Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 210/211: Suizidbeihilfe - bald nur noch beschränkt?

Das Dammbruch- oder Slippe­ry-S­lo­pe-Ar­gu­ment in der Debatte zur Sterbehilfe

In: vorgänge 210/211 (2-3/2015), S. 163-172

Zum Thema Sterbehilfe finden sich wiederkehrende Argumentationsmuster, die der Struktur eines Dammbruch- oder Slippery-Slope-Arguments entsprechen. Das Argument ist gerade in bioethischen Debatten um die Legalisierung oder Kriminalisierung bestimmter Verhaltensweisen überaus präsent. Neben der Sterbehilfe ist bzw. war es auch in den Auseinandersetzungen um den Schwangerschaftsabbruch, die Präimplantationsdiagnostik, die Stammzellenforschung und das Klonen immer wieder zu hören. Aktuell wird beispielsweise davor gewarnt, durch eine liberale Regelung der Sterbehilfe könnte ein Druck auf Alte und Kranke entstehen, sich das Leben zu nehmen. Außerdem könnten sich die Betroffenen zunehmend als eine Belastung für ihre Familien, ihr soziales Umfeld und die Gesellschaft empfinden, die freiwillige oder unfreiwillige Euthanasie könnte zum Normalfall werden.

Die Verwendung des Dammbruch-Argument oder Slippery-Slope-Arguments1 in so vielen unterschiedlichen Kontexten zeigt seine Anpassungsfähigkeit. Diese Flexibilität erschwert aber auch eine eindeutige Klassifizierung. Das Dammbruchargument gibt es so nicht, vielmehr viele Dammbruchargumente, im Sinne vieler verschiedener Argumentationsweisen oder auch nur rhetorischer Techniken, die strukturell am Schema eines Dammbrucharguments orientiert sind.2
Die Grundstruktur des Dammbrucharguments ist dabei recht simpel: Wenn wir a erlauben, wird notwendigerweise oder höchstwahrscheinlich b daraus folgen. b ist moralisch inakzeptabel, weshalb wir a nicht erlauben dürfen, unabhängig davon, ob a an sich moralisch verwerflich ist oder nicht.
a ist die Handlung, das Ereignis oder der Zustand, der zur Diskussion steht und der  beeinflussbar ist. Es ist unerheblich, ob a an sich als schlecht empfunden wird, denn a wird nicht oder zumindest nicht vorrangig wegen seiner eventuellen moralischen Verwerflichkeit abgelehnt, sondern wegen seiner Funktion als Türöffner für b.
b hingegen ist moralisch verwerflich und damit das Argument seine Wirkung nicht verfehlt, sollte hierüber auch weitreichender Konsens bestehen. b muss aus dem Erlauben von a resultieren bzw. es muss zumindest wahrscheinlich erscheinen, dass a b verursacht. Es gilt: Je höher die Wahrscheinlichkeit oder die Plausibilität ist, dass b auf a folgt, desto stärker wirkt das Argument.
Neben den Aspekt der Wahrscheinlichkeit tritt die Fallhöhe von a zu b. Wenn b nicht moralisch verwerflich erscheint oder die anderen Konsequenzen von a das Negative von b überwiegen, ist das Argument wirkungslos. Notwendig ist also eine gewisse moralische Fallhöhe zwischen a und b, sodass a schon abzulehnen ist, wenn b nur eine negative unter vielen anderen vielleicht sogar erwünschten Konsequenzen ist. Um Dammbruch-Argumente von anderen konsequentialistischen Argumenten abzugrenzen, die auch mit den negativen Folgen möglicher Entscheidungen argumentieren, hilft es, sie in zwei große Gruppen einzuteilen: in logische und empirische Dammbruchargumente. Diese Unterscheidung stützt sich auf die Beziehung von a und b. Logische Dammbruchargumente geben vor, dass das Erlauben von a und das Eintreten von b in einem logischen Zusammenhang stehen3. Ein logisches Dammbruchargument liegt erstens vor, wenn der Proponent/die Proponent_in geltend macht, dass zwischen a und b keine relevanten Unterschiede bestehen, sodass die Rechtfertigung für a genauso für b gelten muss4.
