Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 178: Vom Rechtsstaat zur Sicherheitsgesellschaft

Ein Staat mit Möglich­keits­sinn

Berthold Vogel sieht den Staat vor neuen Aufgaben,

Aus: vorgänge Nr.178, Heft 2/2007, S. 152-154

Unter dem Eindruck von Globalisierung und Transnationalisierung wurden in den letzten Jahren Spekulationen über das unmittelbar bevorstehende Ende des Staates, zumindest aber dessen weit reichenden Einflussverlust genährt. Das es sich dabei eher um einen tiefgreifenden Modellwechsel im Verhältnis von Staat und Gesellschaft handelt, erweist die gegenwärtig zu beobachtende Neujustierung wohlfahrtsstaatlicher Einflussnahme. Sie hat nichts mit staatlichem Interventionsverzicht oder einem generellen „Rückzug des Staates“ gemein, wie ein Blick auf die aktuelle Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik beweist.

Berthold Vogel Die Staatsbedürftigkeit der Gesellschaft; Hamburger Edition Hamburg 2007; 126 Seiten; 12 Euro.

Das „spannungsreiche Verhältnis von Staat und Gesellschaft“ bildet das zentrale Thema der jüngsten Publikation des Hamburger Soziologen Berthold Vogel. Im Unterschied zur lange Zeit dominanten „Staatsvergessenheit“ der Soziologie, plädiert dieser mit Nachdruck dafür, das Soziale wieder stärker vom Staat her zu denken und zu analysieren. Die von Vogel eingenommene Perspektive fokussiert die Auswirkungen und Folgen staatlicher Interventionen auf die Gestalt des gesellschaftlichen Ungleichheitsgefüges und analysiert, wie sich dieses im Zuge wohlfahrtsstaatlicher Transformationen wandelt.

Ausgerüstet mit der bei Ernst Forsthoff entliehenen Formel der Staatsbedürftigkeit der Gesellschaft beleuchtet Vogel den Zusammenhang von wohlfahrtsstaatlicher Transformation, arbeitsweltlicher Dekonstruktion und deren „ungleichheitsverstärkenden Konsequenzen“. Dazu verknüpft er die politikwissenschaftliche Wohlfahrtsstaatsforschung mit einer Soziologie sozialer Ungleichheit. Anstelle einer rein typenbildenden Analyse – wie Vogel sie an Esping-Andersen kritisiert – öffnet er den Blick auf die sozialen Kämpfe und Konflikte, die um staatliche Begünstigungen und Vorteile geführt werden. Aus dieser Perspektive erscheint der Wohlfahrtsstaat als „politisches Ordnungsmodell des Sozialen“, das eine formative Wirkung auf die gesellschaftliche Sozial -und Ungleichheitsstruktur entfaltet, in dem es Privilegien gewährt oder vorenthält, Aufstiegschancen bestimmter Gruppen begünstigt und andere benachteiligt. Als Folge des Transformationsprozesses vom „sorgenden“ zum „gewährleistenden“ Wohlfahrtsstaat konstatiert er strukturelle Verschiebungen in der deutschen Mittelstandsgesellschaft. Deren Merkmale waren eine Expansion von Bildungseinrichtungen und sozialen Sicherungssystemen. Der mit den rot-grünen Sozial- und Arbeitsmarktreformen begonnene Umbau des deutschen Wohlfahrtsstaatsmodells gefährdet nun diese einstigen Aufstiegswege und Privilegien der Mittelklassen. In Konfrontation mit sozialen Abstiegsängsten, Wohlfahrtseinbußen und drohenden Statusverlusten wird die breite Mittelschicht der Verwundbarkeit ihrer sicher geglaubten gesellschaftlichen Stellung gegenwärtig . Sie erkennt, in welchem Ausmaß ihre Position von den Leistungen des ‚ sorgenden Staates‘ abhängig gewesen ist.

