Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 178: Vom Rechtsstaat zur Sicherheitsgesellschaft

Deutschland - ein Verfas­sungs­staat?

Die Aufrüstung der inneren Sicherheit als Exemplum,

aus: vorgänge Nr.178 Heft 2/2007, S. 44-52

Die deutsche Industrie sonnt sich in ihrer Rolle als Exportweltmeister. Als Exportschlager institutioneller Art hat sich daneben das deutsche Bundesverfassungsgericht einen Namen gemacht. Nicht ohne Stolz berichtete der damalige Verfassungsrichter Dieter Grimm vor einem Jahrzehnt, wie sich Delegation an Delegation reihte, um sich vor Ort über diese Institution kundig zu machen. „Dass Karlsruhe und nicht Washington, Paris oder London zum begehrtesten Reiseziel in Sachen Verfassung und Verfassungsgerichtsbarkeit wurde, hängt – wie man immer wieder hören konnte – damit zusammen, dass die Bundesrepublik als Musterbeispiel für den Übergang von einer Diktatur in eine stabile und prosperierende Demokratie galt, in der die Verfassung und vor allem die Menschenrechte nicht nur eine schöne Verheißung bilden, sondern die politische und soziale Wirklichkeit prägen“ (Grimm 1997). Diese Wirkung wurde nach Grimm vor allem durch die Schaffung einer Durchsetzungsinstanz in Gestalt des Bundesverfassungsgerichts erzielt. Tatsächlich ist denn auch heute kein Verfassungsorgan in der Bevölkerung so beliebt wie eben dieses Verfassungsgericht (Schlink 2007: 157).

Kritik an Karlsruhe

In Politik und Publizistik lässt sich hingegen nicht selten ein schroffer Gegensatz zwischen der öffentlich geäußerten Hochachtung im Grundsätzlichen und der Ablehnung im Einzelfall beobachten, wenn die eigene Position von einem Verdikt des höchsten deutschen Gerichts betroffen ist. So waren es in den siebziger Jahren vor allem Wissenschaftler aus dem linken Spektrum, die dem höchsten deutschen Gericht die Anmaßung einer Rolle als demokratisch nicht legitimierter „Ersatzgesetzgeber“ vorwarfen (Däubler/Küsel 1979). In der Tat haben die Urteile von 1973 zur Mitbestimmung an Hochschulen sowie zum Grundlagenvertrag zwischen Bundesrepublik und DDR, von 1975 zur Einführung der Fristenlösung beim Schwangerschaftsabbruch sowie von 1977 zum Anerkennungsverfahren bei Kriegsdienstverweigerern die damalige Reformpolitik der SPD/FDP-Koalition empfindlich eingeschränkt.

Mitte der neunziger Jahre flammte wiederum massive Kritik am Bundesverfassungsgericht auf, diesmal von Seiten konservativer Politiker und Wissenschaftler. Angelastet wurde dem Gericht jetzt nicht eine dem demokratischen Prinzip widersprechende Oppositionsrolle, sondern seine Rechtsprechung zur Strafbarkeit der Aussage „Soldaten sind Mörder“ sowie in Sachen Kruzifix in bayerischen Schulen. Als „linker Scheißdreck“ soll der damalige innenpolitische Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Johannes Gerster, die Gerichtsentscheidung zur ersteren Thematik tituliert haben (Frankfurter Rundschau v. 30. 9. 1994). Angeprangert wurde vor allem der angeblich ausufernde Schutz von Minderheiten. Stellvertretend für andere sei hier der Richter am Bayerischen Obersten Landesgericht Manfred Kiesel zitiert: Er führte die Überlastung des Bundesverfassungsgerichts darauf zurück, dass dieses „die mit Verfassungsbeschwerden geltend gemachten angeblichen Grundrechtsbeeinträchtigungen eines jeden Querulanten, Egozentrikers, Ignoranten und Kriminellen, der ausschließlich seine Grundrechte kennt und die anderer bedenkenlos missachtet, übertrieben wichtig und ernst nimmt, sich damit intensivst auseinandersetzt und dann zu oft diesen Beschwerdeführern – häufig zu Lasten der Rechte und Interessen von Millionen anderer Bürger – Recht gibt….“ (Kiesel 1995).

