Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 178: Vom Rechtsstaat zur Sicherheitsgesellschaft

Europäische Selbst­kritik

Der Europarat legt besorgniserregende Fakten zum Zustand der Demokratie und der Menschenrechte vor,

Aus: vorgänge Nr.178, Heft 2/2007, S. 135-141

So wichtig das menschenrechts- und grundrechtsorientierte Engagement von Bürgerrechtsorganisationen und Nichtregierungsorganisationen ist, darf nicht vergessen werden, dass ihr Ziel letztlich die Garantie, Übernahme und Weiterentwicklung der von ihren Aktivisten propagierten humanitären Standards durch Parlamente, Regierungen und Internationale Organisationen sein muss. Es wäre deshalb praktisch und politisch unsinnig, wenn die jederzeit notwendige kritisch prüfende Perspektive der Nichtregierungsorganisationen in eine prinzipielle Gegnerschaft und Opposition ausartete, in der das Engagement für die Garantie und Weiterentwicklung von Menschenrechten nur noch den Vorwand für eine utopisch orientierte Fundamentalopposition abgäbe.

Dass die Nichtregierungsorganisationen der demokratischen Zivilgesellschaft deshalb trotz ihrer manchmal vehementen Kritik an einzelnen Zuständen oder Maßnahmen einzelner Staaten als wichtige Partner – und nicht als Gegner – der Parlamente und Regierungen im Bereich der Menschenrechtspolitik angesehen werden müssen, unterstellt auch der diesjährige Bericht der Parlamentarischen Versammlung des Europarates (PACE) über “ The State of human rights and democracy in Europe“[1]. Deshalb ist es besorgniserregend, dass PACE in einer Entschließung feststellt: „In several European countries human rights defenders are harassed and face a worsening climate of repression“ (Doc. 11203, I.10, S. 8).[2]

Dieses informative und faktenreiche 350seitige Dokument über die Entwicklung der Menschenrechte in den inzwischen 46 Mitgliedsstaaten des 1949 gegründeten Europarates stellt trotz seines für internationale Regierungsorganisationen typischen diplomatischen Sprachduktus auch für Nichtregierungsorganisationen eine wichtige Quelle dar. Sie verdient in der praktisch politischen Arbeit eine größere Beachtung, weil mit den inzwischen mehr als 200 verabschiedeten Konventionen, Verträgen und Charters, dem sog. acquis des Europarates, in Ausfüllung und Weiterentwicklung der 1950 verabschiedeten Europäischen Menschenrechtskonvention das weltweit wohl ausgefeilteste und politisch wichtigste Normengefüge entstanden ist, dem sich souveräne Nationalstaaten durch freiwilligen Beitritt unterworfen haben. Der Europarat hat seinerseits über die Jahre mit dem European Court of Human Rights in Straßburg[3] und dem Commissioner of Human Rights aber nur relativ effektive Instrumente der Wahrung und Durchsetzung seiner Normen geschaffen, die im Einzelfall auch individuellen Mitgliedern gegenüber ihren nationalen Regierungen Durchsetzungschancen versprechen, wenn der nationale Rechtsweg ausgeschöpft oder versperrt ist.

Methodisch arbeitet der Europarat, dem eigene wirksame Sanktionspotentiale fehlen, in seiner Menschenrechtspolitik aber vor allem mit umfassenden Länderberichten, fortlaufendem Monitoring und der neuerdings benchmarking genannten Anreizmethode des Herausstellens positiver Beispiele nationaler Umsetzung der transnationalen Entschließungen in nationale oder regionale Regierungs- und Verwaltungspraxis. Diese Methoden wurden aufgrund des so genannten Halonen – Reports 1993 zunächst für die Aufnahme neuer Mitglieder eingeführt, die infolge des Zusammenbruchs des sowjetischen Imperiums und des Entstehens vieler neuer Staaten zahlreich ihre Mitgliedschaft beantragten. Sie wurden aber bereits kurz darauf als generelles Prüfungsverfahren auch für die ‚alten‘ Mitglieder übernommen.

