Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 210/211: Suizidbeihilfe - bald nur noch beschränkt?

Zur Bewertung von Suizid und Sterbehilfe im Strafrecht unter Berück­sich­ti­gung der Rechts­ge­schichte

In: vorgänge 210/211 (2-3/2015), S. 70-78

Anlässlich der aktuellen Debatte zur Kriminalisierung von Hilfen beim Suizid zeigt Anette Grünewald die rechtsgeschichtliche Entwicklung bis zur Straffreiheit des Suizides und der Suizidbeihilfe in Deutschland auf. Dazu skizziert sie die Diskussion seit der Antike bis zur Straffreistellung durch das Reichsstrafgesetzbuch von 1871 und zeigt, wie dies in die Rechtsordnung unter dem Grundgesetz übernommen wurde. Die Autorin kritisiert, dass die Gesetzesvorschläge auf die Suizidteilnahme fixiert sind und diese bereichsweise kriminalisieren, anstatt die Sterbehilfe insgesamt weiter zu liberalisieren.

In der gegenwärtigen rechtspolitischen Debatte steht die Straflosigkeit von Teilnahmehandlungen in Sterbehilfesituationen zur Disposition – Handlungen, die seit mehr als hundert Jahren straflos sind. Unter Sterbehilfe ist eine Hilfe zu verstehen, die einem schwerkranken Menschen auf dessen Wunsch oder mutmaßlichen Willen hin geleistet wird, um ihm einen menschenwürdigen Tod zu ermöglichen1. Lässt man den Sterbehilfe-Kontext beiseite und betrachtet die Problematik allgemeiner, geht es um die strafrechtliche Zulässigkeit oder Unzulässigkeit einer Teilnahme am Suizid. Historisch gesehen wurde das Thema unter dem Terminus „Suizid“ diskutiert, bis in den letzten Jahrzehnten, bedingt durch die rasante Entwicklung in der Medizin und Pharmakologie, Sterbehilfesituationen ganz in den Vordergrund des öffentlichen Interesses getreten sind. Die Diskussion um die Bewertung von Selbsttötungen lässt sich bis in die Antike zurückverfolgen. Vor allem Philosophen, Theologen, Juristen und Mediziner haben sich mit der Thematik auseinandergesetzt und sind zu unterschiedlichen Antworten gelangt2. Daran hat sich bis heute nichts geändert.
Im römischen Recht war die Selbsttötung prinzipiell straflos3. Man kann sogar sagen, dass dem Suizidenten „nicht nur Duldung, sondern grundsätzlich Achtung“ entgegengebracht wurde4. Diese Sichtweise änderte sich grundlegend unter dem Einfluss des kanonischen Rechts. Suizid und Suizidversuch waren nun entschieden negativ besetzt5. Dem Einzelnen wurde das Recht abgesprochen, über sich selbst zu verfügen, da dieses Recht ausschließlich Gott zukam. Dementsprechend galt die Selbsttötung als Verstoß gegen das göttliche Gesetz, als schwere Sünde und Verbrechen. Ausnahmen hiervon gab es nicht, auch nicht in Fällen extremen Leidens. Vielmehr wurde dem Leiden ein Sinn zugesprochen6. Die darin liegende spirituelle Überhöhung des Leidens offenbarte zugleich einen Mangel an Empathie mit den konkret betroffenen, „leidenden“ Personen7. Diese im Kern moraltheologische Position wird heute gelegentlich auch außerhalb der Theologie vertreten8.
In der Constitutio Criminalis Carolina von 1532 gab es zwar eine Vorschrift mit der Überschrift „Straff eygner tödtung“ (Art. 135 CCC). Anders als es die Überschrift vermuten lässt, ging es darin aber nicht um eine Strafe für die Selbsttötung. Die Vorschrift ordnete vielmehr an, dass im Falle eines Suizids eine Vermögenskonfiskation nur stattfinden sollte, wenn eine Anklage wegen einer Tat vorlag, die eine solche Rechtsfolge vorsah, und wenn der Betreffende sich dieser Rechtsfolge durch seine Selbsttötung entziehen wollte. In allen anderen Fällen sollte das Vermögen dagegen den Erben belassen werden. Damit sollte die Selbsttötung als solche gerade kein Grund für die Einziehung des Vermögens sein9. Auf der anderen Seite entsprach es allerdings einer weit verbreiteten Praxis, das Vermögen aller Suizidenten zu konfiszieren, wie sich ebenfalls aus Art. 135 CCC ergibt. Denn Ziel des Art. 135 CCC war es, diese Gepflogenheiten einzudämmen. Darüber hinaus waren in der gemeinrechtlichen Praxis und ebenso in manchen Partikularrechten neben der Konfiskation des Vermögens infamierende Begräbnisarten, Exekutionen am Leichnam und Bestrafungen bei versuchtem Suizid üblich10. Diese Maßnahmen standen im Einklang mit den Anschauungen der Bevölkerung11.