Inzwischen scheint sich die Methode des Umgangs mit missliebigen Entscheidungen des höchsten deutschen Gerichts gewandelt zu haben: An die Stelle schriller Kritik wie vor einem Jahrzehnt tritt offenbar das stillschweigende Ignorieren wichtiger verfassungsrechtlicher Vorgaben des Gerichts durch manche Regierungspolitiker. Dies lässt sich anhand zweier Beispiele aus dem Politikfeld der Inneren Sicherheit belegen.

Auf dem Weg zur elektro­ni­schen Rundu­m­über­wa­chung

Keineswegs erst seit den verheerenden Terroranschlägen am 11. September 2001 sind die Gesetzgeber von Bund und Ländern darum bemüht, gesetzliche Ermächtigungen für eine weit reichende Nutzung der Möglichkeiten moderner Informations- und Kommunikationstechniken durch die verschiedenen Sicherheitsbehörden zu schaffen (Kutscha 2001). So erlaubt die Strafprozessordnung inzwischen längst nicht mehr nur die Aufzeichnung des Inhalts von Telefongesprächen, sondern auch eine gezielte Auswertung der digitalisierten Verbindungsdaten einschließlich der Standortdaten von Mobiltelefonen und damit die heimliche Erfassung des gesamten sozialen Umfelds einer verdächtigen „Zielperson“ (Gercke 2006). Mit der Einführung der Vorratsdatenspeicherung werden die Möglichkeiten elektronischer Überwachung noch potenziert (Humanistische Union 2007: 30 ff.).

Nun hat indessen das Bundesverfassungsgericht in mehreren wichtigen Entscheidungen der letzten Jahre Grenzmarken für gesetzgeberische Ermächtigungen zu heimlichen Überwachungsmaßnahmen des Staates gesetzt, so vor allem in seinem Urteil zum Lauschangriff von 2004 sowie in seiner Entscheidung zur „vorsorgenden“ Telekommunikationsüberwachung aus dem Jahre 2005 (Kutscha 2005). Danach müssen die entsprechenden Eingriffsnormen den Grundsätzen der Tatbestandsbestimmtheit sowie der Verhältnismäßigkeit genügen und durch verfahrensmäßige Sicherungen flankiert sein.

Darüber hinaus postulierte das Gericht die Respektierung eines „Kernbereichs privater Lebensgestaltung“, der in Anbetracht der im Grundgesetz verbürgten Unantastbarkeit der Menschenwürde gegenüber jeglicher staatlichen Ausforschung tabu zu sein hat. Zur Entfaltung der Persönlichkeit in diesem absolut geschützten Kernbereich rechnet das Bundesverfassungsgericht „die Möglichkeit, innere Vorgänge wie Empfindungen und Gefühle sowie Überlegungen, Ansichten und Erlebnisse höchstpersönlicher Art zum Ausdruck zu bringen, und zwar ohne Angst, dass staatliche Stellen dies überwachen. Vom Schutz umfasst sind auch Gefühlsäußerungen, Äußerungen des unbewussten Erlebens sowie Ausdrucksformen der Sexualität“ (Bundesverfassungsgericht 2004: 1002).

Selbst aber im Hinblick auf das Sammeln und Verwerten von personenbezogenen Informationen, die nicht diesem Kernbereich zuzurechen sind, statuiert das Gericht eine absolute Grenze: Verletzt wird die Menschenwürde danach auch durch eine Totalüberwachung dergestalt, „dass nahezu lückenlos alle Bewegungen und Lebensäußerungen des Betroffenen registriert werden und zur Grundlage für ein Persönlichkeitsprofil werden können“ (Bundesverfassungsgericht 2004: 1004).

Der Aktivismus der Gesetzgeber in Deutschland bei der Schaffung neuer Bestimmungen zur Inneren Sicherheit korrespondiert indessen keineswegs mit der Bereitschaft, die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts strikt zu beachten (Müller-
Heidelberg 2006). Als repräsentative Beispiele hierfür können die im Frühjahr 2007 vorgelegten Regierungsentwürfe zur Neuregelung der Telekommunikationsüberwachung (Bundesministerium der Justiz 2007) sowie zur Änderung des Zollfahndungsdienstgesetzes (Deutscher Bundestag 2007) gelten. Danach sollen auch künftig Telefongespräche von Verdächtigen „aus Kostengründen“ im Regelfall nur aufgezeichnet und nachträglich abgehört statt „life“ überwacht werden, womit Verletzungen des absolut geschützten Kernbereichs zwangsläufig vorprogrammiert sind. Unzulässig sollen Telefonüberwachungen nur dann sein, wenn „durch sie allein Kommunikationsinhalte aus dem Kernbereich privater Lebensgestaltung erlangt würden“. Wann aber werden die Überwacher jemals vorher zu der Einschätzung gelangen, dass ein bestimmtes Telefonat ausschließlich Themen aus diesem Kernbereich zum Gegenstand haben wird? Nach dieser Regelung würde schon eine beiläufige Bemerkung über das Wetter dem intimen Gespräch eines Liebespaares den Schutz durch die Menschenwürdegarantie entziehen. Das Postulat des Bundesverfassungsgerichts wird damit in der Praxis zur Bedeutungslosigkeit verdammt.

