Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 178: Vom Rechtsstaat zur Sicherheitsgesellschaft

Gefähr­lich­keit als iatrogene Krankheit

Die Sicherungsverwahrung befördert, wovor sie vorgibt zu schützen,

aus: vörgänge Nr.178, Heft 2/2007, S. 73-81

Populis­ti­sche Straf­rechts­ver­schär­fung

Mit dem Artikelgesetz vom 21.8.2002 (BGBl. I 3344) wurde durch § 66a StGB die Möglichkeit eines Vorbehalts späterer Anordnung der Sicherungsverwahrung in das Strafgesetzbuch eingefügt. Bereits die Verschärfung des § 66 StGB durch das Gesetz zur Bekämpfung von Sexualstraftaten vom 26.1. 1998 war eine populistische Reaktion symbolischer Politik auf die medial aufgebauschte Angst der Bevölkerung vor Sexualdelikten an Kindern gewesen. Ein Sexualmord an einem Mädchen hatte 2001 zu einer ähnlichen Kampagne geführt, die in dem von der BILD-Zeitung veröffentlichten Kanzlerwort „Wegschließen, und zwar für immer!“ gipfelte. Auch unter dem Druck der Opposition und angesichts der Wahl 2002 wurde daraufhin mit § 66a eine neuerliche Verschärfung erreicht.

Vorausgegangen waren mehrere derartige Gesetzesinitiativen der Opposition, die wegen verfassungsrechtlicher und rechtssystematischer Bedenken ebenso erfolglos waren wie der Versuch im EGStGB eine Ermächtigungsgrundlage für landesrechtliche Regelungen zu schaffen. Baden-Württemberg und Bayern erließen dann 2001, gefolgt von einigen anderen Bundesländern, auf polizeirechtlicher Grundlage Straftäterunterbringungsgesetze (StrUBG). Bekannt wurde nur ein einziger, letztlich wegen Verkennens der Anordnungsvoraussetzungen durch die JVA gescheiterter Anwendungsfall (OLG Karlsr. v.12.06.02 -3 Ws 127/02). Auch aus verschiedenen praktischen Gründen konnte der Gesetzeszweck nicht erreicht werden.[1] Das BVerfG entschied am 10.2.2004, dass die Straftäter-Unterbringungsgesetze verfassungswidrig sind (BVerfGE 109,190 =NJW 04,750). Dies geschah unmittelbar nach und inhaltlich verknüpft mit der Entscheidung vom 5.2.2004 (BVerfGE 109,133), welche die Verfassungsmäßigkeit der Aufhebung der 10-Jahresfrist (§ 67d III) betraf. In beiden Fällen herrschte ein massiver Druck der veröffentlichten Meinung. Anlässlich einer angeblichen Sexualstraftat durch einen gerade haftentlassenen Mehrfachtäter wurden in der BILD -Zeitung Bilder von mit Augenbalken unkenntlich gemachten BGH-Richtern gezeigt, versehen mit Schlagzeilen wie „Saustall Justiz“ und „Skandalrichter“.

Zentral war die Kompetenzfrage bei konkurrierender Gesetzgebung (Art. 74 GG). Sie wurde im Sinne der Bundeszuständigkeit entschieden. Dem ist zuzustimmen. Jedoch wurden die StrUBG nicht für nichtig, sondern nur für unvereinbar mit der Verfassung erklärt. Gegen die Mindermeinung von drei Verfassungsrichtern (BVerfGE 109, 244) konnte mithin aus pragmatischen Gründen die Weitergeltung der Ländergesetze bis zum 30.9.20 04 angeordnet werden. Mit der Senatsminderheit ist zu monieren, dass den Bundesländern damit ein Unterlaufen des verfassungsmäßigen Gesetzgebungsganges eröffnet wird. Zudem widerspricht sich die Senatsmehrheit: einerseits geht sie davon aus, der Bund könne und wolle – wie schließlich geschehen (siehe § 66b) – die isolierte nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung regeln, anderseits hatte sie bei der Auslegung von Art. 74 angenommen, der Bund habe durch Nicht-Regelung derselben abschließend entschieden.[2]