Zweitens liegt ein logisches Dammbruchargument vor, wenn der Proponent/die Proponent_in zwar anerkennt, dass a und b unterschiedlich sind, jedoch seiner/ihrer Ansicht nach keine sinnvolle Grenzziehung möglich ist, weil zwischen a und b ein fließender Übergang besteht5. Eine Grenzziehung habe dann immer willkürlichen Charakter und verschiebe sich daher zwangsläufig Richtung b6. Ein empirisches Dammbruchargument bezieht sich demgegenüber auf gesellschaftliche Effekte. Es wird geltend gemacht, dass sich durch das Erlauben von a gesellschaftliche Verhältnisse oder Wertvorstellungen so verschieben werden, dass am Ende b als gesellschaftliche Realität akzeptiert wird.
Das Dammbruchargument ist allerdings weder in der logischen Version streng logisch im Sinne einer deduktiven Methode, noch ist es in der empirischen Variante zwingend empirisch im Sinne einer Fundierung mit Datenmaterial. Das Dammbruch- bzw. Slippery-Slope-Argument wird daher auch als intuitive Metapher7 bezeichnet.
Das Dammbruch- bzw. Slippery-Slope-Argument in der Debatte zur Sterbehilfe
In den Debatten zur Sterbehilfe gibt es eine Vielzahl von Äußerungen, in der Regel gegen eine Legalisierung bzw. für eine Kriminalisierung von umstrittenen Sterbehilfepraktiken argumentierend, die die beschriebenen Merkmale von logischen oder empirischen Dammbruchargumenten erkennen lassen. Es soll nun darum gehen, diese Strukturen in der Sterbehilfedebatte aufzuzeigen. Hierbei soll die aktuelle Debatte um ein eventuelles Verbot organisierter Suizidbeihilfe im Mittelpunkt des Interesses stehen.
Zwar spielt das Dammbruchargument auch bei anderen Aspekten des Themas Sterbehilfe eine Rolle. So wurde in der Debatte um die Patient_innenverfügung vereinzelt die Befürchtung geäußert, mit der Etablierung der Verfügung würde der Wählbarkeit der aktiven Sterbehilfe die Tür geöffnet oder die Verfügung löse einen sozialen Druck aus, im Ernstfall keine oder weniger medizinische Maßnahmen in Anspruch zu nehmen8. Auch gegen eine Legalisierung der Tötung auf Verlangen werden Dammbruchargumente in Stellung gebracht, allerdings gab es bislang in Deutschland noch keine nennenswerten legislativen Bestrebungen in letztere Richtung, sodass eine parlamentarische Debatte hierzu fehlt.
Dammbruch- bzw. Slippery-Slope-Argumente in der Bundestagsdebatte um organisierte Suizidbeihilfe
Es wird am Beispiel der Orientierungsdebatte im Bundestag vom 13.11.2014 zu zeigen sein, dass Dammbruchargumente in der Auseinandersetzung um die rechtliche Ausgestaltung der Sterbehilfe eine wichtige Rolle spielen und sich die beschriebenen Muster von logischen und empirischen Dammbruch- bzw. Slippery-Slope-Argumenten wiederfinden lassen. Von 67 gehaltenen bzw. zu Protokoll gegebenen Reden9 enthielten 21 ein oder mehrere Dammbruchargumente. Im folgenden soll anhand einiger Beispiele aus der Debatte die Struktur dieser Argumentationsweisen unter  Zugrundelegung des eingeführten Analysemusters untersucht werden.
