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Vittorio Hösle: Moral und Politik – Grundlagen einer politischen Ethik für das 20. Jahrhundert

Mitteilungen16309/1998Seite 87-88

Buchbesprechungen

Mitteilungen Nr. 163, S. 87-88

C.H.Beck’sche Verlagsbuchhandlung, München 1997. 1216 Seiten / 98,– DM

Pompös tritt uns das Werk des Philosophen Vittorio Hösles entgegen: Über 1.100 Seiten Text, fast 100 Seiten Anhang mit Bibliographie, Personen und Sachregister. Der Autor zeigt sich immens belesen, zitiert in allen möglichen Sprachen (dänisch, englisch, französisch, griechisch, italienisch, russisch, spanisch – sogar in griechischer und kyrillischer Schrift!) aus philosophischen Werken, aus der Weltliteratur, aus Krimis, aus Churchills Kriegsberichten.
Streng geht Hösle mit seinen vermeintlichen Gegnern um, ohne die und ihre Ansichten konkreter anzuführen; da baut er lieber Popanze auf, der er als dumm und vorurteilsbeladen beschimpft. Seine eigenen Vorurteile offenbart er am deutlichsten, wenn es über „die 1968er“ und überhaupt die Linken geht oder die Atheisten und um die angebliche Höherwertigkeit der „westlichen“ Staaten (Das heißt: für Hösle haben überhaupt nur die Industrienationen das Recht, sich „Staat“ zu nennen, im Gegensatz zu den Entwicklungsländern, „jenen politischen Gebilden, die „Staaten“ nur heißen“), besonders die USA, aber auch Deutschland, für Hösle das „intellektuellste Land“! – wiederum um Gegensatz: „in der Buschmannsprache (!) etwa bedeutet „drei“ schon „viel“; überhaupt ist Hösle mit Pauschalisierungen schnell bei der Hand: „Der (!) französische Intellektuelle war besonders gefährlich, weil er anders als der (!) deutsche politisierte und anders als der (!) englische nie in konkreter politischer Verantwortung gestanden hatte.“ Und: „… daß es heute nicht einfach ist, einen italienischen Intellektuellen zu finden, der die Argumente zugunsten einer Marktwirtschaft korrekt wiedergeben kann.“
Am härtesten geht Hösle mit den Pazifisten ins Gericht, mit Leuten, die nicht seine Gerechte-Krieg-Rechtfertigung (z.B. was den Golfkrieg anbelangt) mittragen; so schreibt er, Drewermanns Buch „Reden gegen den Krieg“ sei „wie seinerzeit die Schrift F. Alts gegen die Nachrüstung, ein abschreckendes Beispiel für einen (…) ethisch dilettantischen Moralismus“. Um auf derselben Seite „Thatchers Entscheidung für den Falklandkrieg“ als „moralisch zwingend“ zu bezeichnen!
Grundsätzlich sind für Hösle alle die, die nicht seiner Meinung sind, dumm, ideologisch verblendet und unethisch. Das heißt es betreffs Kaiser Karl V.: „… die menschliche Größe in seiner Abdankung, die erhabenen Worte (…), die letzten Lebensjahre im Kloster können nur diejenigen nicht rühren, bei denen ideologische Voreingenommenheit jedes unmittelbare moralische Empfinden ausgetrocknet hat.“ Solches gipfelt in folgender Passage auf der Seite 263 – wobei erschwerend hinzukommt, daß die dort vorkommenden Begriffe niemals erklärt werden. „Wenn man die Grundprinzipien der synthetischen Theorie anerkennt, die Genetik und Darwinismus vereint, muß man zugeben, daß die sozialbiologische Kritik an der früheren Ethologie zwingend ist; und etwa über den Aufweis des Zusammenhangs zwischen zwei so seltenen Merkmalen wie demjenigen der Haplo-Diplodie und der extremen Sozialität der Hautflügler kann sich nur derjenige nicht freuen, dem Vorurteile wichtiger sind als intellektuelle Neugierde.“
Also: Leser(in), freue dich! Und wenn du trotzdem weiterliest, achte vor allem auf Hösles Wortwahl („muß man zugeben“ – „zwingend“): Fehlende Argumente ersetzt er hier wie auch sonst durch apodiktisches Gebaren: „ohne jeden Zweifel“ – „offenkundig“ – „evident“ – „liegt auf der Hand“ – „unüberbietbar absurd“ – „unüberbietbar komisch“ – „zutiefst unmoralisch“ – „furchtbarste Form des Bösen“ (nämlich die „subjektive Bejahung des Anti-Universalismus“ (!) – „moralisch widerwärtigst“ etc. . Oder Hösle windet sich in verkrampften Formulierungen wie: „Ein eigentliches Matriarchat kann wohl schwerlich je bestanden haben.“ Dazu paßt folgende Definition: „Gerechtigkeit besteht in der Anerkennung, daß die Rechte, die man sich selbst zuschreibt, allen Gleichen (!) gebühren.“