Prompt wurde dann, in schneller Reaktion auf die lediglich kompetenzrechtlich begründete Feststellung der Verfassungswidrigkeit der Ländergesetze durch das Bundesverfassungsgericht, durch Art. 1 Nr. 2 des Gesetzes vom 23.7.20 04 (BGBl. I 1838) der § 66b eingefügt. Gegenüber dem ursprünglichen Entwurf des BMinJ v. 11.3.2004 (BRDrs.202/04) und des RegE (BTDrs.15/2887) wurde die Endfassung aufgrund des Beschlusses des Rechtsausschusses geringfügig verschärft (BTDrs.15/3346). Beide Vorschriften erscheinen in hohem Maße kritikwürdig.[3]

Kritik des neuen § 66 a StGB

Als Gesetzeszweck wird angegeben, im Interesse potenzieller Opfer eine Schutzlücke füllen zu müssen. Diese wird darin gesehen, dass sich die Gefährlichkeit eines Straftäters erst nach der Verurteilung bzw. während der Strafhaft herausstellt (BTDrs.14/8586; BRDrs.504/02). Darin, dass solche „Altfälle“ möglicherweise entlassen werden müssen, wird ein Sicherheitsdefizit gesehen, weil das Strafurteil eine Sperrwirkung entfaltet. Zur Anwendung kommen sollen aber dieselben rechtsstaatlichen Standards wie bei sofortiger Anordnung nach § 66 (BTDrs.14/8586 u. BRDrs.504/02). Insofern entschied sich der Gesetzgeber gegen das Bundesrat -Modell eines mit geringeren Verfahrensgarantien ausgestattetes Verfahren der Strafvollstreckungskammer.

Die Verschärfung des Rechts der Sicherungsverwahrung durch eine weitere, noch schärfere Möglichkeit der Unterbringung ist im Kontext der punitiven Wende der 90er Jahre und des verselbständigten Sicherheitsdiskurses zu sehen.[4] Mangels klarer eigener moderner kriminalpolitischer Konzeption handelte die Regierungskoalition ohne Not unter dem Druck der Boulevard-Medien und der konservativen Bundesratsmehrheit. Dieser Wandel führt zu einer weiteren Erosion des Resozialisierungsprinzips, welches aus Sicht differenzierender und interdisziplinärer Wissenschaft eigentlich mehr denn je im Sinne normativer wie empirischer Rationalität Geltung behalten müsste. Zumindest hätte man im Sinne der Überprüfungspflicht des Gesetzgebers die Vorschrift als befristetes Zeitgesetz ausgestalten müssen, um eine sinnvolle Evaluation zu ermöglichen.

Die behauptete Gesetzeslücke ist im Übrigen unerheblich, falls es sie überhaupt gibt.[5] Die Gesetzesmaterialien enthalten keine Hinweise auf empirische Untersuchungen oder rechtstatsächliche Erkenntnisse. Nur auf „seltene Ausnahmefälle“ und eine außerordentlich geringe „Anzahl der voraussichtlich betroffenen Personen“ wird hingewiesen (14/8586 S.2). Für die im Gesetzgebungsverfahren aufgestellte Behauptung, viele Verbrechen hätten vermieden werden können, wenn die nachträgliche Sicherungsverwahrung schon früher möglich gewesen wäre (BT-Pl.-Prot. 228.Sitzg. v. 22.03.02, S.22697), fehlen Belege.

Alarmierend sind insbesondere die durch dieses Gesetz aufgeworfenen verfassungsrechtlichen Probleme. Sie bleiben es auch nach der Feststellung der Verfassungsmäßigkeit durch das Bundesverfassungsgericht (BVerfGE 109,190).

