Publikationen / Mitteilungen / Mitteilungen Nr. 247

Baden-Würt­tem­berg

Am 08. September 2022 hat Ursula Neumann ihrem Leben im Kreise ihrer Familie friedlich ein Ende gesetzt. Wach bis zum letzten Tage. Davon zeugt ihr Blog, in dem Ursula Neumann drei Tage vor ihrem Tode sich mit dem frühen Humanisten Montaigne befasst und ihn uns ans Herz legt. Selbstbestimmt bis zum letzten Tag. Damit hat sie alle Unsicherheit beendet, die einer medizinischen Diagnose innewohnt, die verbleibende Lebenschancen nur nach Monaten bemisst.

Ursula Neumann war über die mehr als 30 Jahre ihrer Mitgliedschaft in der HU, davon 1992 – 1994 im Bundesvorstand, ein äußerst streitbares Mitglied, mit einer breiten humanistischen Schaffensspur. In der mit Ulrich Vultejus verfassten HU-Schrift Nr. 19 zum 218er-Urteil des Bundesverfassungsgericht (1993) hat sie die männliche Denke des Gerichts mit dem ihr eigenen Handwerkszeug als analytische Psychotherapeutin und Diplomtheologin, die sie beides war, freigelegt in einem polemisch amüsanten „Brief an den Herrn Bundesverfassungsgericht“. Sie hat sich mit der Diskriminierung von Frauen in der katholischen Kirche beschäftigt, etwa „Christliche Gleichberechtigung“ (1994) und „Behandelt man so seine treueste Stütze? Das Verhältnis Frau und Kirche“ (1998). Für ihren Sohn hat sie zusammen mit ihrem Mann Johannes im Kernbereich der HU, Trennung von Staat und Kirche, das wegweisende Urteil des Bundesverwaltungsgerichts (17. Juni 1998) zum Ethikunterricht an Schulen erstritten. Dieses wird in dem 2019 erschienenen Sammelband „Tätiger Humanismus“ auf den aktualisierenden bürgerrechtlichen Prüfstand gestellt, zusammen mit 16 äußerst kurzweiligen und pointierenden Beiträgen aus der breiten Facette bürgerrechtlicher Steinbrüche. Etwa der Beitrag „Gutmensch trifft Flüchtling“, nach meiner Einschätzung eine Pflichtlektüre – nicht nur für Flüchtlingshelfer.

Ursula Neumann ist im April 2022 aus der HU ausgetreten. Trotz vieler Gespräche konnte ich sie nicht mehr halten. Sie habe sich diesen Schritt lange überlegt, aber die Enttäuschung über das Agieren der HU, insbesondere aber des Bundesvorstandes in der Corona-Pandemie mache diesen Schritt für sie notwendig. „Das war einer Bürgerrechtsorganisation unwürdig!“, schreibt sie an die HU, und begründet dies näher. Vom Bundesvorstand kein einziges Wort zurück. Wir haben nun einen neuen Bundesvorstand und auf diesem ruht alle Hoffnung, dass die HU sich doch wieder aus dem wohligen Bereich des politisch-gesellschaftlichen Mainstreams in das strudelige Wasser einer bürgerrechtlichen Wächterin begibt. Ursula Neumann ist nicht die Einzige, die wegen der Corona-Haltung der HU diese verlassen hat.

Udo Kauß, Freiburg

Anmerkung der Redaktion: An dieser Stelle sei erinnert an Sven Lüders‘ Rezension (vorgänge 233) von Ursula Neumanns Erinnerungsbuch: „Der Kirchenrechtsprofessor nimmt Vernunft an, wird mit mir glücklich und stirbt“. Nachzulesen unter: https://www.humanistische-union.de/publikationen/vorgaenge/223/publikation/ein-schonungsloser-rueckblick/

 

Tacheles

Die Humanistische Union Baden-Württemberg veranstaltet weiterhin die Vortragsreihe „Tacheles“ – inzwischen nicht mehr „nur“ mit dem Institut für Kriminologie und Wirtschaftsstrafrecht der Universität Freiburg sondern auch unter Beteiligung des Arbeitskreis Kritischer Jurist*innen (akj) Freiburg. In diesem Rahmen fanden folgende Veranstaltungen statt:

 

Am 9. November präsentierte der Autor, Jurist und Journalist Ronen Steinke im Rahmen der Tacheles-Reihe sein Buch „Vor dem Gesetz sind nicht alle gleich“

Das Versprechen lautet, dass alle Menschen vor dem Gesetz gleich sind. Aber sie sind nicht gleich. Das Recht hierzulande begünstigt jene, die begütert sind; es benachteiligt die, die wenig oder nichts haben. Verfahren wegen Wirtschaftsdelikten in Millionenhöhe enden mit minimalen Strafen oder werden eingestellt. Prozesse gegen Menschen, die ein Brot stehlen oder wiederholt Schwarzfahren, enden hart und immer härter.

In einer beunruhigenden Reportage deckte der Jurist Ronen Steinke systematische Ungerechtigkeit im Strafsystem auf. Er besuchte Haftanstalten, recherchierte bei Staatsanwälten, Richtern, Anwälten und Verurteilten. Und er stellte dringende Forderungen, was sich ändern muss.