Das mit der Resolution 1115 1977 konstituierte Monitoring Committee ist mit seiner detaillierten Berichterstattung über die Umsetzung und Einhaltung der verabschiedeten Normen heute das für die Menschenrechtspolitik des Europarates entscheidende und effektivste Organ; seine Berichterstattung zu einzelnen Ländern umfasst den größten Teil des jährlichen Berichts. Ein systematisches Monitoring wird nunmehr für Beitrittskandidaten, bei gegebenem Anlass auf Antrag für einzelne Länder und periodisch für alle Mitgliedsländer vorgesehen; veranlassen einzelne Beschwerden und Menschenrechtsverletzungen, die zum Zeitpunkt der Erstellung des Berichts des Monitoring Committees nicht behoben waren dazu, dann initiiert der Europarat einen sog. „post-monitoring dialogue“ zwischen dem Committee und der betreffenden nationalen Regierung. Anträge auf Einleitung eines besonderen Verfahren liegen derzeit beispielsweise gegen Italien wegen „monopolisation of the electronic media and the possible abuse of power“ und gegen Großbritannien wegen „irragularities involving postal and absentee votes“ vor (S. 121). Deutschland sieht sich im Zuge des regelmäßigen Verfahrens mit einer Anfrage wegen bisher mangelnder Umsetzung der Anti-Korruptionsregeln des Europarates konfrontiert (S. 121-122).

Auch der diesjährige Report von PACE beklagt, dass das für intergouvernementale Gremien typische Konsensprinzip des Committees of Ministers als des eigentlichen Entscheidungsorgans des Europarates „may paralyse the Organisations’s human rights acquis“ (Doc. 11203, I.26, S. 9). Deshalb werden aufgrund der aus dem Einstimmigkeitsprinzip resultierenden Veto-Macht einzelner betroffener Mitgliedsstaaten in den Entscheidungen des Ministerkomitees in der Regel keine Namen genannt[4]. Umso wichtiger ist deshalb das Daten und Fakten offenbarende fortlaufende Monitoring.

Seine Ergebnisse müssen Menschenrechtsaktivisten ernüchtern, denn die vielfältigen Berichte und Tabellen im diesjährigen Bericht zeigen wiederum, dass nicht nur die Normen des acquis in vielen Mitgliedsländern im Einzelfall verletzt werden, was schließlich in jeder Rechtsordnung in gewissem Maße erwartet werden muss, sondern dass viele Mitgliedsstaaten trotz der durch freiwilligen Beitritt übernommenen Verpflichtung zur vollständigen Übernahme des acquis in nationales Recht, die Schaffung entsprechender Institutionen und die Gewährleistung der Rechtsnorm in Gesetzgebung und Verwaltungspraxis, nur sehr unzureichende Grade der Anwendung der europäischen Menschenrechtsnormen zeigen. So hat Russland, seit 1996 Mitglied des Europarates, bis heute lediglich „49 conventions out of 200 ratified“ (S. 112), d.h. weniger als alle anderen post-sowjetischen Beitrittsländer. Aber auch das Gründungsmitglied Türkei ratifizierte in dem halben Jahrhundert seitdem nur knapp die Hälfte aller Normen (S. 119) – ein Faktum, das in der öffentlichen Diskussion über einen möglichen EU-Beitritt bei seinen Befürwortern erstaunlich wenig Beachtung findet. Der Bericht dokumentiert dazu erschreckend viele Einzelheiten, von denen nicht alle so wenig überraschen wie die, dass das Mitgliedsland Liechtenstein die Konvention gegen „Geldwäsche“ „neither signed nor ratified“ hat (S. 230), oder Russland als einziges Mitgliedsland bisher die Todesstrafe nicht abgeschafft (S. 24) und neuerdings Gesetze erlassen hat, die „inevitably (lead) to an increase in control of state over NGOs, which raises justified concern“ (S. 89). Die vielen Einzelheiten können hier nicht weiter ausgebreitet werden, lassen aber ein sorgfältiges Studium geboten erscheinen, gerade was die Abschnitte zur sog. Anti-Terror-Bekämpfung (S. 55-57) zu den Menschenrechten und dem Schutz „of vulnerable persons“ wie Gefangenen, Flüchtlingen und ethnischen Minoritäten (S. 57-63) in den Mitgliedsstaaten anbelangt – um die es hier und dort sehr schlecht bestellt ist.