Zunächst: Das zweiaktige Verfahren, die Zweiteilung der Entscheidung entspricht nicht den Anforderungen, wie sie vom BVerfG für den strukturell vergleichbaren Fall der Entscheidung über die Aussetzung der lebenslangen Freiheitsstrafe normiert worden sind.[6] Das ist ein Systembruch, denn an die Stelle des reaktiven Tatstrafrechts mit Schuldausgleich und endgültiger Erledigung durch Strafverbüßung tritt die kontinuierliche, potentiell endlose Verwahrung. Damit wird eine Umgehung, ein funktionales Äquivalent eingerichtet für die verfassungswidrigen Sanktionsformen der lebenslangen und unbestimmten Freiheitsstrafe. Faktisch ist das eine weitere Stufe der Verpolizeilichung und präventionsorientierten Verselbständigung eines Strafrechts der euphemistisch so genannten „Verbrechensvorsorge“, ja für eine Aufhebung der klassischen und rechtsstaatlich so bedeutsamen Trennung von Polizei- und Strafrecht.

Das aufwändige Verfahren – systemwidrig nicht in §§ 67ff., sondern in der Anordnungsnorm selbst geregelt – ist in der Praxis äußerst unzweckmäßig und sperrig. Es führt zu einer problematischen Auflockerung der Justizpraxis, weil flexible, hinhaltende Entscheidungen möglich werden. Vorhersehbar ist entweder – bei einer vorrangig am Begriff der Sicherheit orientierter Auslegung – eine tendenziell uferlose Anwendung, oder – bei einer an Resozialisierung orientierter Auslegung – Ausweichstrategien, jedenfalls Ungleichbehandlung und Unkalkulierbarkeit, unnötige Verlängerung und Verteuerung der Verfahren.

Zwar lässt sich bei vorbehaltener Sicherungsverwahrung ein Verstoß gegen das Rückwirkungsverbot (Art. 103 II GG) wohl nicht begründen. Wegen des verfassungsrechtlich umstrittenen § 2 VI StGB, und des Fehlens einer Übergangsvorschrift sollte die Vorschrift aber nur dann Anwendung finden, wenn der Täter eine der Straftaten der in § 66 III bezeichneten Art nach dem In -Kraft-Treten von § 66a begangen hat.[7]

Zu bejahen ist jedoch ein Verstoß gegen das Bestimmtheitsgebot (Art. 103 III GG). Bisher ist verfassungsrechtlich ungeklärt, ob das Gebot auch für Maßregeln der Besserung und Sicherung gilt (Unentschieden BVerfG, NJW 2002,1779 m. Anm. Kinzig 2001). Faktisch erhält die auf klassische Beweismittel gestützte „Gesamtwürdigung des Verhaltens und der Entwicklung während des Strafvollzuges“ die Qualität eines Tatbestandsmerkmals, das unmittelbar die gravierendste Rechtsfolge des Strafrechts auslöst. Dessen Anwendung hängt nicht etwa von einer methodengerechten Auslegung des Rechtsbegriffs ab, sondern von diffusen Wertungsgesichtspunkten der judizierenden Persönlichkeit. Das erscheint, unabhängig von der Prüfung des Verhältnismäßigkeitsprinzips, rechtsstaatsprinzipiell unerträglich (ähnl. Kinzig 2002, Rzepka 2003, 2004).

Auch wenn man im Einklang mit dem BVerfG dem an sich schon höchst problematischen Rechtsinstitut der Sicherungsverwahrung (dazu Nomos Kommentar, Böllinger-Pollähne § 66) zubilligt, nicht grundsätzlich gegen das Verbot der Doppelbestrafung zu verstoßen, so ist doch die nachträgliche Anordnung auch als vorbehaltene eine zusätzliche und härtere, weil unvorhersehbare, unbefristete und deshalb noch deutlicher Übel zufügende Sanktion für Fehlverhalten im Vollzug. Zwar hat das BVerfG die Anordnung der Maßregeln der Besserung und Sicherung gleichzeitig mit der Verurteilung zur Schuld angemessenen Strafe für verfassungsgemäß erklärt (BVerfGE 55, 28). Es verstößt jedoch gegen die Menschenwürde, den Verurteilten in eine derartige Ohnmacht- und Unsicherheitsposition zu bringen.

