus Primäreinkommen (positiver Saldo) und aus Sekundäreinkommen (negativer Saldo) gleichen sich in der deutschen Bilanz fast aus.
[6] „Die EU-Kommission geht in den EU-Mitgliedstaaten von einem außenwirtschaftlichen Gleichgewicht aus, solange der Leistungsbilanzüberschuss oder das –defizit innerhalb von 3 Jahren den Schwellenwert von 6 % des Bruttoinlandsprodukts nicht überschreitet. Nur wenige Staaten überschritten 2017 diese Schwelle hinsichtlich des Leistungsbilanzüberschusses, nämlich Malta (+ 13,6 %), Niederlande (+ 10,5 %), Schweiz (+ 9,8 %), Irland (+ 8,5 %), Deutschland (+°7,9 %), Dänemark (+ 7,6 %) und Slowenien (+ 7,1 %). Lediglich die Niederlande, Schweiz, Deutschland und Dänemark überschritten diese Schwelle auch 3 Jahre lang. Ein Leistungsbilanzdefizit wiesen unter anderem die Türkei (-°5,6 %), Großbritannien (- 3,8 %) oder die USA (- 2,3 %) auf.“ (Wikipedia – Stichwort „Außenwirtschaftliches Gleichgewicht“) Der Leistungsbilanzüberschuss bzw. das ‑defizit einer großen Volkswirtschaft wie Deutschland oder Frankreich ist für die Funktionsweise des Eurosystems von entsprechend größerer Bedeutung.
[7] Vgl. https://www.mdr.de/nachrichten/wirtschaft/ausland/exportueberschuss-nicht-eu-regel-kon form-100.html
[8] Fiatgeld wird durch Banken oder Staaten ausgegeben und ist nicht an eine Ware gebunden. Fiatgeld hat keinen inneren Wert – sein Wert basiert auf Vertrauen in eine Regierung oder der Zentralbank, dass die Währung gegen Waren im angegebenen Wert eingetauscht werden kann. Unabhängig von ihrer jeweiligen Form ist eine Fiatwährung ein per Regierungsbeschluss festgelegtes Zahlungsmittel. Der Euro ist wie alle modernen Währungen Fiatgeld.
[9] Ausführlich in Grunert.
[10] S. https://www.ecb.europa.eu/stats/policy_and_exchange_rates/key_ecb_interest_rates/html/index.en.html.
[11] Erst die Coronapandemie hat einen wesentlichen Punkt verändert: der Staat erhöht seine Ausgaben, indem er sich verschuldet. Es ist offen, wie weit dies reicht. Alles hängt davon ab, ob es gelingt, über die Coronakrise hinaus die Wirtschaft auf einen neuen Entwicklungspfad zu bringen. Höhere Staatsausgeben allein reichen dafür nicht. Skepsis ist angeraten.