Beispiel 1:
„Was wir aber auf gar keinen Fall wollen, ist eine Regelung, die eine Tür öffnet, die wir nicht mehr zubekommen und durch die am Ende Menschen geschoben werden können, die nicht durch diese Tür wollen. Deswegen darf der ärztlich assistierte Suizid keine normale Behandlungsoption werden. Wir hören auch ernstzunehmende Stimmen […], die sagen: Wir werden am Ende Töten auf Verlangen bekommen, auch wenn heute gesagt wird, dass wir das nicht wollen. Deswegen wehrt sich die Ärzteschaft in ihrem Standesrecht dagegen, dass sie auch nur in den Ruf gerät, nicht hin zum Leben, sondern hin zum Tod zu arbeiten. In Holland gibt es zu diesem steigenden Druck inzwischen große Debatten. […] In Belgien und in den Niederlanden sind Tausende Tote – im letzten Jahr waren es über 6 500 Menschen – aufgrund der dort auch so genannten Euthanasiegesetze zu beklagen. Immer hat es mit engen Kriterien begonnen, mit zahlenmäßig kleinen Ausnahmen. Aber diese Kriterien halten einfach nicht. Es hat sich erwiesen: Auch bei Sterbehilfe schafft Angebot Nachfrage. In Belgien wurde das Euthanasiegesetz in den letzten zehn Jahren 25-mal geändert und erweitert. Inzwischen können selbst Kinder und Demenzkranke betroffen sein, zuletzt auch verurteilte Sexualstraftäter. Das ist nicht über Nacht passiert, das ist scheibchenweise passiert. Deswegen muss jeder wissen: Wer diese Tür auch nur einen Spaltbreit öffnen hilft, der wird sie nicht mehr schließen können. Es geht nicht allein um Kranke, sondern es geht auch um junge, um sprichwörtlich lebensmüde Menschen. Diese Menschen wären in großer Gefahr, wenn der Schritt von der scheinbar ausweglosen Situation oder einer Depression zum ärztlich assistierten Suizid nur noch kurz wäre.“10
Michael Brand (CDU/CSU) widmet als erster Redner mehr als die Hälfte seiner Redezeit Ausführungen zu Dammbruchbefürchtungen. Er betont, dass es keine Regelung geben dürfe, die die ärztliche Suizidbeihilfe zum Normalfall werde ließe (a). Dies ist in seiner Dammbruchargumentation demnach Ereignis a, dass der Kontrolle bzw. der Entscheidungsgewalt der Debattierenden unterliegt. Sollte man a – also die ärztliche Suizidbeihilfe als Normalfall – akzeptieren, so würden Menschen unter Druck gesetzt, ihrem Leben ein Ende zu setzen und letztlich sogar Töten auf Verlangen akzeptiert werden, b.
Die Tötung auf Verlangen ist strafbar und es herrscht auch ein weitreichender Konsens darüber, dass dies so bleiben soll. Eine Gesellschaft, in der Tötung auf Verlangen der Regelfall wäre, taugt daher als moralisch verwerfliches Dammbruchszenario b. Das Szenario wird noch dadurch verstärkt, dass mit Verweis auf die Erfahrungen in Belgien und den Niederlanden eine schrittweise Aufweichung der Regelungen zu befürchten sei, sodass am Ende selbst Kinder, Demenzkranke und verurteilte Sexualstraftäter betroffen sein könnten.
Was das Verhältnis von a zu b betrifft, so bleibt etwas unklar, auf welche Weise a zu b führen soll. Es ist von Ausnahmen die Rede, bei denen es nicht bleibe, weil „die Kriterien nicht halten“. Ausnahmen, die als Präzedenzfälle immer neue, extremere Ausnahmen und Präzedenzen schaffen11 – dies könnte der zweiten logischen Dammbruchvariante entsprechen, nach der, wer a erlaubt, b verursacht, weil im Graubereich zwischen a und b keine vernünftige Grenzziehung möglich sei.
Brand gesteht implizit ein, dass es einen moralischen Unterschied zwischen einer regelmäßigen ärztlichen Suizidbeihilfe für Sterbenskranke und der Suizidbeihilfe oder Tötung auf Verlangen auch von Kindern gibt. Jedoch hält er eine vernünftige Grenzziehung zwischen einer Akzeptanz von regelmäßiger ärztliche Suizidbeihilfe in Fällen sterbenskranker Erwachsener und beispielsweise der Tötung auf Verlangen auch von Kindern nicht für möglich.