Ein rechtssystematischer Gesichtspunkt ergibt sich aus dem Jugendstrafrecht. Dort wird von weiten Teilen der Lehre vertreten, dass die Kumulation von Aussetzung der Verhängung von Jugendstrafe gem. § 27 JGG und der Anordnung von Jugendarrest gegen das Doppelbestrafungsverbot verstößt.[8]

Auch ein Verstoß gegen die Unschuldsvermutung kann in § 66a gesehen werden: Ob das Prinzip „in dubio pro reo“ Verfassungsrang genießt, ist zwar noch nicht höchstrichterlich geklärt.[9] Nach herrschender Lehre ist dieser Grundsatz jedenfalls als verfassungsrechtlich verankerter „rechtsstaatlicher Fundamentalsatz“ anzusehen. Bei Anwendung des § 66a wird angesichts einer unsicheren Gefährlichkeitsprognose im Zweifel zu Lasten des Angeklagten entschieden. Dies müsste aus rechtsstaatlichen Gründen mithin zur Sperre führen, wenn der Wahrscheinlichkeitsgrad nicht an Sicherheit grenzt, was allerdings für Verhaltensprognosen undenkbar ist. Diese Sperrwirkung müsste dann auch für Prognoseentscheidungen gelten, wodurch das gesamte freiheitsentziehende Maßregelrecht ausgehebelt würde. Dies zu klären muss der weiteren Diskussion überlassen werden.[10]

Zu bejahen ist jedenfalls ein Verstoß gegen das Verhältnismäßigkeitsprinzip gemäß § 62 durch Eingriff in das Freiheitsrecht aus Art. 2 II 2 i. V. m. Art 104 II GG. Angesichts des ultima -ratio-Charakters der Sicherungsverwahrung sind hier die Anforderungen hoch anzusetzen. Zwar mag unbefristetes Wegsperren geeignet sein, im Sinne einer Minderung des Rückfallrisikos. Die Geeignetheit muss sich aber auf den expliziten, spezifischen Gesetzeszweck beziehen, wirklich gefährliche Straftäter auch dann noch herauszufiltern, wenn ihre Gefährlichkeit vorher nicht erkennbar war. Hier liegt das Hauptproblem der Vorschrift: Aus Verhalten und Entwicklung des Täters im Vollzug kann grundsätzlich keine verlässliche Gefährlichkeitsprognose abgeleitet werden, welche eine derart schwerwiegende Rechtsfolge legitimiert.[11] Schon in normativer Hinsicht ist denn auch zu kritisieren, dass der in der Vorschrift gebrauchte Begriff der Prognose – „…dass von ihm erhebliche Straftaten zu erwarten sind“ – zu unbestimmt ist. Aus empirischer Sicht hat das Verhalten im Strafvollzug, von extremen Ausnahmefällen abgesehen – z.B. schwere Straftaten während der Haft -, wenig Aussagekraft. Es kann sogar diagnostisch und prognostisch irreführen. Maßgeblich dafür ist eine Fülle von spezifischen, miteinander in Wechselwirkung stehenden Faktoren, darunter zentral die universelle Institutionsdynamik der „totalen Institution“ (Goffmann). In deren Rahmen können zwischenmenschliche Prozesse in vieler Hinsicht entgleisen und eskalieren. Dies zeigt sich auf Seiten der Gefangenen in reaktivem Affektstau und Impulsdurchbrüchen („Knastkoller“), welche nicht unbedingt typisch bzw. nicht prognostisch relevant sind für das Verhalten in Freiheit. Auf der Seite des Stabes resultieren Vorurteile und vordergründige Entscheidungskriterien, welche wiederum von Angst und Wutaffekten kodeterminiert sein können. Auch situative Faktoren und strukturelle Bedingungen, auf die der Gefangene keinen Einfluss hat, tragen zum destruktiven Zirkel bei, z.B. das Fehlen von Ausbildungs- und Arbeitsmöglichkeiten, Therapieangeboten oder therapeutischer Kompetenz ebenso wie ein besonders repressives, kommunikationsarmes Haftklima und anstaltsspezifische Haftbeschränkungen. Ohnehin ist die Wirksamkeit sozialtherapeutischer Maßnahmen um stritten. Der Gesetzgeber müsste erst für eine Ausweitung qualifizierter Therapiemöglichkeiten sowie für ausreichende Weiterbildungsangebote sorgen. So haben derzeit nur wenige Psychologen im Strafvollzug die für die Ausübung von Heilkunde erforderliche Approbation nach dem PTG (vgl. Guggenheim RuP 3/2004).