Putzig von Hösles Bodenständigkeit in der heutigen Zeit zeugend sind viele seiner Beispiele ethischen Handelns; z.B.: „Wer eingesehen hat, daß er sich auf einen Kampf einzulassen die Pflicht hat, wird vor der Auseinandersetzung die Lektüre von Weltschmerzliteratur unterlassen.“ Oder: „Der arbeitende Sklave muß ernährt werden, wenn er nicht verhungern soll.“ (Nebenbei: „Sklaverei“ ist einer der gewichtigsten Begriffe in Hösles Sachregister!)
Manche seiner Vorschläge muten – gelinde ausgedrückt – hanebüchern an: So wenn er (angesichts unserer Arbeitslosigkeit) die Verlängerung der Lebensarbeitszeit fordert oder wenn er (angesichts der Anti-Asylpolitik, die er im wesentlichen befürwortet) Leuten, die sich der Wehrpflicht nicht unterwerfen wollen, Auswanderung empfiehlt („Gewährung eines Rechts auf Emigration“).
Sicher ist manches gut und richtig, was Hösle vorschlägt, vor allem was die Umwelt anbelangt, aber seine Wünsche sind zu halbherzig, greifen zu kurz. So plädiert er zwar für „Verbilligung der Bahn und des öffentlichen Nahverkehrs“, für „eine starke Begrenzung der Flüge“, für „Umverlegung der Kraftfahrzeugsteuer auf Treibstoffsteuern (die auch für Flugbenzin gelten müssen)“ etc., warnt aber gleichzeitig vor einem „antinuklearen Fundamentalismus“ und unterstellt im Endeffekt die Ökologie der Ökonomie: „Nicht nur muß die Wirtschaft umweltverträglich werden; auch die Umweltpolitik muß wirtschaftsverträglich (Hervorhebungen im Original) sein. Damit ist u.a. folgendes gemeint: Die umweltpolitische Konzeption darf nur einen Rahmen setzen, innerhalb dessen jedes einzelne Unternehmen frei entscheiden darf und soll; (…) der staatliche Rahmensetzer muß sich mit der Wirtschaft absprechen und mit ihr kooperieren … „
Bisweilen kommt Hösle nicht über das Niveau schlechter Wahlkampfschriften hinaus. Von einem Philosophen hätte man mehr erwartet als das unhinterfragte Nachplappern von Begriffen wie „Wirtschaftsflüchtlinge“, „Elite“, und „Leistung“ (ganz im Sinne der Neoliberalen), „wohlfahrtsstaatlicher Masseneudämonismus“, „organisierte Verbrecherbanden“, „ausufernder Sozialstaat“, „Ökodiktatur“, „Parasitismus“. Und so rechtfertigt er – „Philosophisch/metaphysisch begründet“ – so ziemlich alles, was sich die Politik in letzter Zeit geleistet hat: Sozialabbau, Lauschangriff, Abschiebungen von Asylanten, Rüstungsexporte, Geheimdiensttätigkeiten etc. etc.
Hösle beruft sich dabei mit Vorliebe auf „das Naturrecht“, auf „die Metaphysik“; ich pfeif auf ein Naturrecht, das Kriege rechtfertigt; ich brauche keine Metaphysik, die Asylbewerbern ihren Peinigern ausliefert!
A propos Metaphysik: Immer wieder streicht Hösle die (positiven) Einflüsse von Religion im allgemeinen und des Christentums im besonderen heraus und die verheerenden Wirkungen des Atheismus. Streckenweise mutet sein Buch wie der gebetsmühlenhaft vorgetragene Versuch an, Philosophie und Politik und Moral für „die höchste Sphäre“ zu retten. Er behauptet keck: „Aus weniger als den fünf Subsystemen Familie, Wirtschaft, Militär, Politik und Religion kann keine soziale Ordnung bestehen, die autark sein will.“ Und: „Der furchtbarste Haß ist derjenige, der einer enttäuschten Liebe zu Gott, zum Ganzen des Seins oder wie man es auch immer nennen mag, entspringt.“ Und: „Der Totalitarismus hat zu tun mit der Selbstvergötzung der durch die industrielle Revolution entfesselten Massen, die jede Bindung an eine göttliche Ordnung aufgegeben haben.“ Hösle geht von der „großen Bedeutung der Religion für jede (!) Gesellschaft“ aus („insbesondere gehört es zu den unsterblichen Leistungen des Christentums ( … ) eine beeindruckende Lehre vom gerechten Krieg vorgelegt zu haben“) und beginnt das Kapitel „Religion“ mit folgender Logik: „Warum gilt das Recht nicht als menschliche Schöpfung? Die Antwort ist einfach: weil es sonst den menschlichen Willen nicht binden könnte.“ Und so schließt das Buch mit dem Wort „Gott“: „Die Aufgaben, die das 21. Jahrhundert zu lösen haben wird, sind ungeheuer ( … ) Dies lenkt den philosophischen Gedanken auf ein Prinzip, das höher ist als der Mensch (…) Die Hoffnung aber darf der Mensch haben (…) Ob diese Hoffnung erfüllt werden wird, dies freilich weiß nur Gott.“ Hilft also nur noch beten? Nein!

Johannes Glötzner

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