Über die vielen empirischen Einzelheiten hinaus ist aber der diesjährige Bericht von PACE für Menschen- und Bürgerrechtsaktivisten wegen seiner beiden Entschließungen zum Verhältnis von Demokratie und Menschenrechten auch konzeptionell von besonderem Interesse. Ihnen liegt unter anderem der Bericht des auch in Deutschland bekannten schweizerischen Menschenrechtsaktivisten und Propagandisten der Direkten Demokratie Andreas Gross zugrunde (Doc. 11204, S. 75-95), der als schweizerischer Abgeordneter PACE angehört. Nicht zuletzt seinen persönlichen Erfahrungen dürften sich einige für eine solche interparlamentarische Versammlung[5] von 46 Nationen erstaunlich kritische Feststellungen über den Zustand der Demokratie sowie einige bemerkenswert konkrete Handlungsempfehlungen der diesjährigen PACE verdanken.

Hinsichtlich des Zustandes der Demokratie in den Mitgliedsstaaten geht der Bericht von Gross von „the critical situation in which democracy finds itself today in all (!) member states“ aus (S. 78, Hervorhebung des Autors). Auch wenn es sich um einen persönlich verantworteten „report“ handelt ist das immerhin eine erstaunliche Feststellung in einem offiziellen Dokument von PACE. Diese kritische Lage hat danach zwei Hauptursachen und vielfältige Erscheinungsformen.

Erstere bezieht sich auf das Verhältnis der Bürger und Bürgerinnen zu den politischen Institutionen und offiziellen Repräsentanten der Demokratie: „many citizens have lost their trust in their political representatives… this gap between political institutions and citizens is increasing“, als Hauptverantwortliche werden die Parteien und die Medien ausgemacht. Letztere „are tending functionally to replace political parties“ (alles S. 83). In diese demokratiekritische Lagebeurteilung[6] ordnet Gross – ein überzeugter Anhänger der europäischen Integration gleichwohl – auch den Machtzuwachs der Institutionen der EU ein, „a supranational power centre lacking sufficient democratic legitimacy as well as a democratic politiy“ (S. 93). Hinsichtlich der medienkritischen Bemerkungen muss man an die derzeit in Deutschland laufende kritische Debatte über politische Talkshows denken, die angeblich die Funktionen der parlamentarischen Auseinandersetzung unterlaufen und ersetzen sowie den Vorschlag des Bundestagspräsidenten, Politiker sollten für zwei Jahre ihre Beteiligung aussetzen.

Die zweite Hauptursache für die kritische Lage der Demokratie in den Mitgliedsstaaten der Europaunion sieht der Bericht von Gross in „a power gap between econ omy and democracy“ begründet. „National democracies cannot balance global market forces any more“; dabei geht es ihm nicht nur darum, durch Intensivierung der Demokratie „to balance the market forces in the common interest“ (alles S. 77), sondern „the hegemony of economics“ verdanke sich „a kind of economic mentality which thinks that an economic way of tackling problems is best for all kinds of other pro blems too“ (S. 83), einer Mentalität, der man nach Gross nur durch eine Intensivierung Politischer Bildung und durch die öffentliche Unterstützung, Förderung und Finanzierung [7] von Bürgerengagement entgegenwirken könne (S. 93).

Bereits bei den konkreten Handlungsvorschlägen des Berichts von Gross fällt auf, dass sie sich auf die erste Krisenursache konzentrieren. Im Einzelnen schlägt er vor „to enlarge participatory rights of all citizens“ durch die Einführung von Volksinitiativen und Referenda mit niedrigen Quoren auf nationaler (und innerhalb der EU auch auf transnationaler) Ebene und „to democratise the reprensentative part of democracy“ durch „the right of every voter to compose a list in a way that would integrate potentially candidates of all parteies and is able to show preferences for specific candidates by giving two votes instead of only one“ (alles S. 94); außerdem regt er an, das aktive Wahlalter auf 16 Jahre zu senken (S. 93) und die Ausschlußquote bei Wahlen zu representativgremien auf 3 Prozent zu senken, um Minderheiten angemessen zu repräsentieren (S. 87)[8].