Die neue Variante der Sicherungsverwahrung kann zur „selffulfilling prophecy“ werden: sie entfaltet aller Voraussicht nach durch eine Klimavergiftung kontraproduktive Auswirkungen auf Vollzug und dessen gesetzlichen Resozialisierungsauftrag. Ein mit Vorbehalt der Sicherungsverwahrung ausgestatteter Verurteilter trägt von vornherein ein zusätzliches Stigma als „Risikogefangener“ oder „potenziell gefährlicher Hangtäter“. Er erhält vermutlich keine Lockerungen. Mangels rechtzeitiger Möglichkeit der Einleitung der Bewährungsaussetzung sind ein sinnvoller Vollzugsplan und Entlassungsvorbereitung nicht möglich. Unvorbereitete Entlassung fördert dann wieder das Rückfallrisiko. Es entsteht ein bedingungsloser Druck, Therapie zu machen, um nicht die Chance auf Entlassung zu vergeben oder als „nicht therapiewillig“ zu gelten und so erst recht die Anordnung zu erhalten.

Bei Persönlichkeitsgestörten wird der innerpsychische Konflikt, die Spaltung von „innerem Guten“ und „externen Bösen“ dynamisiert. Dies kann während des Vollzugs aufgrund der für Persönlichkeitsstörungen spezifischen Pseudo-Anpassungsfähigkeit zu „falsch negativen“ Prognosen führen. Nach Entlassung und mangels adäquater Nachsorge folgen dann die narzisstische Krise und der Zusammenbruch.[12]

Zu verneinen ist auch die Erforderlichkeit. Schon jetzt ist deutlich, dass der Opferschutz durch diese Vorschrift nicht signifikant verbessert wird. Einerseits zeigt die Verbrechensstatistik in 25 Jahren eine 30prozentige Abnahme von Sexualdelikten (einschließlich Kindesmissbrauch) und eine 20prozentige Abnahme von Tötungsdelikten, insbesondere bei den sexuell konnotierten Tötungen. Im Übrigen wird nur ein geringer Teil der – ohnehin statistisch seltenen – einschlägigen Delikte von Strafentlassenen begangen, der überwiegende Anteil hingegen von Ersttätern. Statistisch hat zwar die registrierte Gewaltkriminalität zugenommen. Abgesehen von der definitorischen Unklarheit und Willkür bei der polizeilichen Registrierung spielt dafür in besonderem Maße die Delinquenz einer relativ kleinen Gruppe jugendlicher „Intensivtäter“ die wesentliche Rolle: eine Art subkultureller Binnenkriminalität, wo Täter- und Opferrolle nicht selten ausgetauscht werden. Sozialpolitische Maßnahmen wären hier die gebotene Alternative zum wirkungslosen, rein symbolischen Strafrecht.

Zudem hat der Gesetzgeber auch nicht berücksichtigt, dass es mit intensivierter und qualitativ verbesserter Führungsaufsicht, Therapieweisung, betreutem Wohnen, elektronischer Fußfessel etc. alternative, weit weniger einschneidende Interventionsmöglichkeiten gibt. Schließlich erscheint die Anordnung angesichts der methodologischen Probleme der Prognosestellung unangemessen.[13] Unter dem Druck einer populistischen Politik und der quotenversessenen Medien werden Gerichte verstärkt Vorbehalte aussprechen, um die Option offen zu halten. In vielen Fällen wird auch damit die Grenze zum Übermaß überschritten. Im Übrigen ist die Erforderlichkeit auch deshalb zu verneinen, weil ein funktionales Äquivalent zur Verfügung steht, das längst etabliert und wirklich rechtsstaatlich ist : das auch von der Anklagebehörde zu nutzende Wiederaufnahmeverfahren nach §§ 359ff. StPO. Immerhin wäre zu fragen, ob hier nicht ein Verstoß gegen Art. 5 I 2 EMRK vorliegt. Allerdings wäre dies wohl dogmatisch mit herrschenden Auslegungsmaßstäben schwer zu begründen.[14]