Auch rückt die Möglichkeit der vom Gericht inkriminierten Totalüberwachung einschließlich der Erstellung detaillierter Persönlichkeitsprofile immer näher. Die aus Telekommunikationsüberwachungen gewonnenen Informationen können künftig kombiniert werden mit Daten über die individuelle Computernutzung, sei es aufgrund der Vorratsdatenspeicherung oder des heimlichen Zugriffs auf die Festplatte per „Online-Durchsuchung“, möglicherweise noch ergänzt durch Bewegungsbilder auf der Grundlage einer Auswertung der Mautdaten, des Einsatzes der Kreditkarte sowie der Kontenbewegungen. Die verschiedenen gesetzlichen Regelungen und Entwürfe, die solche Überwachungsmaßnahmen – ganz „rechtsstaatlich“ – legitimieren sollen, sind selbst für Juristen nicht mehr überschaubar, geschweige denn für die betroffenen Bürger.

Kriegsrecht statt Grund­ge­setz?

Weniger als zwei Jahre nach seinem Urteil zum Lauschangriff sah sich das Bundesverfassungsgericht ein weiteres Mal veranlasst, dem Bundesgesetzgeber eine Missachtung der Menschenwürde zu attestieren. In seiner Entscheidung vom 15. 2. 2006 erklärte es die im Luftsicherheitsgesetz enthaltene Ermächtigung zum Abschuss von Verkehrsflugzeugen, die nach Einschätzung des Bundesverteidigungsministers als Terrorwaffe wie am 11. September 2001 eingesetzt werden sollen, für verfassungswidrig und nichtig. Der Staat, der durch den Abschuss eines von Terroristen entführten Flugzeugs die Tötung auch der unschuldigen Passagiere bewirke, so die Argumentation des Gerichts, behandle diese Passagiere als bloße Objekte seiner Rettungsaktion zum Schutze anderer. „Sie werden dadurch, dass ihre Tötung als Mittel zur Rettung anderer benutzt wird, verdinglicht und zugleich entrechtlicht; indem über ihr Leben von Staats wegen einseitig verfügt wird, wird den als Opfern selbst schutzbedürftigen Flugzeuginsassen der Wert abgesprochen, der dem Menschen um seiner selbst willen zukommt“ (Bundesverfassungsgericht 2006: 758).

In den Augen von Kritikern wie z. B. Christof Gramm, Referatsleiter im Bundesverteidigungsministerium, macht diese höchstrichterliche Entscheidung den Staat in solchen Situationen handlungsunfähig und wehrlos. In Extremlagen sei die Aufopferung des Lebens der einen im Namen der Gemeinschaftsgebundenheit aller Menschen durchaus zulässig (Gramm 2006: 661). Ebenso sieht es der Bonner Staatsrechtler Hillgruber: Wer bei Anschlägen solcher Art dem Staat die Hände binden wolle, ihn zur Untätigkeit verdamme, „betreibt, wenn auch unbeabsichtigt, das Geschäft der Terroristen“ (Hillgruber 2007: 217). Innenpolitiker der Regierungsparteien scheinen ähnlicher Auffassung zu sein. Während Innenminister Schäuble eine Ergänzung des Grundgesetzes fordert, um den „Rettungsabschuss“ terrorverdächtiger Flugzeuge legitimieren zu können, hält der innenpolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, Wiefelspütz, eine solche Verfassungsänderung für entbehrlich. In der Konsequenz sind sich beide weitgehend einig: Bei einer Flugzeugentführung wie in den USA im Jahre 2001 handele es sich um einen kriegerischen Akt bzw. einen „Quasi-Verteidigungsfall“, in dem die verfassungsrechtlichen Grenzziehungen des Bundesverfassungsgerichts nicht gelten würden. Stattdessen käme das Kriegsvölkerrecht zur Anwendung, das auch die Tötung unschuldiger Passagiere eines als Angriffswaffe missbrauchten Verkehrsflugzeugs als „Kollateralschaden“ nach Maßgabe des Verhältnismäßigkeitsprinzips zulasse (Wiefelspütz 2006: 71).