Insgesamt laufen die Vorschläge von Gross auf eine stärkere direktdemokratische Ergänzung des Systems repräsentativer Demokratie und einen stärkeren Inklusionsgrad – auch durch das kommunale und regionale Wahlrecht für alle ‚Ausländer‘ aus den 46 Mitgliedstaaten an ihrem permanenten Wohnsitz[9] – hinaus. Die Diagnose, dass die Situation in Deutschland gekennzeichnet ist durch das Fehlen jeglicher direktdemokratischer Möglichkeiten auf Bundesebene und durch ein Wahlrecht, das in vielen Bundesländern und bei Bundestagswahlen „the power of the party bosses to choose and favour those members whose only aim is power“ (S. 94) nicht zu brechen vermag, bedeutet in der Konsequenz, dass auch hier radikale Reformen sich nur gegen den Widerstand der Parteieliten durchsetzen lassen[10]. Allerdings wird dabei nicht erkennbar, wie die als zweite Problemursache herausgestellte Machtverschiebung zwischen Politik und Ökonomie durch genau diese Maßnahmen substantiell korrigiert werden könnte.

Interessant ist nun zu sehen, welche Einschätzungen und Forderungen aus dem Dokument, das noch den persönlich und politische gefärbten Bericht von Gross widerspiegelt, in die offizielle Entschließung der Parlamentarischen Versammlung des Europarates direkt übernommen wurden. Dabei muss man nicht nur den ‚diplomatischen‘ Charakter solcher offiziellen Dokumente bedenken, sondern auch, welches enorme Ausmaß dieses Parlament aus national rekrutierten Parlamentariern dabei konsensual zusammenführen und integrieren muss. Anders als in den pluralistisch zusammengesetzten nationalen Parlamenten geht es dabei ja nicht nur um das übliche, ideologische Parteienspektrum von links bis rechts und von progressiv bis konservativ – zwei Skalen, die heute nicht mehr einfach zur Deckung zu bringen sind -, sondern es geht auch um politische Systeme mit höchst unterschiedlichem Institutionenaufbau, politischer Kultur und deutlich abweichenden Graden der Rechtsstaatsverwirklichung.

Zusammenfassend kann man feststellen, dass PACE die Kritik am Zustand der Demokratie aus Gross‘ Bericht weitgehend und nur geringfügig abgeschwächt ebenso übernommen hat, wie die wichtigsten seiner Reformvorschläge. Weitgehend ignoriert hat das Plenum freilich die zweite Krisendiagnose von Gross: offenkundig wird in dieser europäischen Parlamentarierversammlung mehrheitlich einer Kritik an der derzeitigen Machtverteilung zwischen Politik und Ökonomie nicht zugestimmt. Dabei muss offen bleiben, weil das Dokument dazu nicht Stellung nimmt, ob es Gross` Diagnose einer „hegemony of economics“ ist, oder nur deren negative Bewertung, die PACE mehrheitlich nicht zu teilen vermochte. Realistischerweise ist wohl davon auszugehen, dass sich im Ausbleiben einer eindeutigen Stellungnahme zu diesem Aspekt die überall kontrovers bleibende Beschreibung und Beurteilung des derzeitigen Verhältnisses von Politik und Ökonomie im Rahmen der so genannten ‚Globalisierungsdebatte‘ niedergeschlagen hat. Nur die für alle unkontrovers bleibende Forderung einer „gradual and complete eradication of poverty“ (S. 11) spielt indirekt auf die Thematik an, lässt aber offen, welche Art des politischen Umgang mit ‚Globalisierung‘ im Rahmen des zu gestaltenden Verhältnisses von Politik und Wirtschaft dabei am effektivsten wäre.

Immerhin erscheint die Forderung einer „complete eradication of poverty“ noch utopisch genug – nicht zuletzt in Anbetracht des heute üblichen relativen Armutsbegriffs, der diese mit dem Wohlstand wachsen und damit ‚Armutsabschaffung‘ zu einer statistischen Unmöglichkeit werden lässt.