Aber nicht allein die abstiegsbedrohten Mittelklassen entdecken die gesellschaftliche Staatsbedürftigkeit. Im Angesicht des folgenreichen Umbaus des deutschen Wohlfahrtsstaates kehrt der Staat als „Denkkategorie und Ordnungsvorstellung des Sozialen“ in die politischen, publizistischen und auch wirtschaftlichen Debatten um dessen zukünftige Gestalt zurück. So überraschten die Diskussionen auf dem diesjährigen Weltwirtschaftsgipfel im schweizerischen Davos, bei denen, angesichts einer steigenden Zahl von Globalisierungs- und Modernisierungsverlierern, der Ruf nach mehr staatlicher Fürsorge und einer stärkeren Besteuerung der finanziell Bessergestellten laut wurde.

Die Staatsbedürftigkeit der Gesellschaft scheint immer dann bewusst zu werden, vermutet Vogel, wenn Staat und Gesellschaft in ein problematisches Verhältnis zueinander treten. Gegenwärtig besteht diese Problematik in der Brüchigkeit des einstigen Erfolgsbündnisses aus expansiver staatlicher Sicherung und der arbeitsrechtlich geschützten Erwerbsgesellschaft.

Der „gewährleistende Staat“ mit seiner Abkehr vom Prinzip der Status- und Lebensstandardsicherung auf der einen und die Prekarisierung der Arbeitswelt auf der anderen Seite produzieren neue Unsicherheitslagen und -gefühle, die ihre Wirkmächtigkeit bis weit in die „Zone der Integration“ (Castel) hinein entfalten. Anstelle eines fürsorgenden Engagements mit weit reichender staatlicher Absicherung fordert und fördert der „Gewährleistungsstaat“ nun vermehrt private Eigeninitiative und garantiert nur noch eine einheitliche finanzielle Grundsicherung. Diese Veränderungen im Leistungsniveau des Staates bleiben, wie Vogel hervorhebt, für das „soziale Ganze“ nicht folgenlos. Als zentrale Felder, auf denen diese Veränderungen sichtbar wer den, nennt er beispielhaft die sukzessive Umwandlung von Wohlfahrtsverbänden in „Sozialkonzerne“ sowie die voranschreitende Entgrenzung und Flexibilisierung des Arbeitsrechts.

Um ein wissenschaftlich differenziertes Bild der Folgen dieser Entwicklungen zu zeichnen, hält Vogel es für unabdingbar, die Klasseneffekte der „Institutionenfortbildung“ (Schelsky) des deutschen Wohlfahrtsstaatsmodells in den Blick zunehmen. Für die damit verbundene „sozialstrukturelle Frage“ nach den Orten gesellschaftlicher Ungleichheiten, so bemängelt er, ist die sozialwissenschaftliche Analyse allerdings nur unzureichend gerüstet. Seiner Einschätzung nach scheint das aus Frankreich stammende und auch in Deutschland kontrovers diskutierte Konzept sozialer Exklusion noch der Zeit des golden age of capitalism anzugehören, in der sich eine klare Trennlinie zwischen einer Mehrheit an Gewinnern und einer Minderheit an Verlierern ziehen ließ. Für die zwischen diesen beiden Polen expandierende gesellschaftliche Übergangszone dagegen ist der Exklusionsbegriff weitgehend blind.