Kritik des neuen § 66b

Der neue § 66b ermöglicht die isolierte nachträgliche Unterbringung in der Sicherungsverwahrung ohne Vorbehalt des erkennenden Gerichts. Als Gesetzeszweck der weiteren Strafrechtsschärfung deklariert der Gesetzgeber, dass „im überragenden Interesse der Allgemeinheit an effektivem Schutz vor bestimmten hochgefährlichen Straftätern“ in Einzelfällen auch ohne Vorbehalt nach § 66a eine Inhaftierung über das Straf-Ende hinaus möglich sein müsse (BTDrs.15/2881). Diese angeblich weitere Schutzlücke wird dann gesehen, wenn das erkennende Gericht die Sicherungsverwahrung nicht nach § 66a vorbehalten hat und sich die Gefährlichkeit eines Straftäters erst während, „gegebenenfalls sogar erst gegen Ende“ der Strafhaft herausstellt. Zur Anwendung kommen sollen aber, so die salvatorische Klausel, dieselben rechtsstaatlichen Standards wie bei sofortiger Anordnung nach § 66 (BTDrs.14/8586 u. BRDrs.504/02). Auch diese behauptete Gesetzeslücke ist, falls es sie überhaupt gibt, angesichts einer geschätzten Fallzahl von weniger als 10 pro Jahr unerheblich.[15] Und die Gesetzesmaterialien enthalten auch diesmal keine Hinweise auf empirische Untersuchungen oder rechtstatsächliche Erkenntnisse (Dünkel 2004). Diese weitere Verschärfung des Rechts der Sicherungsverwahrung fügt dem repressiven Trend, der das Resozialisierungsprinzip erodieren lässt, eine weitere Facette hinzu. Er wird nunmehr ins Extrem getrieben durch den faktischen Grenzübergang zum reinen Polizeirecht.[16] Erneut handelte die rot-grüne Regierungskoalition ohne Not und gegen den Rat verfassungsrechtlicher sowie kriminologischer Experten und offenbar unter dem Druck des die Realität verleugnenden, symbolisch verselbständigten Sicherheitsdiskurses (Dünkel 2004).[17] Dieser Wandel führt unausgesprochen zur Erosion des Resozialisierungsprinzips, welches aus Sicht differenzierender und interdisziplinärer Wissenschaft mehr denn je normativ wie empirisch Geltung behält. Zumindest hätte man auch hier im Sinne der vom Verfassungsgericht anerkannten Überprüfungspflicht des Gesetzgebers die Vorschrift als Zeitgesetz ausgestalten müssen, um eine sinnvolle Evaluation zu ermöglichen.

Eine im negativen Sinne bahnbrechende Bedeutung erhält die Vorschrift durch die Verknüpfung mit § 275a V StPO: Mittels „Unterbringungsbefehls“ – eines ohne Expertenberatung eingeführten neuartigen und hoch problematischen Rechtsinstituts – können nun auch solche Verurteilten auf Dauer in „long stay“ -Einrichtungen weggeschlossen werden, die aufgrund einer Erledigungserklärung nach § 67d oder wegen Aussichtslosigkeit gem. § 64 II nicht länger im Maßregelvollzug zu verwahren sind. Die Neuregelung kann dazu missbraucht werden, sich „endlich“ schwieriger Patienten zu entledigen. Die Bereitschaft, auf eine Erledigung der § 63 -Unterbringung hinzuarbeiten, wird jedenfalls in den Konstellationen spürbar zunehmen, in denen die nachträgliche Sicherungsverwahrung plus Überbrückung durch Unterbringungsbefehl als „alternative“ Freiheitsentziehung zur Verfügung steht.