Eine Grenzziehung zwischen a und b im Graubereich hat nach dieser Argumentation immer willkürlichen Charakter, da sie nicht sinnvoll begründen kann, warum der eine Bereich unter das Verbot fällt, während der andere Bereich, der unmittelbar jenseits der Verbotsgrenze liegt und somit keinen wesentlichen Unterschied zum verbotenen Bereich aufweist, erlaubt sein soll. Eine solche Grenze gerate ständig unter Druck und würde zwangsläufig dahingehend verschoben, dass schließlich auch b erlaubt sei.
Brands Argumentation hat aber auch eine empirische Komponente, wenn er davor warnt, dass Menschen durch eine Tür geschoben werden könnten, „die nicht durch diese Tür wollen.“ Das Erlauben von a, also ärztlicher Suizidbeihilfe als Regelfall, könnte also auch gesellschaftlichen Druck auf Menschen ausüben, das eigene Leben zu beenden, sodass Menschen unfreiwillig vorzeitig in den Tod gehen. Eine Gesellschaft, in der Menschen in den Tod gedrängt werden, taugt wiederum als Szenario b, da eine solche Situation allgemein als moralisch verwerflich gilt. Der Zusammenhang zwischen a und b wird hier nicht als ein logischer beschrieben, sondern die Kausalität wird durch die Änderung des gesellschaftlichen Klimas infolge von Ausnahmeregeln plausibilisiert. Die Plausibilität eines Abgleitens von a zu b wird zudem mit Statistiken aus Ländern mit liberalen Sterbehilferegelungen empirisch zu verstärken versucht.
Beispiel 2:
„Wenn wir heute über assistierte Selbsttötung debattieren, dann ist für mich der Kernpunkt die Frage: Was wird passieren, wenn erst einmal akzeptiert wäre, dass ich mithilfe eines Arztes oder einer Organisation aus dem Leben scheiden kann und dass das meine selbstbestimmte Entscheidung ist? […]   Es geht nicht nur darum, dass ein Erwartungsdruck ausgeübt wird, sondern auch darum, dass es schon gefährlich wäre, wenn er mit Blick auf die Solidarität der Gesellschaft als solcher empfunden würde und wenn nicht mehr das Schicksal, sondern der Patient selbst für sein Weiterleben verantwortlich wäre. […] Was mir an dieser Diskussion Sorge bereitet, ist, […] wie in Belgien und Holland irgendwann auch über die Frage diskutiert wird: Was ist eigentlich mit Menschen, die behindert zur Welt kommen, die schon am Anfang nicht bis 100 zählen können und es am Ende ihres Lebens auch nicht können, die inkontinent sind, die ihren Stuhl nicht halten können? Das können manche Menschen mit Behinderung von Geburt an nicht. Sie werden es nie können. Natürlich wird dieser Dammbruch nicht von heute auf morgen kommen. Aber das Beispiel anderer Länder hat gezeigt, dass es immer größere Löcher gibt, wenn dieser Damm erst einmal gebrochen ist.“12
Hubert Hüppe (CDU/CSU) formuliert in seiner rhetorischen Frage zunächst den a-Teil des Dammbrucharguments: Was wäre, wenn ärztliche oder organisationsmäßige Suizidbeihilfe ohne weiteres erlaubt wäre? Auch Hüppe vermischt nun Aspekte logischer und empirischer Dammbruchargumente. Empirischer Natur sind die Hinweise auf „Erwartungsdruck“ und eine Verschlechterung der „gesellschaftlichen Solidarität.“ Eine entsolidarisierte Gesellschaft, in der  Sterbende ihren Wunsch länger zu leben rechtfertigen müssen, dient ihm als moralisch verwerfliches Szenario b. Im zweiten Teil seiner Argumentation weist er mit Blick auf die Situation in Belgien und den Niederlanden daraufhin, dass bei einer liberalen Handhabung der Sterbehilfe auch der Lebenswert von behinderten Menschen infrage gestellt werden könnte. Hierin könnten sich beide Versionen des logischen Dammbrucharguments zeigen. Entweder geht Hüppe davon aus, dass zwischen der Bewertung eines Menschen mit altersbedingten körperlichen Ausfallerscheinungen und behinderten Menschen keine wesentlichen Differenzen bestehen, sodass die Rechtfertigung für a (organisierte Suizidbeihilfe für alte, kranke, sterbende Menschen) auch für b (Suizidbeihilfe für behinderte Menschen) gelten muss.