Um die „Fallstricke des Exklusionsbegriffs“ (Castel) zu vermeiden und „den Blick auf die sozialen Zwischenräume und die biographischen Übergangszonen“ zu lenken, operiert Vogel stattdessen mit den Begriffen der „Verwundbarkeit“ (Castel) und des „prekären Wohlstands“ (Hübinger). Als Prozessbegriffe analysieren beide Konzepte prekarisierte Erwerbsbiographien und fokussieren damit Abstiegsszenarien, die in der Mitte der Gesellschaft ihren Ausgang nehmen, aber nicht nahtlos in soziale Ausgrenzung münden. Vielmehr handelt es sich bei den untersuchten Lebenslagen um einen sozialen Schwebezustand, der Stillstand ebenso wie Auf- und Abstiegsbewegungen kennt. Diese Uneindeutigkeiten versuchen die beiden Begriffe zu konzeptualisieren: Der Begriff „sozialer Verwundbarkeit“ zielt auf die – im Prekarisierungsdiskurs gegenwärtig nur unbefriedigend entfaltete – Vermittlung zwischen strukturellen Unsicherheiten auf der einen und individuellen Fähigkeiten, diese Risken zu be- und verarbeiten auf der anderen Seite. Der Begriff des „prekären Wohlstands“ dagegen, der als Kategorie seit 2002 in den Sozialbericht des Statistischen Bundesamts Eingang gefunden hat, nimmt Einkommenszonen zwischen „verfestigter Armut und gesicherten Wohlstandspositionen“ in den Blick und interessiert sich folglich für die Prekarität des Wohlstandes.

Bei diesen Entwicklungen handelt es sich jedoch nicht um einen „universalen Trend“ hin zu immer mehr Risiko und Unsicherheit. Vogel redet nicht einer einseitigen Verfallsperspektive das Wort, sondern verweist zu Recht darauf, dass die gesellschaftlichen Veränderungen ebenfalls aussichtsreiche, wenn auch riskante Chancen bergen. Zu den GewinnerInnen der aktuellen Entwicklungen zählen nicht zuletzt jene ArbeitnehmerInnen, die mit dem Leitbild des flexiblen, aktiven und eigenverantwortlichen Arbeitskraftunternehmers – wie es von G. Günter Voß und Hans J. Pongratz untersucht wird – erfolgreich umzugehen wissen.

Den konzeptionellen Vorschlägen für eine adäquate Erforschung der aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen stellt Vogel politische Empfehlungen zur Seite. Die positiv verwendete Formel von der Staatsbedürftigkeit der Gesellschaft dokumentiert seinen normativen Anspruch einer nach wie vor möglichen Gestaltbarkeit des Sozialen qua politischer und rechtlicher Intervention. Der von ihm skizzierte gesellschaftliche Wandel ist nicht Ergebnis eines naturgesetzlich ablaufenden Prozesses, des „Juggernaut Wagens der Globalisierung“ (Giddens), sondern „Resultat politischer und gesetzgeberischer Reformvorstellung.“ Diese reformerische Kraft muss sich nach An sicht Vogels nicht allein der „Abstiegsverhinderung“ der Mittelklassen, sondern auch wieder stärker der allgemeinen „Aufstiegsermöglichung“ zuwenden, um die drei zentralen Versprechen wohlfahrtsstaatlicher Gesellschaften auf sozialen Aufstieg, Fairness und soziale Sicherung faktisch einlösen zu können. Neben einer Stärkung der Hilfebedürftigen in den sozialen Randlagen plädiert Vogel daher für die „Herstellung sozialer Durchlässigkeit als Vitalitätsprinzip freier und offener Gesellschaften.“

Auf die empirische Einlösung von Vogels zentralen Thesen zum Zusammenhang von politischer Gestaltung und sozialem Strukturgefüge darf man gespannt sein.

Allerdings ist sicherlich ein Schwachpunkt der vorgelegten Studie, dass die Verbindung von strukturellen Unsicherheiten und deren subjektiver Bewältigung, zwischen objektiver und „gefühlter“ Prekarität, wie Vogel sie mit seinem Konzept „sozialer Verwundbarkeit“ nahe legt, weitgehend unausgeführt bleibt. Zudem hätte man sich von einem Autor, dessen erklärtes Vorhaben es ist, das Soziale wieder verstärkt vom Staat her zu denken, konkretere politische Wegmarken und Handlungsimpulse gewünscht. Dennoch ist es ein rundum anregender und lesenswerter Beitrag.

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