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Quadratur des Kreises

„Endstation Triage“ war der Titel einer Veranstaltung am 17. September in Marburg. Die Humanistische Union (HU) hatte dazu in den Stadtverordnetensitzungssaal eingeladen.

Nach der Begrüßung durch den neuen HU-Bundesvorsitzenden Stefan Hügel und einleitenden Worten des Marburger HU-Regionalvorsitzenden Franz-Josef Hanke zur Vorgeschichte der Veranstaltung erklärte Dr. Florian Grams aus Hannover das Wort „Triage“. Dieser Begriff stammt aus der Katastrophenmedizin. Helfer bestimmen im Krieg oder bei Katastrophen über die Zuteilung medizinischer Ressourcen und eine Priorisierung der Patientinnen und Patienten. Manche kommen schnell an die Reihe. Andere kommen später dran. Für manche kommt dann jede Hilfe zu spät oder sie werden gar nicht behandelt.

Insbesondere alte und behinderte Menschen machen sich vermehrt Sorgen. Darum haben Behinderte vor dem Bundesverfassungsgericht (BVerfG) geklagt. Ihre Verfassungsbeschwerde hatte Erfolg.

Über die Entscheidung des BVerfG vom Dezember 2021 wie auch den Gesetzentwurf der Bundesregierung vom Sommer 2022 haben die Teilnehmenden bei der Tagung gesprochen. Das BVerfG fordert einen wirksamen Schutz der Menschen mit Behinderung vor einer möglichen Diskriminierung bei Entscheidungen über eine Priorisierung bei medizinischen Behandlungen. Nach nahezu einhelliger Auffassung aller Teilnehmenden an der HU-Tagung löst der Gesetzentwurf diese Forderung nicht ein.

„In Deutschland hat es keine Triage gegeben“, behauptet die Bundesregierung in der Begründung zu ihrem Gesetzentwurf. Der Arzt Dr. Kai Löwenbrück aus Dresden bezweifelt das. Untermauert hat er seine Einschätzung sowohl durch eigene Beobachtungen in Sachsen wie auch anhand statistischer Vergleiche.

Auch die Krankenpflegerin Gisela Lind aus dem Universitätsklinikum Marburg kennt Triage aus eigener Erfahrung. In Krankenhäusern finden jeden Tag solche Entscheidungen statt, berichtete sie: Wer kommt auf die Intensivstation und wer nicht?

Marburgs Oberbürgermeister Dr. Thomas Spies hat viele Jahre als Notarzt gearbeitet. Dabei musste er oft sehr schnell Entscheidungen über eine Priorisierung treffen. Er legte großen Wert auf möglichst klare und gut nachvollziehbare Anleitungen zum Vorgehen in Krisensituationen, denn darauf sollten Ärztinnen und Ärzte gut vorbereitet sein, meinte er.

Die frühere Brandenburger Verfassungsrichterin und langjährige HU-Bundesvorsitzende Prof. Dr. Rosemarie Will hat sowohl die Entscheidung des BVerfG wie auch den Gesetzentwurf der Bundesregierung kommentiert. In beiden hat sie problematische Punkte gefunden. Der Gesetzentwurf der Bundesregierung falle jedoch noch hinter die Karlsruher Entscheidung zurück.

Prof. Dr. Jörg Arnold konnte sich durchaus mit dem Vorschlag von Beschwerdeführenden anfreunden, die Entscheidung über eine Zuteilung medizinischer Ressourcen im Notfall zu randomisieren. Will und Hanke mochten sich dem indes nicht anschließen. Bei der Frage, welche Kriterien eine Diskriminierung ausschlössen, stießen sie jedoch schnell an Grenzen, da auch die Überlebenswahrscheinlichkeit durchaus von behinderungsbedingten Folgeerscheinungen bei den Betroffenen abhängen könnte.

Thema bei der – vom stellvertretenden HU-Bundesvorsitzenden Dr. Wolfram Grams moderierten – Debatte waren auch die sogenannte „Ex-Posttriage“ und die „präklinische Triage“. Als „Ex-Posttriage“ wird eine nachträgliche Änderung bereits erfolgter Zuteilungsentscheidungen bezeichnet, womit eine bereits eingeleitete Behandlung nach Eintreffen einer anderen Person zugunsten der neuen Patientin oder des neuen Patienten abgebrochen würde. Das wollten alle Anwesenden verbieten.

Eine „präklinische Triage“ hält Menschen in Pflegeheimen von der Intensivstation fern. Das bringt besonders alte und behinderte Menschen in Gefahr. Angeblich soll es auch das in Deutschland nicht gegeben haben.

Am Ende der Debatte herrschte eine gewisse Ratlosigkeit. Triage ist letztlich die Quadratur des Kreises. Jede Entscheidung zugunsten einer Patientin oder eines Patienten erfolgt hier letztlich auf Kosten der Menschenrechte einer anderen Person.

Doch die Triage lässt sich nach Löwenbrücks Einschätzung nie ganz verhindern. Medizinische Ressourcen seien nicht unendlich. Ein Einsatz von Geldern für Intensivstationen gehe dann möglicherweise zu Lasten psychotherapeutischer oder anderer Behandlungen, deren Fehlen am Ende auch Menschenleben kosten könne.

Notwendig ist nach einhelliger Einschätzung aller Anwesenden eine breite gesellschaftliche Debatte über Triage. Sie sollte sowohl die Sicherung medizinischer Ressourcen und Einrichtungen als Aufgabe staatlicher Daseinsvorsorge ins Zentrum rücken als auch die Verhinderung möglicher Katastrophen wie Klimawandel mit Dürre, Hitze und Flut oder Pandemien als dessen Folge. Zumindest die Orientierung des Gesundheitssystems an privatwirtschaftlicher Gewinnmaximierung dürfte die Gefahren für die Gesundheit der Bevölkerung weiter erhöhen.

Die Beiträge der Tagung vom 17. September 2022 sind hier online abrufbar:

Endstation Triage? Probleme der Priorisierung und ihre Gefahren für Menschenrechte

 

 

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