Noch der Codex Juris Bavarici Criminalis von 1751 bestimmte, dass die vorsätzliche Selbstentleibung mit dem Einzug des dritten Teils der Erbschaft bestraft und der tote Körper vom Scharfrichter unter dem Galgen vergraben wird (1. Teil, 3. Kapitel, § 25). Das unehrenhafte Begräbnis oder die Übergabe des Leichnams an ein Anatomieinstitut fanden sich als Sanktionen in einigen Gesetzen bis in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts12. Nach dem Allgemeinen Landrecht für die preußischen Staaten (ALR) von 1794 durften „Selbstmörder“ nach ihrem Tod zwar nicht mehr beschimpft werden. Eine standesgemäße Ehrung wurde ihnen aber versagt (ALR, 2. Teil, 20.Titel, § 803). Wollte der Suizident sich durch seine Tötung einer Strafe entziehen, wurde er auf dem Richtplatz verscharrt (ARL, 2. Teil, 20. Titel, § 804). Wenn bereits ein Strafurteil gegen ihn vorlag, wurde die Strafe am toten Körper vollstreckt (ALR, 2. Teil, 20. Titel, § 805). Diesen Folgen konnte man allenfalls entkommen, wenn man als „wahnsinnig“ eingestuft wurde13. Die Pathologisierung des Suizidenten bot somit immerhin die Möglichkeit einer milden Bewertung14.
Im 19. Jahrhundert setzte sich die Straflosigkeit des Suizids schließlich durch. Als die wohl bedeutendsten Strafgesetzbücher jener Zeit lassen sich das Bayerische Strafgesetzbuch von 1813 sowie das Preußische Strafgesetzbuch von 1851 anführen. So gilt das Bayerische Strafgesetzbuch gemeinhin als das erste moderne Strafgesetz, während das Preußische Strafgesetzbuch später weitgehend zum Reichsstrafgesetzbuch wurde. Alle drei Gesetzbücher enthielten weder eine Vorschrift zur Selbsttötung noch zur Teilnahme an einer solchen15. Im Schrifttum wurde, um die Straflosigkeit des Suizids darzutun, vielfach Bezug genommen auf die aufklärerischen Werke von Montesquieu, Voltaire und Beccaria16. Hervorzuheben ist ferner die Schrift „Of Suicide“ von David Hume. Hume prüft dort die typischerweise für die Einordnung des Suizids als Verbrechen vorgebrachten Argumente, namentlich eine Pflichtverletzung gegenüber Gott, unserem Nächsten oder uns selbst, und verwirft diese als nicht stichhaltig17. Mit zunehmender Entschiedenheit wurde daher im strafrechtlichen Diskurs des 19. Jahrhunderts die Umsetzung elementarer Erkenntnisse der Aufklärung gefordert, insbesondere die Trennung von Recht und Moral oder Religion. In den genannten Gesetzeswerken schlugen sich diese Forderungen nieder. In dieser klaren Haltung zum Suizid lässt sich eine Errungenschaft des 19. Jahrhunderts sehen.
Hinzufügen muss man allerdings, dass die Straflosigkeit des Suizids nicht zu dessen Entstigmatisierung führte18. Während nämlich auf der einen Seite die strafrechtlichen Autoren des 19. Jahrhunderts (von wenigen Ausnahmen abgesehen19) in aller Deutlichkeit und mit Vehemenz geltend machten, dass der Suizid im Strafrecht keinen Platz haben dürfe, weil das Verbrechen nicht mit einer Sünde zu verwechseln sei, wurde auf der anderen Seite von denselben Autoren mit gleicher Intensität die Unsittlichkeit oder Widernatürlichkeit dieser Handlung herausgestellt20. Der Suizid ging folglich zwar das Strafrecht nichts mehr an, den Staat aber schon. Letzterer wurde auch weiterhin als befugt angesehen, gegen diese „moralische Schwäche und Pflichtverletzung“ vorzugehen21, nur eben nicht mit dem Strafrecht, sondern mit polizeilichen Maßnahmen22. Für diese Ambivalenz fand schon mancher Zeitgenosse nur spöttische Worte. So wurde den Strafrechtswissenschaftlern vorgehalten, dass sie, „seitdem die Königin der Philosophie […] ihren Thron aufschlug, […] [sich] an den Ehren und Titeln ihres Hofes […] gefielen“, dass sie aber alles, „was sie aus der juristischen Welt hinausconstruirt hatten, der neugebildeten polizeilichen“ hinzufügten23. Vom 19. bis in das 20. Jahrhundert hinein fungierte jedenfalls die Kategorie der Sittlichkeit als Zufluchtsort für religiöse und moralische Inhalte.24 Ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts setzte jedoch erneut ein folgenreicher Wandel ein: In einer freiheitlich-pluralistischen Gesellschaft, in der die Autonomie einen zentralen Stellenwert einnimmt, kann die Sittlichkeit ebenso wenig wie religiöse Überzeugungen einen allgemeingültigen Maßstab abgeben. Als verallgemeinerbare Kategorien sind beide demzufolge nicht mehr anschlussfähig. Hieraus nun zu schließen, damit sei auch die Stigmatisierung des Suizids an ihr Ende gekommen, wäre aber voreilig.