Burkhard Hirsch hat diese Auffassung mit Recht scharf kritisiert: Eine Regierung, die nach ihrem Ermessen das Kriegsrecht ausrufen könne, „erhebt sich über die Verfassung und macht aus den Bürgern Untertanen“ (Hirsch 2007: 134). In der Tat zeitigt die Gleichsetzung eines Terroraktes, und sei er noch so verheerend, mit einem kriegerischen Angriff auf die Bundesrepublik unabsehbare Konsequenzen für die rechtsstaatliche Verfassungsordnung. Im „Krieg gegen den Terror“ werden die grundrechtlichen Einhegungen der Staatsgewalt und selbst elementare Verfassungsgebote wie die Unantastbarkeit der Menschenwürde flugs beiseite geschoben. Menschenleben werden zu bloßen Rechenposten degradiert, es regiert die zynische Ökonomik globalen militärischen Denkens. Carl Schmitt, der Verklärer des Ausnahmezustandes, lässt grüßen: „Die Existenz des Staates bewährt hier eine zweifellose Überlegenheit über die Geltung der Rechtsnorm. Die Entscheidung macht sich frei von jeder normativen Gebundenheit und wird im eigentlichen Sinne absolut“ (Schmitt 1934: 19).

Die Verfassung als lästige Kette

Schon vor einem Jahrzehnt führte der jetzige Bundesinnenminister und damalige Fraktionsvorsitzende von CDU/CSU Wolfgang Schäuble Klage über die angebliche „Konstitutionalisierung“ der Tagespolitik. „Die Verfassung ist immer weniger das Gehege, in dem sich demokratisch legitimierte Politik frei entfalten kann, sondern immer stärker die Kette, die den Bewegungsspielraum der Politik lahm legt.“ (Schäuble 1996).

Tatsächlich aber gehört es gerade zum Wesen einer Verfassung, die Staatsgewalt an die Kette zu legen, ihre Handlungsmöglichkeiten in – möglicherweise unbequeme – Schranken zu verweisen. Als Gegenmodell zum Absolutismus („princeps legibus solutus“) soll das moderne, auf den Ideen der Aufklärung und der sich durchsetzenden Herrschaft des Bürgertums fußende Verfassungsgesetz gerade das „Werkzeug rechtlicher Begründung und Mäßigung der Staatsgewalt und der Freiheit des einzelnen sein“ (Badura 1992: 166). Ihre Normativität für das staatliche Handeln müssen Verfassungen nicht nur im Sonnenschein eines gemächlichen Alltags, sondern auch im Unwetter einer Krisensituation behaupten. „Die Verfassung geht auf unbedingte Geltung aus“, schreibt der konservative Staatsrechtler Isensee richtig. „Sie will rechtliche Grundordnung des Staates sein, nicht nur unter den Bedingungen der Normalität, sondern auch im Ernstfall“ (Isensee 2004: 99).

Freilich enthält der Normtext von Verfassungen nicht für alle Entscheidungssituationen immer eine eindeutige Antwort; für viele Fragen der Regierungs- und Verwaltungspraxis bildet sie nur eine Rahmenordnung. Es kommt hinzu, dass viele Begriffe in den Rechtsnormen sprachlich nicht eindeutig sind, sondern unterschiedliche Konkretisierungen zulassen. Das Problem der Interpretation von gesetzlichen Bestimmungen hat schon Generationen von Juristen beschäftigt. Dem Bundesverfassungsgericht kommt dabei allerdings eine besondere Vorrangstellung zu. Seine Entscheidungen „binden die Verfassungsorgane des Bundes und der Länder sowie alle Gerichte und Behörden“, wie es in § 31 des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes lapidar heißt.