Zwar spricht die offizielle Entschließung von PACE nicht wie Gross von einer „critical situation“ der Demokratie in den Mitgliedsländern, aber doch davon, dass „the rule of law is still not fully respected in several European countries“. Aufgezählt werden an erster Stelle „human right violations, such as enforced disappearances, extrajudicial killings, secret detentions, torture and inhuman treatment, (which) still occur in Europe; „trafficking in human beings, especially women and children… is widespread in Europe“ (Doc.11203, I.11, S. 8). Diese Aufzählung leider alltäglicher Menschenrechtsverletzungen – die in den Ländermonitoringberichten konkreten Situationen und Ländern zugeordnet werden – geht zurecht davon aus, dass Menschenrechte und moderne Demokratie in einem unauflöslichen Zusammenhang stehen, dass die mangelnde Verwirklichung der Ersteren auch den Zustand der Letzteren beschädigt. Dies muss man heute unbedingt politisch stärker als üblich beachten, weil – wie sich nicht nur an der Beurteilung Russlands als „electoral democracy“ zeigt – in manchen ‚gradualistischen‘ Demokratietheorien die Politikwissenschaft dazu übergeht, die Beurteilung der Menschenrechtslage von der dann nur noch rein prozedural verstandenen Demokratie abzukoppeln. Dies ist nicht die offizielle Position des Europarates und der PACE.

Hinsichtlich der Demokratie geht PACE zusammen mit dem Bericht von Gross von „the increasing feeling of discontent and disaffection among citizens… especially among the young generation“ aus. Die Versammlung, die sich doch offenkundig überwiegend aus Parteivertretern zusammensetzt, übernimmt sogar leicht abgeschwächt Gross‘ scharfe Parteienkritik, dass „in many countries, political parties have partly lost their capacity to be a link between citizens and the state“ und folgert daraus, dass „the traditional institutions of representative democracy should open themselves to more citizen participation“ (Doc. 11203, II. 41 u. 43, S.12f). Relativ zurückhaltend bleibt im Vergleich dazu die Medienkritik von PACE. Sie sieht offenkundig Chancen, die elektronischen Medien zur „evolution of systems of direct democracy“ zu nutzen (ebd. S. 13) – was angesichts der wissenschaftlichen Diskussion über die Chancen und Potentiale von ‚elektronischer Demokratie'[11] doch etwas unvermittelt bleibt.

Aber „referenda and citizens initiatives“ (ebd. S. 14 u. 15) werden ebenso angemahnt, wie festgestellt wird, dass „in wellestablished democracies, thresholds higher than 3% during the parliamentary elections have no justification (ebd. S.54). Ohne das von Gross explizit bestimmte Wahlalter von 16 Jahren direkt anzusprechen, wird eine generelle Senkung des Wahlalters ebenso gefordert, wie „granting the right to vote to lawfully residing non-citizens“ sowie eine Frauenquote „of at least 40% in decisiontaking bodies“ (alles ebd. S. 15).

Interessant ist auch die Forderung nach einer stärkeren gesetzlichen Regulierung des Lobbyismus und schließlich die von Gross voll übernommene Forderung nach einer speziellen Förderung von „civic awareness“ durch Politische Bildung und entsprechende Förderprogramme der Unterstützung bürgerschaftlichen Engagements.

Bürgerrechtlich für die Demokratie Engagierte sollten über die notwendig allgemein bleibende Sprache solcher offiziellen Dokumente im vermeintlichen Radikalismus ihrer praktischen Arbeit nicht die Nase rümpfen, sondern sich vor allem klar machen, dass alle im letzten Absatz angesprochenen Kritikpunkte am Zustand der Demokratie auch auf Deutschland zutreffen. Hier besteht sogar aus der Sicht des Europarates ein innerstaatlicher Handlungsbedarf im Bereich der Demokratiepolitik. Man hat bisher nicht den Eindruck gewinnen können, dass die dazu vertraglich verpflichtete Bundesregierung viel Initiative entfaltet hätte, um den Demokratiestandards des Europarates in Zukunft gerecht zu werden.

Bürgerrechts- und Menschenrechtspolitik kann sich nur und muss sich deshalb in einer expliziten Demokratiepolitik erfüllen, die, wie es PACE feststellt, Demokratie als einen „open, never-ending process in which the freedom of all citizens to affect their own lives should be increased“ (S. 12) versteht und praktiziert. Dabei muss der manchmal zu beobachtende gruppenbezogene oder themenbezogene Partikularismus des menschenrechtlichen Engagements zu Gunsten einer integrierten Demokratiebewegung ‚aufgehoben‘ und neben den vielen berechtigten Einzelsorgen der Zustand und die Entwicklung von Demokratie selbst zum Zentrum der kritischen Beobachtung und des praktischen Engagements werden.