In einem Rechts- und Gesellschaftssystem, in dem das Selbstbestimmungsrecht an vorderster Stelle steht, bleibt noch die Möglichkeit, dieses kleinzureden oder zu destruieren. Erreichen lässt sich das durch die (weitgehende, teils ausnahmslose) Psychopathologisierung des Sterbewunsches25; oder aber dadurch, dass dem Selbstbestimmungsrecht die Menschenwürde oder das „Prinzip der Fürsorge“ entgegengesetzt  werden26, als handele es sich dabei um unvereinbare Gegensätze. Folge hiervon ist es, dass der Wunsch, sterben zu wollen, entweder als unbeachtlich bzw. heteronom bestimmt oder wegen einer psychischen Krankheit als defizitär und somit nicht „freiverantwortlich“ eingestuft wird. Das wird vielfach  auch in den Fällen angenommen, in denen ein Patient unheilbar erkrankt ist, unerträgliche Schmerzen hat und Aussichten auf Besserung nicht mehr bestehen. Im Ergebnis läuft diese Sichtweise auf eine allgemeine Pflicht zum Weiterleben hinaus. Eine solche Pflicht ist jedoch abzulehnen und mit dem Grundgesetz nicht vereinbar27; auch wenn man im Weiteren darüber streiten mag, ob es ein Recht auf Suizid gibt und das verneint28.
Selbst wenn sich nämlich ein solches Recht nicht begründen lässt, folgt daraus nicht etwa im Umkehrschluss eine Pflicht zum Weiterleben29. Nähme man hingegen eine Pflicht zum Weiterleben an, so fiele man damit gleichsam hinter den Erkenntnisstand des 19. Jahrhunderts zurück. Denn dort wurde bereits geltend gemacht, dass der Mensch gegenüber dem Staat zwar verpflichtet ist, solange er lebt, nicht aber dem Staat  verpflichtet ist, am Leben zu bleiben30. Geht man außerdem davon aus, dass die Entscheidung, sich zu suizidieren, aus einer akuten Krise heraus getroffen werden kann, in der professionelle Hilfe zum Weiterleben und eben nicht zum Suizid angezeigt ist31, spricht auch das nicht für eine strafrechtliche Pönalisierung von Teilnahmehandlungen, sondern dagegen. Es ist bekannt, dass viele Menschen, bevor sie sich das Leben nehmen, Ärzte kontaktieren und daher selbst aktiv Hilfe suchen32. Unstrittig ist aber ebenfalls, dass diesen Menschen nur geholfen werden kann, wenn ein Klima besteht, das es ihnen erlaubt, ihre Suizidwünsche offen zu äußern, ohne abgewertet zu werden33. Ein strafrechtliches Verbot der Teilnahme am Suizid birgt nun aber gerade die Gefahr, Suizidwillige mit ihren Konflikten allein zu lassen und in die Isolation zu treiben34. Die Strafbarkeit der Suizidteilnahme wurde indes bereits im 19. Jahrhundert diskutiert35.
Diese Debatte muss man vor dem Hintergrund des § 216 StGB bzw. § 216 RStGB sehen. Denn danach ist es strafbar, eine andere Person auf deren ausdrückliches und ernstliches Verlangen hin zu töten. Weist man dem Selbstbestimmungsrecht jedoch die herausragende Bedeutung zu, die ihm die Verfassung einräumt, erweist sich dieses strafrechtliche Verbot als fragwürdig. Weshalb nämlich wird es vom Selbstbestimmungsrecht nicht auch umfasst, wenn jemand sich von einer anderen Person töten lassen möchte und diese Entscheidung ernsthaft und wohlerwogen ist, mithin ohne Defizite im Entscheidungsprozess oder bei der Willensbildung? Als besonders problematisch gelten hier Fälle wie der vom EGMR entschiedene Fall der Diane Pretty36. Pretty litt an einer weit fortgeschrittenen, unheilbaren Krankheit, deren Endstadium „qualvoll und entwürdigend“ war, konnte sich aber wegen erheblicher körperlicher Beeinträchtigungen infolge dieser Krankheit nicht selbst das Leben nehmen.