Diese Veranstaltung wurde freundlicherweise gefördert von der Stadt Freiburg (Kulturamt) sowie der Verfassten Studierendenschaft der Universität Freiburg.

 

Am 29. Oktober sprach Prof. Dr. Roland Hefendehl, im Rahmen der Tacheles Reihe über das Thema: Das Betätigungsverbot der PKK – Es ist Zeit nachzudenken

Roland Hefendehl präsentierte seine Erkenntnisse aus einem Rechtsgutachten zu diesen Fragen und entwarf ein Modell, wann überhaupt eine Verbotsverfügung in einer Demokratie denkbar erscheint, die den essenziellen Grundrechten der Meinungs- und Vereinigungsfreiheit nicht nur auf dem Papier eine maßgebliche Funktion zumisst.

Im Zuge der Nato-Erweiterung um Schweden und Finnland wurde einmal mehr deutlich, welche politische Bedeutung die türkische Regierung der Existenz und dem Wirken der PKK in Europa nach wie vor zuschreibt. Fast scheint es so, als habe das Bundesinnenministerium auch deswegen derzeit kein großes Interesse, am Status quo des Umgangs mit der PKK in Deutschland zu rütteln. Der kürzlich gestellte Antrag auf Aufhebung der Verbotsverfügung schlug jedenfalls kaum Wellen. Dabei besteht durchaus Anlass darüber nachzudenken, ob man heute noch von einer so bezeichneten Strafrechtswidrigkeit der PKK ausgehen kann, auf die die Verbotsverfügung vor knapp 30 Jahren maßgeblich gegründet wurde. Straftatbestände, die gerade an diese Verbotsverfügung oder weit im Vorfeld einer Rechtsgutsverletzung an die Zugehörigkeit zu einer Vereinigung anknüpfen, sollten insoweit mit besonderem Argwohn betrachtet werden.

Die Veranstaltung kann online unter  https://strafrecht-online.org/tacheles/ angesehen werden.

 

Am 2. Juni sprachen die Rechtsanwälte Jan Wennekers und Dr. Jan-Carl Janssen, Anwaltskanzlei im Hegarhaus, Freiburg zum Thema Rechtsstaatswidrige Tatprovokation durch Verdeckte Ermittler.

Der Einsatz Verdeckter Ermittler ist unter dem Blickwinkel der funktionsfähigen Strafverfolgung organisierter Kriminalität grundsätzlich nachvollziehbar. Insbesondere bei Straftaten aus dem Bereich des Betäubungsmittelstrafrechts gehen Beschuldigte häufig konspirativ vor, so dass andere (nach der Strafprozessordnung zulässige) Ermittlungsmethoden nur bedingt erfolgsversprechend sind. Die Eingangsvor- aussetzungen für den Einsatz Verdeckter Ermittler sind gesetzlich geregelt, anders als der Einsatz von sogenannten Vertrauenspersonen, die keine Polizeibeamten sind.

Ein besonderes Problemfeld eröffnet sich nun, wenn es im Rahmen solcher Einsätze nicht nur zur Informationsbeschaffung, sondern zur „Tatprovokation“, also einer Deliktsveranlassung durch Verdeckte Ermittler, Vertrauenspersonen oder sonstige polizeiliche Lockspitzel kommt. Die gesetzlichen Regelungen für diese im Spannungsfeld mit dem Recht auf ein faires Verfahren stehenden Vorgehensweise sind unzureichend. Die deutsche obergerichtliche Rechtsprechung stand lange nicht im Einklang mit der Linie des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, zuletzt etwa der im Oktober 2020 ergangenen Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte „Akbay u.a. gegen Deutschland vom 15.10.2020“.

Der Vortrag ging am Beispiel des Urteils des Bundesgerichtshofs vom 16.12.2021 (1 StR – 197/21) näher auf die Entwicklung der Rechtsprechung zur Tatprovokation durch Verdeckte Ermittler, und auch auf die konkreten Ermittlungsmethoden, mit denen sich Beschuldigte und ihre Verteidiger immer wieder konfrontiert sehen. Auch nach dieser jüngsten BGH-Entscheidung bleiben Fragen der rechtsstaatlichen Vereinbarkeit der praktischen Einsatzweise ungeklärt. So ist etwa die Konfrontationsmöglichkeit mit dem Verdeckten Ermittler als Zeugen im Prozess stark eingeschränkt sowie die Dokumentation der Einsätze nicht überprüfbar. Auch stellt sich aus Sicht der Praxis die Frage, inwieweit die Beschränkung des Einsatzes Verdeckter Ermittler auf „Straftaten von erheblicher Bedeutung“ (§ 110a Abs. 1 S. 1 StPO) effektiv eingehalten und überwacht wird. Zumindest ist auch auf politischer Ebene bestehender Handlungsbedarf erkannt worden: Im Koalitionsvertrag von SPD, GRÜNEN und FDP vom 24.11.2021 heißt es: „Unter anderem regeln wir […] das grundsätzliche Verbot der Tatprovokation“. Die tatsächliche Ausgestaltung darf mit Spannung erwartet werden.

nach oben