Gegen die Verfassungsmäßigkeit bestehen, über die bereits gegen § 66a geltend gemachte Kritik hinaus, wegen der völligen Entkoppelung vom eigentlich zu Grunde liegenden Strafurteil massive Bedenken. Schon hinsichtlich der rein funktionalen und faktischen Bedeutung gehört die Vorschrift ins Polizeirecht, denn sie regelt die Abwehr prognostizierter Gefahr. Dort wäre sie jedoch schlicht verfassungswidrig, weil außer-
halb jeglicher vorstellbaren Verhältnismäßigkeit. Eindeutiger noch als § 66a, verstößt § 66b gegen das Verbot der Doppelbestrafung, wobei die Übelszufügung durch eine unvermeidliche, der Resozialierungsfunktion des Strafvollzuges überhaupt nicht mehr genügende Vollzugspraxis, sowohl indirekt auf die Vortaten als auch direkt auf Fehlverhalten im Vollzug reagiert und damit das nemo-tenetur-Prinzip – das Grundrecht sich nicht selbst belasten zu müssen – verletzt. Es verstößt jedenfalls gegen die Menschenwürde, den Verurteilten trotz Schuldausgleichs durch Strafverbüßung in eine derartige Ohnmacht -und Unsicherheitsposition zu bringen.[18]

Während sich bei § 66a ein Verstoß gegen das Rückwirkungsverbot (Art. 103 II GG) wohl nicht begründen lässt, bewirkt die Entkoppelung durch § 66b eine echte verfassungswidrige Rückwirkung.[19] Zu bejahen ist darüber hinaus ein Verstoß gegen das Bestimmtheitsgebot (Art. 103 III GG) sowie gegen das Prinzip der Unschuldsvermutung.[20] Argumentierbar ist auch ein Verstoß gegen das Grundrecht auf körperliche und psychische Unversehrtheit (Art. 2 II 1 GG) sowie gegen das Prinzip nihil nocere: Der Staat darf seine Bürger nicht schädigen. Denn diese Vorschrift steigert auf Seiten des Verurteilten Unsicherheits- und Ohnmachtempfindungen und auf Seiten des JVA-Personals repressivere Verhaltensweisen. Damit wird der ohnehin unvermeidliche, dynamische Prisonisierungsprozess ohne Not und extrem unverhältnismäßig eskaliert. Das wiederum bewirkt ausnahmslos destruktive innerpsychische Prozesse im Gefangenen, welche sich als Depression, Affektstau und Impulsdurchbruch manifestieren können.
Insofern liegt dann in dem „Übel“ der Anordnung ein venire contra factum proprium durch den Staat. Das ohnehin fragile Vertrauen von – häufig persönlickeitsgestörten – Straftätern in die Resozialisierungsbereitschaft und -fähigkeit des Staates wird weiter untergraben oder es wird zumindest Stoff für neutralisierende Rationalisierungen geliefert.[21] Die Norm verstößt aus den schon betreffend § 66a genannten Gründen erst recht gegen das Verhältnismäßigkeitsprinzip, insbesondere durch den nicht legitimen Eingriff in das Freiheitsrecht aus Art. 2 II 2 i. V. m. Art 104 II GG[22] Wegen der völligen Entkoppelung der isolierten Anordnung vom zu Grunde liegenden Strafurteil ist, anders als bei § 66a, auch ein Verstoß gegen Art. 5 I 2 E gegeben.[23]

Nachträg­liche Siche­rungs­ver­wah­rung nun auch für Jugend­li­che?

Zu allem Überfluss plant die derzeitige Justizministerin nun auch noch die Aushöhlung des resozialisierungsorientierten Jugendstrafrechts durch die Einführung der nachträglichen Sicherungsverwahrung auch für Jugendliche und Heranwachsende. Gemäß Referentenentwurf vom April 2007 soll § 7 Jugendgerichtsgesetz dahingehend geändert werden, dass bei schwer wiegenden Delikten Jugendlicher – insbesondere Tötung, Raub und Sexualdelikte – sowie Verurteilung zu mindestens 7 Jahren Jugendstrafe ein Wegschließen auf unabsehbare Zeit ermöglicht wird. Das wäre der Abgesang auf das „Erziehungskonzept“ des Jugendstrafrechts, das einstmals ein Meilenstein liberaler Strafrechtsreform war. Die Justizministerin beugt sich damit unverkennbar dem Druck des Populismus: der baden-württembergische Justizminister Goll (FDP) hatte bereits 2004 diesen Plan ins Spiel gebracht.