Denn die Zukunft der Demokratie versteht sich auch in den so genannten etablierten Demokratien nicht von selbst. Veränderungen finden immer und in kleinen Schritten statt, es ist nur die Frage, ob es sich dabei um eine allmähliche schleichende Erosion ihrer normativen und institutionellen Standards oder um eine durch eine kritische Demokratiebewegung bewusst jeweils herbeigeführte Anpassung an neue Probleme und Herausforderungen handelt.

[1] Parliamentary Assembly of the Council of Europe , The State of human rights and democracy in Europe, Strasbourg 18. April 2007, 353 S. ; alle Zitate im Text aus dieser Veröffentlichung (siehe auch weitere Informationen unter http://assembly.coe.int).

[2] Der Bericht nennt insbesondere Weißrußland, Russland, Azerbeidjan, Georgien und die Türkei (s. S. 40).

[3] Nicht zu verwechseln mit dem Europäischen Gerichtshof der EU in Luxemburg.

[4] So wird eine dringliche Reform der Arbeitsmöglichkeiten und Ressourcen des völlig überlasteten Straßburger Menschengerichtshofes dadurch aufgehalten, dass als einziges Mitgliedsland Russland bisher nicht die entsprechende Reformmaßnahme (Protocol No 14) ratifiziert hat (s. S. 36).

[5] PACE gehören proportional nach nationalem Parteienspektrum delegierte Mitglieder der nationalen Parlamente der Mitgliedsstaaten an; die Zahl der Delegierten richtet sich (grob) nach der Bevölkerungszahl; PACE tritt 4 Mal im Jahr zur einwöchigen Sitzung zusammen, aber die zahlreichen Komitees und beauftragten Berichterstatter arbeiten unterstützt vom Sekretariat des Europarates ganzjährig.

[6] Es ist dabei nicht nur für die deutsche Politikwissenschaft bemerkenswert, dass von Gross ein analytisch-theoretisches Bewertungsschema eines deutschen Politikwissenschaftlers zugrunde gelegt wird: Theo Schiller, Prinzipien und Bewertungskriterien von Demokratie, in: D. Berg-Schlosser/H.-J. Giegel (Hrsg.), Perspektiven der Demokratie, Frankfurt/New York 1999, 28-56.

[7] Siehe dazu jetzt die spezifisch die deutsche Diskussion zusammenfassenden Thesen von Christa Perabo in der interessanten Tagungsdokumentation des Hesssischen Sozialministeriums, „Ohne Moos nix los?!“ Wie viel Bezahlung verträgt das bürgerschaftliche Engagement ?, Wiesbaden 2007.

[8] Dazu muss man wissen, dass die Ausschlußklauseln in den Mitgliedsstaaten des Europarates bis zu 10% (Türkei) gehen.

[9] Gross weist darauf hin, dass beispielsweise in der ‚urdemokratischen‘ Schweiz 22% der dauerhaft im Land lebenden Erwachsenenbevölkerung nicht wahlberechtigt seien (S. 94).

[10] Siehe zur Zeit die Situation im Bundesland Hamburg, wo die mit absoluter Mehrheit regierende CDU eine durch direkte Volksgesetzgebung verfassungsgemäß zustande gekommene Demokratisierung des Wahlrechts durch parlamentarische Gesetzgebung wieder zurückgeschraubt hat; Kern des Konflikts war die Frage, wie viel Einfluß die Wähler direkt auf die Kandidatenaufstellung der Partei(eliten) haben sollten; allerdings zeigt der Konflikt auch das verfassungspolitische Spannungsverhältnis zwischen direkter und repräsentativer Demokratie, das mit den üblichen Formeln einer bloß wechselseitigen „Ergänzung“ (so auch Gross) nicht einfach verschwindet.

[11] Siehe z.B. H. Buchstein/H.

Neymanns (Hg.), Online-Wahlen, Opladen 2002

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