Oder er sieht zwar einen wesentlichen Unterschied zwischen a und b, geht aber davon aus, dass eine Grenzziehung wiederum nicht möglich ist, da der Übergang zwischen beiden Polen fließend ist und daher kein eindeutiger Punkt auszumachen, der eine rationale Grenzziehung markieren könnte. Auch die beiden logischen Varianten des Dammbrucharguments verbinden sich oft, indem der Proponent/die Proponent_ in unklar lässt, ob er/sie einen Unterschied zwischen a und b sieht oder nicht13.
Ein weiteres Beispiel für ein logisches Dammbruchargument findet sich in der Rede Jens Spahns (CDU/CSU):
Beispiel 3:
„Etwas anderes ist es aber, wenn wir anfangen, das [den ärztlich assistierten Suizid] zu verrechtlichen. Dann machen wir aus dem extremen Einzelfall auf einmal einen Normalfall. Das ist eine Option von vielen anderen, die wie selbstverständlich aufgeführt ist. Wir fangen dann auf einmal an, Kriterien zu normieren. Ein Vorschlag beinhaltet den Begriff „tödlich verlaufende Krankheit“. Diejenigen, die das vorschlagen, sind – seien Sie ehrlich – am Ende auch nicht konsequent. Wenn Sie sagen, dass Sie das Selbstbestimmungsrecht in die Mitte Ihres Vorschlags stellen: Warum begrenzen Sie dann das Selbstbestimmungsrecht wieder nur auf tödlich verlaufende Krankheiten? Ich war vor kurzem bei einer Radiosendung mit Anrufern zu dem Thema, das wir hier diskutieren. Eine Anruferin sagte: Für mich ist das Leben schon dann nicht mehr lebenswert, wenn ich einen künstlichen Darmverschluss habe. Ich möchte nicht, dass sich dann andere um mich kümmern müssen. Beim Stuhlgang möchte ich nicht von der Hilfe anderer abhängig sein. – Darauf habe ich geantwortet: Über den Fall reden wir aber eigentlich gar nicht; das ist keine tödlich verlaufende Krankheit. Ich habe folgende große Sorge: In dem Augenblick, wo wir auf einmal Kriterien aufstellen, kommen wir ganz schnell zu einer Debatte über die Frage, was denn möglicherweise noch alles da mit hineinzunehmen ist. Ich sage noch einmal: Es ist nicht konsequent, sich einerseits auf das Selbstbestimmungsrecht zu berufen – dann gilt das auch für einen Menschen mit Darmverschluss –, während man es dann an anderer Stelle wieder begrenzt. Sie wissen genau: Wenn man keine klaren Grenzen zieht, gerät man auf eine schiefe Bahn, auf der es dann ganz schnell sehr rutschig wird.“14
Spahn argumentiert gegen eine Regelung, die den ärztlich assistierten Suizids bei „tödlich verlaufenden Krankheiten“ erlauben würde (a), indem er deutlich macht, dass die Selbstbestimmung als Rechtfertigung für die Suizidbeihilfe genauso in anderen Fällen gelten müsste. Es sei daher damit zu rechnen, dass eine solche Regelung außer Kontrolle gerate und immer weiter ausgeweitet würde (b).
Beispiel 4:
„Wenn Beihilfe zum Suizid zuerst ein legales und dann bald ein scheinbar normales Angebot werden würde, sehe ich die Gefahr, dass sich ältere oder lebensbedrohlich erkrankte Menschen unter ökonomischen und psychosozialen Druck gesetzt fühlen. Dann kommen sie jedenfalls nicht mehr darum herum, sich zu dieser möglichen Option verhalten zu müssen, sich zu entscheiden. Die Tür für organisierte Sterbehilfe zu öffnen, bedeutet, die Schutzbedürftigsten womöglich über eine Schwelle zu drängen, die sie selbst ursprünglich gar nicht überschreiten wollten.“15
Claudia Lücking-Michel (CDU/CSU) nutzt das empirische Dammbruchargument in sehr klarer Form: Wenn wir a (Suizidbeihilfe als legales und normales Angebot) zulassen würden, erhielten wir b (ältere, schwer kranke Menschen könnten unter psychosozialen, ökonomischen Druck in den Suizid gedrängt werden). Am Ende könnte also ein moralisch positives zu bewertendes Anliegen, die Verwirklichung von mehr Selbstbestimmung, das Gegenteil, nämlich soziale Fremdbestimmung am Lebensende, bewirken.
