Der Anti-Huntington
Armatya Sen plädiert für die Anerkennung der Hybridität,
Aus: vorgänge Nr.178, Heft 2/2007, S. 149-151
Ein weiteres Mal muss die von Michel Foucault gestellte Frage „Wen kümmert´s, wer spricht?“, in der der französische Philosoph die Figur des Autors zu einer völlig unrelevanten Größe heruntergespielt hat, positiv beantwortet werden: Auch wenn bestimmte Thesen in erkenntnistheoretischer Hinsicht nicht viel Neues offenbaren, können sie doch Aufsehen erregen, wenn der Autor eine namhafte Persönlichkeit ist. Dies trifft sicherlich im Fall des neuesten Buches des indisch-englischen Professors und Nobelpreisträgers für Ökonomie (1998) Amartya Sen zu.
Amartya Sen Die Identitätsfalle. Warum es keinen Krieg der Kulturen gibt. Aus dem Englischen von Friedrich Griese. C.H. Beck München 2007, 208 S., 19,90 Euro
Der 1933 im indischen Shantiniketan geborene Wirtschaftswissenschaftler wurde bekannt durch seine Studien über die Ursachen der Armut und seine Arbeiten über Wohlfahrtsökonomie. Sen weiß seinen Ruhm zu nutzen, indem er sich als engagierter Intellektueller zu den wichtigsten wirtschaftlichen und politischen Themen äußert. Er bringt auf diese Weise komplizierte Sachverhalte dem breiten Publikum nahe. Die im englischsprachigen Bereich etablierte Bezeichnung public scholar trifft somit auf Amartya Sen völlig zu.
Seine neueste Publikation, die auf einigen 2001 und 2002 gehaltenen Vorträgen über Identität basiert, kann als eine implizite Antwort auf die in der letzten Zeit erneut intensiv diskutierte Hypothese von Samuel Huntington über den „Clash of Civilisations“[1] betrachtet werden. In seiner kontroversen Studie hat der amerikanische Politologe die These vom Zusammenprall der Kulturen aufgestellt und somit die wachsende Bedeutung der Kultur unterstrichen. Sie könne nicht mehr als eine Fußnote der Politik bagatellisiert werden, sondern werde vielmehr zu einem immer bedeutenderen Faktor der Weltpolitik. Die Gefahr des angeblich religiös motivierten Terrorismus und Behauptungen über eine wachsende Kluft zwischen dem Westen und dem Islam haben den Schlagworten von Huntington Konjunktur gesichert.
Amartya Sen stimmt der Behauptung zu, dass die Kultur zählt; er fragt aber auf welche Weise sie zählt. Sen wendet sich gegen jegliche Verallgemeinerungen: Die Kultur oder das religiöse Selbstverständnis sind Kritik wichtig, aber ebenso wie nationale, ethnische oder rassische Verallgemeinerung, führt auch die Fixierung auf kulturelle Attribute zu einem sehr beschränkten Bild des Menschen.
In „Identitätsfalle“ werden somit die wichtigsten Grundsätze hinterfragt, die der These über einen uns drohenden „Clash of Civilisations“ zu Grunde liegen: „Wenn man die Weltbevölkerung nach Zivilisationen oder Religionen unterteilt, gelangt man zu einer „solitaristischen“ Deutung der menschlichen Identität, wonach die Menschen einer und nur einer Gruppe angehören […].“ (S. 8). Sen vertritt die Meinung, dass diese Reduzierung von Grunde auf falsch ist. Jeden Menschen charakterisieren nämlich verschiedene Zugehörigkeiten und die Identität ist folglich immer eine plurale Größe.
Für Sen sind Identitäten nichts Gegebenes, sondern entstehen weitgehend dank Wahlvorgänge des Individuums innerhalb dessen, was für machbar gehalten wird, und sind von daher wandelbare Konstrukte: „Die Vernachlässigung der Vielfalt unserer Zugehörigkeiten und der Pflicht, nachzudenken und eine Wahl zu treffen, verfinstert die Welt, in der wir leben.“ (S. 10). Grundlegende kulturelle oder religiöse Einstellungen mögen zwar das Denken der Menschen beeinflussen, aber das heißt noch nicht, dass sie es völlig determinieren. Schließlich weisen die meisten Kulturen enorme Bandbreiten von Variationen auf und ihre determinierende Wirkung ist keine Konstante, sondern hängt immer von individuellen und situativkontextuellen Bedingungen ab.