Im 19. Jahrhundert, als der Begriff „Selbstbestimmungsrecht“ noch nicht vorkam, tauchte das Argument gleichwohl auf, und zwar in Form des altbekannten Rechtsprinzips „Volenti non fit iniuria“37. Gestützt auf diesen Grundsatz führte Feuerbach in seinem Lehrbuch aus, es sei „kein Verbrechen vorhanden, wenn der Berechtigte die seinem Recht widersprechende und durch Strafgesetz, bedrohte Handlung ausdrücklich erlaubt (Volenti non fit injuria)“; und dieser Satz galt ihm zufolge einschränkungslos, also auch beim Tötungsdelikt38. Feuerbach hat diesen Standpunkt später aufgegeben. Teilt man jedoch die Prämisse, dass der Einzelne über sein Leben verfügen darf – und hierauf gründet die Straffreiheit des Suizids –, ist es prima facie wenig einleuchtend, die Dispositionsbefugnis auf Selbsttötungen zu beschränken und Tötungen, die Dritte auf Verlangen des Getöteten vornehmen, hiervon gänzlich auszunehmen. Zwanglos begründen ließe sich das strafrechtliche Verbot der Tötung auf Verlangen daher nur, wenn man eine Verfügungsbefugnis des Einzelnen über sein Leben ablehnt. Das ist aber in einer auf Freiheit basierenden Rechtsordnung nicht vertretbar. Es fällt deshalb auch keineswegs leicht, § 216 StGB als Strafvorschrift zu legitimieren39.
Am überzeugendsten dürfte es sein, den Strafgrund des § 216 StGB in einer vermuteten mangelnden Vollzugsreife (also einem Übereilungsschutz) und möglichen Entscheidungsdefiziten des Sterbewilligen zu sehen40. Deutet man § 216 StGB in diesem Sinn, hat dies erhebliche Konsequenzen: Steht nämlich im konkreten Fall fest, dass Entscheidungsdefizite nicht vorhanden sind und die Übertragung der Tötungshandlung auf einen Dritten nicht Ausdruck einer mangelnden Vollzugsreife ist (siehe den Fall der Diane Pretty), scheidet das Unrecht des § 216 StGB aus41. Zugleich folgt hieraus, dass aktive und direkte Sterbehilfe jedenfalls in bestimmten Fällen zulässig sein muss und kein Unrecht sein kann. Dem haben in der Vergangenheit zwei von Strafrechtsprofessoren verfasste Alternativentwürfe Rechnung getragen. Einheitlich wurde vorgeschlagen, in § 216 StGB einen Absatz 2 einzufügen, der einen entsprechenden Ausnahmetatbestand enthält42. Darüber hinaus lässt sich das Unrecht, welches § 216 StGB enthält, nicht auf eine Stufe mit einem gewöhnlichen Tötungsunrecht stellen. Die Differenz, die zwischen einem Totschlag (§ 212 StGB) und einer Tötung auf Verlangen (§ 216 StGB) liegt, ist nicht nur eine quantitative, sondern eine qualitative43. So handelt es sich bei § 216 StGB nicht um eine Norm, die dem Schutz des Lebens des konkret seinen Tod Verlangenden dient, sondern lediglich um ein abstraktes Gefährdungsdelikt44.