Hier zeigt sich deutlich ein Charakteristikum von Dammbruchargumenten: a muss nicht als an sich schlecht oder moralisch verwerflich bewertet werden, man kann die Motive für a sogar für redlich und sinnvoll halten – trotzdem kann man mithilfe des Dammbrucharguments a mit Verweis auf unerwünschte Konsequenzen, die gerade den Grundgedanken der Selbstbestimmung, der hinter a stehen mag, untergraben, ablehnen. Der Proponent/die Proponent_in kann also Verständnis für den Gegner/die Gegner_in zeigen, sogar einen Teil seiner/ihrer Position teilen (oder vorgeben, sie zu teilen). Das erhöht die rhetorische Kraft des Arguments und erklärt zum Teil seine Popularität.
Alle Proponent_innen in der Debatte nehmen als Ereignis a eine zur Normalität gewordene organisierte Sterbehilfe zum Ausgangspunkt. Das Ereignis b, dass durch a verursacht wird, wird unterschiedlich benannt. Von Sterbenden, Alten und Kranken, die in einer entsolidarisierten, ökonomisierten Gesellschaft in den Tod gedrängt werden, über die Legaliserung der Tötung auf Verlangen und die Legalisierung der organisierten Suizidbeihilfe für nicht sterbenskranke Menschen und Kinder bis hin zur Entwertung des Lebens behinderter Menschen. Der Kausalzusammenhang zwischen a und b wird logisch und empirisch begründet. Die logischen Argumente halten eine vernünftige Grenzziehung zwischen a und b unmöglich, etwa weil die Annahmen über angeblich menschenunwürdiges Leben von Sterbenskranken genauso auf anders erkrankte oder behinderte Menschen zutreffen könnten oder weil nicht einerseits Sterbenskranken das Recht auf Selbstbestimmung im Sinne eines assistierten Suizids eingeräumt werden kann, ohne dass dasselbe auch gesunden Menschen zugebilligt werden kann. Dabei bleibt meist unklar, ob die Grenzziehung an der wesentlichen Identität von a und b scheitern muss oder an dem fließenden Übergang von a zu b.
Die empirischen Argumente sehen gesellschaftliche Entwicklungen als Bindeglied zwischen a und b. Würde organisierte Sterbehilfe als Normalfall akzeptiert, brächen sich gesellschaftliche Kräfte Bahn, die zu einer Entsolidarisierung mit Sterbenden führen würden oder träte eine Veränderung der Einstellung der Gesellschaft zum Wert menschlichen Lebens ein, die am Ende zu b führen würde. Zur Plausibilisierung eines möglichen Dammbruchs wird auf statistische Erhebungen aus Staaten mit liberalen Sterbehilferegelungen (Belgien, Niederlande, Oregon) verwiesen. Die Dammbruchargumentationen bedienen sich ähnlicher Sprachbilder. So ist von Türen, die geöffnet, aber nicht mehr geschlossen werden können, Schwellen, über die Menschen geschoben werden könnten, schiefen, rutschigen Bahnen oder explizit vom Dammbruch die Rede. Es stellt sich die Frage, wie die Dammbruchargumente in der Sterbehilfedebatte zu bewerten sind. Sind sie ein nützlicher Ratgeber bei der legislativen Entscheidungsfindung? Worin liegen die Schwächen einer solchen Argumentation?