In der Illusion einer einzigen Identität sieht der Autor eine große Gefahr und ein enormes Gewaltpotenzial, was blutige Auseinandersetzungen zwischen Hutus und Tutsis, Serben und Albanern oder Tamilen und Singhalesen belegen. Es ist schade, dass sich Sen dabei nicht auf das klassische Werk zu dieser Dimension der Identitätsproblematik beruft: „Mörderische Identitäten“ des libanesisch-französischen Autors Amin Maalouf[2] sieht mit Recht den grundlegenden Unterschied zwischen Religion und Sprache als Hauptquelle der Identitätskonstruktion darin, dass sich der Mensch über mehrere Sprachen definieren kann, die Religion dagegen eine gewisse Exklusivität auszeichnet.
Der Religion als Quelle der Identitätszuschreibungen widmet Sen zahlreiche Passagen seines Buches und betont mehrmals, dass die Religion zwar sehr wichtig für das Selbstverständnis eines Menschen sein kann, aber nur in extremen Fällen die einzige Dimension seiner Identität ist. Logisch ist somit seine Kritik an Huntingtons kulturalistisch -reduzierender Sichtweise. Die Gefahr des Einteilungsschemas des amerikanischen Politologen ist nicht nur rein abstrakttheoretischer Natur; derartige Klassifikationen können auch sehr negative praktische Folgen haben: sie verfestigen nämlich eine bestimmte Denkweise und liefern Argumente, Rechtfertigungen und simple Erklärungsmuster sowohl für verschiedenartig gelagerte und leicht politisierbare Problemlagen als auch für reale Konflikte. Die Illusion einer einzigen Identität kann für aggressive Zwecke ausgebeutet werden.
Amartya Sen zeigt zum Beispiel Gefahren der diskursiven Verfahren auf, die sich der Opposition Westen – Antiwesten bedienen. Die Identitätsfalle beruht in diesem Kontext darauf, dass der Westen unbegründet mit eindeutig positiven Merkmalen und Errungenschaften assoziiert und somit das Minderwertigkeitsgefühl des kolonisierten Geistes vertieft wird. Dies führt zur Verstärkung kolonialer Asymmetrien. Folglich stoßen angeblich „westliche“ Ideen (wie Demokratie oder Freiheit) auf Ablehnung der nicht-westlichen Welt. Dies erklärt Sens Diktum: „Die Entkolonialisierung des Geistes verlangt, dass wir uns von der Versuchung exklusiver Identitäten und Prioritäten ein für allemal verabschieden.“ (S. 111). Mit der Identitätsproblematik zwar weniger deutlich verbunden, aber nicht ohne Relevanz sind Sens Bemerkungen über Globalisierungskritik und globale Solidarität.
Leider sind die Ausführungen von Sen nicht frei von Redundanzen und Wiederholungen.
Sein Anliegen ließe sich in fünf Punkte zusammenfassen: unsere kulturellen Identitäten sind nie von anderen Einflüssen wie Geschlecht, Beruf, Klasse, Rasse oder politische Einstellung isoliert; Kultur ist kein homogenes Attribut; sie ist nicht still, sondern unterliegt verschiedenartigen Transformationen; es gibt zahlreiche Wechselbeziehungen zwischen Kultur und anderen Determinanten des gesellschaftlichen Wahrnehmens und Handelns und schließlich muss der fundamentale Unterschied erkannt werden zwischen der Idee der kulturellen Freiheit und der Idee der bewertenden Kulturbewahrung. Die letzte Bemerkung macht aus Sens Buch einen wertvollen Beitrag zu den kontrovers geführten Diskussionen über den Segen und den Fluch des Multikulturalismus. Amartya Sen bedient sich einer plausiblen Unterscheidung zwischen Multikulturalismus und dem, was er „pluralen Monokulturalismus“ nennt.
Die Stärke der „Identitätsfalle“ liegt sicherlich darin, dass der Autor über eine multiperspektivische Sichtweise verfügt, das Buch mit Erfahrungen aus seinem eigenen Leben bereichert und sich Beispielen bedient, die dem europäischen Leser oft völlig neu sind. Sens Stimme gegen den Reduktionismus, gegen Verkürzungen des Menschen auf irgendwelche Dimensionen und insbesondere auf seinen kulturellen Hintergrund, ergibt sich aus der Überzeugung, dass die Kultur nicht unser Schicksal ist. Somit kann „Die Identitätsfalle“ als ein feuriges Plädoyer für Anerkennung der Hybridität gedeutet werden.
[1] Huntington, Samuel Kampf der Kulturen. Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert. München / Wien: Europa-Verlag 1996.
[2] Maalouf, Amin Mörderische Identitäten. Aus dem Franz. von Christian Hansen. Suhrkamp Frankfurt am Main 2000.