In einem weiteren Schritt stellt sich dann allerdings die Frage, weshalb die Teilnahme an einer Selbsttötung bislang strafrechtlich nicht erfasst ist. Sind nicht auch hier Fälle denkbar, in denen Entscheidungsdefizite vorliegen oder ein Schutz vor übereiltem Handeln angezeigt ist? Das Allgemeine Landrecht für die preußischen Staaten enthielt eine Vorschrift, in der sämtliche Beteiligungskonstellationen, täterschaftliche wie teilnehmende, erfasst waren (ALR, 2. Teil, 20. Titel, § 834). Diese lautete: „Wer einen Anderen auf dessen Verlangen tödtet, oder ihm zum Selbstmorde behülflich ist, hat sechs- bis zehnjährige, und bey einem überwiegenden Verdachte, den Wunsch nach dem Tode bei dem Getödteten selbst veranlaßt zu haben, lebenswierige Festungs- und Zuchthausstrafe verwirkt.“
Im 19. Jahrhundert wurde die Suizidteilnahme indes ganz überwiegend abgelehnt. Als Begründung wurde, wie es auch heute noch üblich ist, auf die Akzessorietät der Teilnahme verwiesen. Dieses Argument ist jedoch rein formal45 und wenig überzeugend. Denn dass eine Teilnahmestrafbarkeit lediglich möglich ist, wenn eine vorsätzliche und rechtswidrige Haupttat vorliegt (§§ 26 und 27 StGB), besagt zunächst nur, dass kein Gericht wegen Teilnahme bestrafen darf, wenn es keine entsprechende Haupttat gibt. Hingegen besagt der Akzessorietätsgrundsatz nicht, dass der Gesetzgeber keinen Straftatbestand erlassen darf, in dem Teilnahmebeiträge unabhängig von einer Haupttat pönalisiert werden46. Gewichtiger ist jedoch ein anderer Einwand: Gegen die Strafbarkeit einer Suizidteilnahme wurde geltend gemacht, dass bei einer Selbsttötung kein Unrecht vorhanden sei, an dem ein anderer teilnehmen könne. Dieser Einwand ist nicht mit dem soeben erwähnten rein formalen Akzessorietätserfordernis zu verwechseln, denn er ist materieller Art. Dahinter steht die zutreffende Erkenntnis, dass das Unrecht eine interpersonale Struktur hat. Tötet jemand sich selbst, dann betrifft dieser Akt ausschließlich sein Verhältnis zu sich selbst und weist demzufolge eine intrapersonale (und eben keine interpersonale) Struktur auf. Der Mensch steht zu sich selbst aber nicht in einem Rechtsverhältnis und kann daher auch gegen sich selbst kein Unrecht begehen47.
Allerdings steht damit nur fest, dass die Selbsttötung als strafrechtliches Unrecht nicht fassbar ist. Ob sich hingegen die Straflosigkeit einer Suizidteilnahme auf diese Erwägung stützen lässt, ist zweifelhaft. Zwischen dem Teilnehmer (Anstifter oder Gehilfe) und dem Suizidenten liegt nämlich ein interpersonales Verhältnis vor, weshalb sich die Teilnahme an einer Selbsttötung prinzipiell auch als Unrecht darstellen lässt48.
 Insofern kann man die Kluft, die das Strafrecht derzeit zwischen der strafbaren Tötung auf Verlangen (§ 216 StGB) und der straflosen Teilnahme am Suizid aufbaut, als unangemessen monieren. Dies spräche dafür, eine Angleichung vorzunehmen49. Auf der anderen Seite kann man Zweifel hegen an der Notwendigkeit und Angemessenheit einer solchen Strafnorm. Bereits das Unrecht des § 216 StGB lässt sich nicht mit dem eines herkömmlichen Tötungsdelikts vergleichen. Bei der Teilnahme an einer Selbsttötung hätte man es mit einem noch geringeren Unrechtsgehalt zu tun. Zudem können schon nach derzeitiger Rechtslage jedenfalls im Falle von nicht freiverantwortlich vorgenommenen Selbsttötungen Außenstehende, die daran beteiligt sind, über die Regeln der mittelbaren Täterschaft strafrechtlich belangt werden50.
Die jetzt geführte Debatte um die Strafbarkeit einer Suizidteilnahme geht an diesen Problemen vorbei. Aus strafrechtlicher Perspektive ist die gegenwärtige rechtspolitische Entwicklung nicht zuletzt deshalb bemerkenswert, weil es bereits zwei Alternativentwürfe zum Thema Selbsttötung bzw. Sterbehilfe gab. Beide Entwürfe befürworten eine ausdrückliche gesetzliche Regelung der Sterbehilfe, die sich aber durch eine partielle Legalisierung auszeichnet. Dass der Gesetzgeber sich der Thematik endlich annimmt, ist erfreulich. Bedauerlich ist es aber, dass die vorgelegten Gesetzesvorschläge auf die Suizidteilnahme fixiert sind und ausschließlich eine Pönalisierung verfolgen. Statt die Sterbehilfe in Teilen zu liberalisieren, wird sie also bereichsweise kriminalisiert. Einseitiger können Gesetzesvorhaben nicht ausfallen.

ANETTE GRÜNEWALD   Prof. Dr., lehrt Strafrecht und Strafprozessrecht an der Humboldt-Universität zu Berlin.

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