A sollte nicht erlaubt werden, da logischerweise auch b erlaubt werden würde, weil es entweder im Wesentlichen gleich ist oder die Rechtfertigung für a auch für b gilt. Wenn aber b im wesentlichen gleich ist oder die Rechtfertigung übertragbar ist, dann kann es nicht mehr als unerwartete Konsequenz von a angesehen werden. Vielmehr darf man (jedenfalls für den parlamentarischen Prozess) unterstellen, dass solche logischen Überlegungen bei der Entscheidungsfindung von Anfang an eine Rolle spielen. Das heißt, dass man entweder a befürwortet, obwohl die Prinzipien dieser Entscheidung auch für b gelten oder dass man die zugrundelegenden Prinzipien so verändert, dass sie nicht mehr für b gelten können16. Damit wird deutlich, dass es sich bei der ersten logischen Dammbruchvariante genau besehen gar nicht um ein Dammbruchargument handelt. Denn es ist gerade das Merkmal eines Dammbrucharguments, dass eine Regelung durch eine nicht intendierte Konsequenz pervertiert oder aufgelöst wird. Dies kann nicht der Fall sein, wenn diese Konsequenz in der Entscheidung bereits eingepreist ist.
Damit verliert das logische Argument freilich nicht seine Berechtigung. Es müsste aber ohne die rhetorische Wucht eines Dammbrucharguments auskommen und stattdessen darlegen, welche verallgemeinerungsfähigen Aussagen, die a zugrundeliegen, auch für b gelten müssen.
Bei der zweiten Variante wird ein Unterschied zwischen a und b anerkannt. Allerdings wird die Möglichkeit einer logischen Grenzziehung auf dem Kontinuum zwischen a und b abgelehnt, dass sie immer willkürlichen Charakter hat. Man könnte dieses Argument aber auch umdrehen, indem man sagt, dass gerade weil es sich um einen Graubereich handelt, weitestgehende Freiheit besteht, eine Grenze irgendwo zwischen a und b zu ziehen. Denn wenn man einen moralischen Unterschied zwischen a und b und damit die Notwendigkeit einer Grenzziehung anerkennt, dann kann nicht die Willkürlichkeit dieser Grenze gegen die Grenze als solche ins Feld geführt werden.
Diese Form des logischen Dammbrucharguments hilft daher nicht weiter bei den Fragen, ob und wie eine Grenzziehung möglich ist. Es verkennt, dass gerade klare rechtliche Regelungen einem Dammbruch entgegenwirken können. Das empirische Dammbruchargument trifft letztlich Prognosen über gesellschaftliche Entwicklungen. Hierin liegt zugleich die Schwäche und die Stärke des Arguments. Denn gesellschaftliche Prognosen sind kaum zu beweisen, aber eben auch genauso schwer zu widerlegen. Dementsprechend werden sowohl von Proponent_innen als auch von Opponent_innen empirische Belege zur Erhärtung bzw. Widerlegung der Dammbruchthese verwendet. Hier bieten sich die Statistiken aus Ländern an, die den Weg einer teilweisen oder weitgehenden Liberalisierung der aktiven Sterbehilfe bereits gegangen sind, insbesondere Belgien, die Niederlande und der US-Bundesstaat Oregon.
Ohne auf die Statistiken hier im Einzelnen einzugehen und sie bewerten zu können, stellen sich hier zwei Probleme. Zum einen fehlen in der Regel verlässliche Zahlen aus der Zeit vor Änderung der Rechtslage. Gerade diese bräuchte es aber, um einen Dammbruch zu indizieren17. Zum anderen hängt die Bewertung der Zahlen gerade vom jeweiligen Standpunkt in der Debatte ab. Konservative Verfechter/Verfechter_innen der Dammbruchthese werden bereits kleine Missbrauchszahlen oder leicht erhöhte Selbstmordraten als Beleg für einen Dammbruch werten, während Befürworter/Befürworter_innen einer liberalen Regelung entweder den kausalen Zusammenhang überhaupt abstreiten oder sie für notwendig in kauf zu nehmende Nebeneffekte halten18.