Krimi­nal­po­li­ti­sches Fazit

Die Vorschriften sind typische Beispiele für einen überschießenden Kontroll- und Ausschließungs-Furor, für eine oberflächliche, dysfunktionale, lediglich vermeintlichen Wählerinteressen entsprechende, symbolische Politik. Sie haben nicht nur keinerlei empirisch fassbaren Nutzwert, sondern haben mit Sicherheit negative Auswirkungen auf das Ziel der Resozialisierung. In noch gravierenderem Maße gilt dies für die geplante Einführung der Nachträglichen Sicherungsverwahrung für Jugendliche und Heranwachsende. Es wäre das Mindeste gewesen, diese Gesetze zum Zweck der Evaluation im Sinne der gesetzgeberischen Überprüfungspflicht als befristete Zeitgesetze auszugestalten.[24] Als kriminalpolitischen Konsequenz der hier vertretenen kriminalwissenschaftlichen und verfassungsrechtlichen Einsichten ist zu erhoffen, dass die Gerichte, die vielleicht weniger im Rampenlicht der veröffentlichten Meinung agieren, im Sinne der „Kann“-Regelung keinen Gebrauch von diesen Vorschriften machen.[25] Im – kaum zu erwartenden – Falle eines kriminalpolitischen Klimawandels in Richtung Versachlichung sollte die Streichung beider Normen – und möglichst auch des § 66 StGB – erfolgen. Auch besteht noch ein Rest Hoffnung, dass das Bundesverfassungsgericht wenigstens den gegen § 66b erhobenen verfassungsrechtlichen Bedenken Rechnung trägt.

[1] Im Detail: Ullenbruch 2002; Gang der Gesetzgebung: s. Tröndle/Fischer, 52. Aufl.,§ 66a Anm.1.

[2] Kinzig 2004.

[3] Siehe NK-Kommentierung Böllinger/Pollähne 2005.

[4] Bammann u.a. 2000.

[5] Asbrock 2002.

[6] Kinzig 2002.

[7] So auch Kinzig 2002, 2004; Rzepka 2003, 2004.

[8] Kinzig 2002; Rzepka 2003, 2004).

[9] Dazu: BVerfG Beschl. v. 4.2.97 – 2 BvR 122/97 unter Hinweis auf BVerfG NJW 88, 477.

[10] Vgl. Kin zig 2002, Fn.19, 20.

[11] So auch Dünkel 2004; Rzepka 2003, 2004.

[12] Ausführlich zu diesem Risiko: Böllinger 1998.

[13] Siehe zum zentralen Basisraten-Problem Kühl/Schumann 1989; Volckart 2003; Kinzig 2002, 2004.

[14] Kinzig 2002; Renzikowski 2004; Rzepka 2004.

[15] Asbrock 2002; Callies im Rechtsausschuss a.a.O..

[16] So auch Peglau 2002.

[17] Prot. Rechtsausschuss v. 5.5.04; s.a. Dünkel 2004.

[18] So auch Pieroth JZ 2002,926.

[19] So auch Dünkel 2004.

[20] Im Einzelnen § 66a Anm.5; Kinzig 2002; Rzepka 2003, 2004; Dünkel 2004; Braum 2004.

[21] Braum 2004.

[22] Darin einig mit Kinzig 2002; Rzepka 2003, 2004; Dünkel 2004.

[23] So auch Kinzig 2002; Rzepka 2003, 2004; Renzikowski 2004; Pieroth a.a.O.; a.A. Peglau 2001.

[24] Bammann u.a. 2002; Braum 2004.

[25] In diesem Sinne kann die Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom Nov. 2005 verstanden werden (AZ: 2 StR 272/05).

Literatur

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