Aber wie kann das höchste deutsche Gericht sicherstellen, dass seine Entscheidungen von den politisch Verantwortlichen auch wirklich nach Geist und Buchstaben befolgt werden? Da es über keine Gerichtsvollzieher verfügt, die Urteile notfalls mit Zwang durchsetzen, ist es auf die Akzeptanz seiner Adressaten angewiesen. Diese sind aber häufig gerade die Inhaber der staatlichen Zwangsgewalt selbst. Die daraus resultierende Problematik hat der eingangs bereits zitierte ehemalige Verfassungsrichter Grimm präzise benannt: Es komme darauf an, dass sich die Bevölkerung mit der Verfassung identifiziere und Verfassungsverstöße politischer Instanzen nicht honoriere. „Für Politiker, die immer wieder in Situationen geraten werden, in denen die verfassungsrechtlichen Bindungen ihre politischen Pläne stören, darf es sich nicht rentieren, die Verfassung und das zu ihrer Durchsetzung berufene Gericht zu missachten. Das setzt eine Verwurzelung der Verfassung in der Gesellschaft einschließlich der politischen Eliten voraus, die selber nicht rechtlich garantiert, sondern nur kulturell erzeugt und bewahrt werden kann“ (Grimm 1997).

Wie weit der zuerst 1982 von Dolf Sternberger und später von Jürgen Habermas als Substitut für das „Vaterland“ propagierte Verfassungspatriotismus jenseits wohlfeiler Lippenbekenntnisse trägt, ist allerdings fraglich. In einer Medienwelt, die durch eine gezielte Personalisierung von Politik und die radikale Verkürzung komplexer Problemlagen auf Talkshow-Niveau gekennzeichnet ist, erscheinen nüchterne verfassungsrechtliche Regeln und Verbürgungen vielen Menschen als zu abstrakt und blutleer. Was haben diese Normen mit den eigenen Lebensbedingungen zu tun? Die Bürgerrechtsorganisationen hierzulande kennen dieses Vermittlungsproblem zur Genüge. Schließlich sind die Identifikationsangebote durch die ständige mediale Präsentation alter und neuer Stars oder durch „unsere“ Fußball-WM im Jubelsommer 2006 ungleich wirkmächtiger als ein trocken-abstrakter Verfassungstext. So bleibt die Empörung über Normverletzungen durch die Regierenden denn zumeist auf eine schmale bürgerrechtlich sensibilisierte Teilöffentlichkeit beschränkt – die Masse der Bevölkerung sorgt sich um andere Fragen.

Mehr Sicherheit durch weniger Freiheit?

Jedenfalls können die verantwortlichen Innenpolitiker offenbar erfolgreich die Vorstellung verbreiten, die angeblich überbordende Kriminalität und die Gefahr von Terroranschlägen ließe sich durch die Beschränkung bürgerrechtlicher Freiheit wirksam eindämmen – „wir“ als gute Bürger haben ja nichts zu verbergen! Dabei ist schon die empirische Basis der ständig wiederholten Propaganda für die Schaffung eines angeblich perfekten „Sicherheitsstaates“ recht dünn: Die polizeiliche Kriminalstatistik weist, abgesehen von der Zunahme nazistisch bzw. rassistisch motivierter Gewalt, einen Rückgang schwerer Straftaten aus. Nach der Einschätzung der Magdeburger Oberstaatsanwalts Breymann ist die moderne Risikogesellschaft der Bundesrepublik „keine besondere Kriminalitätsgesellschaft. Wir leben in einem der sichersten Staaten der Welt“ (Breymann 2006: 218).

Daran ändert auch der von Innenpolitikern immer wieder als Schreckensszenario beschworene internationale Terrorismus nichts. So furchtbar die Auswirkungen eines Terroranschlages vermittels einer versteckten Bombe oder eines entführten Verkehrsflugzeugs auch sind – die Wahrscheinlichkeit, Opfer eines solchen Anschlags zu werden, ist nach wie vor sehr gering. Eine absolute Sicherheit vor solchen Anschlägen würde im Übrigen selbst ein totaler Überwachungsstaat nicht gewährleisten können. Aber Politik mit der Angst lohnt sich zumal dann, wenn die reale Kriminalitätsbelastung im schroffen Gegensatz zur „gefühlten“ Bedrohung steht (Gössner 2007: 19 ff.). Durch die Verabschiedung immer neuer Kriminalitäts- oder Terrorismusbekämpfungsgesetze sowie die Schaffung neuer Straftatbestände lässt sich gegenüber einem verunsicherten Publikum Entschlossenheit und Durchsetzungsfähigkeit des um den Schutz seiner Bürger sich sorgenden Staates demonstrieren, während zugleich sozialstaatliche Sicherungssysteme abgebaut werden (Singelnstein/Stolle 2006: 52).