Eine theoretische Überlegung kann gegen das empirische Dammbruchargument ins Feld geführt werden. Wenn man annimmt annimmt, dass a eine vernünftige Entscheidung ist, die zu einer gesellschaftlichen Entwicklung führt, an deren Ende b für vernünftig oder akzeptabel gehalten wird, könnte man annehmen, dass b tatsächlich vernünftig ist19. Dann gäbe es keinen Grund a zu verhindern, vielleicht läge darin sogar ein Grund auf a hinzuwirken20. Denn wie begründet man, dass die jetzige Einschätzung, dass eine hypothetische Praxis unmoralisch ist, mehr Bedeutung beizumessen ist, als die Einschätzung der Gesellschaft, die auf Grundlage der Erlaubnis von a zu einer entgegengesetzten Einstellung gelangt? Im Gegenteil indiziert die Tatsache, dass eine Gesellschaft in einer bestimmten Situation etwas für vernünftig oder moralisch richtig hält, dass es tatsächlich richtig ist. Es ist also durchaus möglich, dass empirische Dammbruchargument gegen sich selbst zu wenden.
Dammbruchargumente erfreuen sich insbesondere bei Konservativen großer Beliebtheit. Es überrascht daher nicht, dass sie auch in der aktuellen Sterbehilfedebatte häufig gegen eine liberale Handhabung der Suizidbeihilfe in Stellung gebracht werden. Ihre Stärke ist vornehmlich rhetorischer Art. Ihr Argumentationsmuster wirkt intuitiv, zudem kann die Argumentation durch schwer widerlegbare Schreckensszenarien aufgeladen werden. Gleichwohl ist der konstruktive Beitrag solcher Argumente nicht besonders hoch. Sie erweisen sich bei nüchterner Betrachtung als sehr angreifbar oder wenig aussagekräftig. Jedenfalls tragen sie in ihrer meist sehr vagen Form nicht zu einer Versachlichung der Debatte bei.

LUKAS RHIEL   Jahrgang 1991, studiert Rechtswissenschaft mit dem Schwerpunkt „Rechtspolitik und Rechtsgestaltung“ an der Humboldt-Universität zu Berlin.

Literatur
Adam Corner/Ulrike Hahn/Mike Oaksford: The psychological mechanism of the slippery slope argument, Journal of Memory and Language, 64, 2011, S. 133 ff., zit. als: Corner/Hahn/Oaksford
Arthur Miller: The ‚Slippery Slope‘ argument: Uses and misuses, Think, 5, 2007, S. 43 ff., zit. als: Miller
Hans Günther Ruß: Aktive Sterbehilfe: Ungereimtheiten in der Euthanasiedebatte, Ethik in der Medizin, 2002, S. 11 ff., zit. als: Ruß
Michael Brand/Claudia Lücking-Michel/Michael Frieser: Begleiten statt beenden – Schutz der Würde am Ende des Lebens, Positionspapier, Berlin 2014, zit. als.: Brand/Michel-Lücking/Frieser
Peter Allmark: Euthanasia, dying well and the slippery slope, Journal of Advanced Nursing, 18, 1993, S. 1178 ff., zit. als.: Allmark
Thomas Douglas: Intertemporal Disagreement and Empirical Slippery Slope Arguments, Utilitas, 22, 2010, S. 184 ff., zit. als: Douglas
Wibren van der Burg: The Slippery Slope Argument, Ethics, Vol. 102, No.1, 1991, S. 42-65, zit. als: van der Burg
Stellungnahme des Nationalen Ethikrates, Selbstbestimmung und Fürsorge am Lebensende, Berlin 2006, S. 27 ff., zit. als: Nationaler Ethikrat 2006
Stenografischer Bericht der 66. Sitzung des Deutschen Bundestags vom 13. 11. 2014, S. 6116 ff., einzusehen unter: http://dipbt.bundestag.de/dip21/btp/18/18066.pdf, zit. als: Plenarprotokoll/ Name des Redners
Zwischenbericht der Enquête-Kommission Ethik und Recht der modernen Medizin zum Thema Patientenverfügung, Berlin 2004, S. 13 ff., zit. als:  Enquête-Kommission Ethik und Recht d. mod. Medizin
Anmerkungen:

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