Der dabei ständig bemühte Begriff der „Inneren Sicherheit“ ist allerdings gleich in zweifacher Weise verkürzt: Ausgeblendet bleibt zum einen die ökonomische Sphäre: Das verbreitete Gefühl von Unsicherheit wird nicht allein durch die Angst, Opfer von Verbrechen zu werden, erzeugt, sondern ebenso durch die Sorge um den Erhalt des Arbeitsplatzes, des sozialen Status und des soziokulturellen Umfelds.

Zum anderen wird von den Protagonisten wie Schäuble verschwiegen, dass Maßnahmen des Staates nicht nur das Maß an Sicherheit erhöhen, sondern diese auch gefährden können. Wenn niemand mehr sicher sein kann, von staatlicher Überwachung verschont zu bleiben, wird statt Sicherheit „Unsicherheit durch Unberechenbarkeit staatlicher Gewalt“ (Hohmann -Dennhardt 2003: 109) geschaffen. Dies wirkt sich nicht nur auf das Verhalten des Einzelnen aus, sondern beeinträchtigt auch die Funktionsbedingungen von Demokratie, wie das Bundesverfassungsgericht in seinem Volkszählungsurteil von 1983 richtig erkannte: „Wer unsicher ist, ob abweichende Verhaltensweisen jederzeit notiert und als Information dauerhaft gespeichert, verwendet oder weitergegeben werden, wird versuchen, nicht durch solche Verhaltensweisen aufzufallen. Wer damit rechnet, dass etwa die Teilnahme an einer Versammlung oder einer Bürgerinitiative behördlich registriert wird und dass ihm dadurch Risiken entstehen können, wird möglicherweise auf eine Ausübung seiner entsprechenden Grundrechte (Art. 8, 9  GG verzichten“ (Bundesverfassungsgericht 1984: 422).

In der Sprache des europäischen Rechts richtet sich der Begriff „Sicherheit“ denn auch gegen den Machtmissbrauch des Staates. Die Gewährleistung von „Freiheit und Sicherheit“ in Art. 5 der Europäischen Menschenrechtskonvention und in Art. 6 der Europäischen Grundrechtecharta wird einhellig als Abwehrrecht gegen den Staat und nicht etwa, einer deutschen Lesart entsprechend, als „Grundrecht auf Sicherheit“ durch den Staat verstanden (Baldus 2006: 448 f.).

Die Ambivalenz staatlichen Handelns im Hinblick auf dessen Rolle als Beschützer sowie als Gefährder bürgerlicher Freiheit war auch schon dem liberalen preußischen Politiker und gelehrten Wilhelm von Humboldt bewusst, der unter der Ägide Otto Schilys gern als Kronzeuge für dessen Innenpolitik in Anspruch genommen wurde. Häufig zitiert wurde v. Humboldts Aussage: „Ohne Sicherheit vermag der Mensch weder seine Kräfte auszubilden noch die Früchte derselben zu genießen; denn ohne Sicherheit ist keine Freiheit“ (v. Humboldt 1967: 58). Gerne verschwiegen wurde dabei, dass v. Humboldt zugleich für eine Beschränkung des Staates auf das Notwendige plädierte: Beim Schutz der Sicherheit der Bürger müsse „allemal auf die Größe des zu besorgenden Schadens und die Wichtigkeit der durch ein Prohibitivgesetz entstehenden Freiheitseinschränkung“ Rücksicht genommen werden. „Jede weitere oder aus andren Gesichtspunkten gemachte Beschränkung der Privatfreiheit aber liegt außerhalb der Grenzen der Wirksamkeit des Staats.“ (v. Humboldt 1967: 128).

Literatur

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Gössner, Rolf 2007: Menschenrechte in Zeiten des Terrors. Kollateralschäden an der „Heimatfront“, Hamburg.

Gramm, Christof 2006: Der wehrlose Verfassungsstaat? Urteilsanmerkung zur Entscheidung des BVerfG zum LuftSiG vom 15. Februar 2006, in: Deutsches Verwaltungsblatt, 121. Jg., H. 11, S. 653-661.

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