Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 178: Vom Rechtsstaat zur Sicherheitsgesellschaft

Ordnungs­krise und Sicher­heits­plu­ra­li­sie­rung

Kriminalpolitik in der Reflexiven Moderne,

Aus: vorgänge Nr.178, Heft 2/2007, S.110-117

Ein Artikel zu “ Governance of Crime“ jagt den anderen. Verfolgt man die Literatur in einschlä­gigen krimi­no­lo­gi­schen Journalen, so erkennt man insbe­son­dere in der englisch­spra­chigen Literatur eine intensive Ausein­an­der­set­zung mit den politischen Steue­rungs­formen, die der Vorkehrung vor kleinen und großen Verbrechen (Stenson 2001) dienen. In den Kommentaren zur Explikation der gegen­wär­tigen Krimi­nal­po­li­tiken lässt sich ein Foucaul­t-­Ef­fekt erkennen; man bedient sich gerne des Begriffes der Gouver­n­men­ta­lität, einer Verknüpfung von „Regieren“ (gouverner) und bestimmten „Geis­tes­hal­tungen“ (mentalité) (Crawford 2006). Auch in der Krimi­no­logie hat die wechsel­sei­tige Bedingtheit von aktuellen Macht­tech­niken und Wissens­formen Hochkon­junk­tur. Autoren bestätigen einander in der Perspektive, dass Sicher­heits­po­litik eine Vielzahl an Führungs­in­sti­tu­ti­onen, Führungs­tech­niken und Rechts­formen umfasst, und der Leviathan der Moderne entmachtet wurde. Krimi­nal­po­litik und andere Sozial­po­li­tiken lassen sich darüber hinaus weder auf politisch-recht­liche noch auf ökonomische Prinzipien reduzieren. Die Insti­tu­ti­o­na­li­sie­rung von Versi­che­rungs­sys­temen, die Durch­drin­gung von ökono­mi­schem und sozialem Kapital, der Technik­fa­na­tismus der Sicher­heits­in­dus­trie und die Konsti­tu­ie­rung neuer Formen demokra­ti­schen Handelns wirbeln die Sicher­heits­po­litik der westlich-­li­be­ralen Staaten gehörig durch­ein­an­der.

In Beiträgen zur Kriminalpolitik wird versucht, Ordnung in dieses Regierungschaos zu bringen (Stenson & Sullivan 2001, Loader 2000). Dabei eröffnet der Bezug auf die Gouvernmentalitätsdiskurse die Fragen, wie sich die politischen Räume zwischen Öffentlichkeit und Privatsphäre und zwischen der Domäne des Staates und jener der Gesellschaft schließen lassen. Es stellt sich kurz gesagt die Frage: Wie wird Sicherheit in der neoliberalen Gesellschaft produziert?

Kriminologische Governance-Analysen sind systematische Beschreibungen zur Unterscheidung von Sicherheitspolitiken. Sie orientieren sich an Kriterien wie jenen, die Johnston und Shearing (2003) aufgestellt haben: Ein gemeinsames, normatives Verständnis von Ordnung in der Form von rechtlichen Bestimmungen oder impliziten, informellen Übereinkünften; die Definition von beteiligten Autoritäten, die bestimmte Politiken steuern; bestimmte Techniken und Institutionen zur Durchsetzung der Politiken; Mentalitäten, die für die soziale Konstruktion von Sicherheit und Ordnung herangezogen werden.

Auf der Basis dieses Gerüsts lassen sich dann konkrete Praktiken wie „Gated Communities“, „Zero Tolerance“, „Intelligence-led Policing“ oder kommunale Sicherheitspartnerschaften in der Form von kriminalpräventiven Räten beschreiben und interpretieren. Ebenso lässt sich die Auflösung von eindeutigen Zuständigkeiten der Polizei und die Durchdringung von privaten und öffentlichen sozialen Kontrollpraktiken nachvollziehen. Darüber hinaus wird auf die Verbreitung von Überwachungstechnologien im Rahmen von privatwirtschaftlich geführten Einkaufszentren, Flughäfen und Bahnhöfen, die unter dem Begriff „mass private property“ zusammengefasst werden, hingewiesen. Die sozialen Konsequenzen aus diesem Patchwork an Sicherheitspolitiken werden in vielen Arbeiten zu “ Governance of Security“ thematisiert.

Reflexive Moder­ni­sie­rung

Diesen politologisch orientierten Arbeiten, die auf die Reg(ul)ierung von Sicherheit im weitesten Sinn abzielen, soll in dieser Arbeit ein soziologischer Ansatz in der Form einer sozialen Gegenwartsdiagnose zur Seite gestellt werden. Ziel dieses Beitrags ist die fundierte Auseinandersetzung mit Sicherheitspolitiken unter Bezug auf Ideen und empirische Befunde, die aus dem Sonderforschungsbereich „Reflexive Modernisierung “ resultieren. Reflexive Modernisierung meint zweierlei: Erstens wurde schon in der Konzeption der „Risikogesellschaft “ von Ulrich Beck (Beck 1986) auf einen grundlegenden Strukturwandel, auf einen Übergang zu einer neuen Zeitepoche nach der Moderne hingewiesen. Zweitens wurden im Verlauf der vergangenen zwanzig Jahre Anstrengungen unternommen, um im Rahmen eines Sonderforschungsbereichs jene Thesen zur „Zweiten Moderne“ mit Arbeiten aus verschiedenen Wissensgebieten empirisch zu belegen (Beck und Lau 2004). Der Strukturbruch wurde anhand von Beispielen zur Familiensoziologie, Arbeitssoziologie, Umweltsoziologie, Medizinsoziologie und in verschiedenen Bereichen der Techniksoziologie erörtert (Beck 1993; Beck/Giddens/Lash 1996; Beck/Bonß 2001; Beck/Lau 2004). Eine Anwendung der Thesen auf die Kriminalsoziologie fehlt bis heute. Daher soll mit dieser Arbeit ein erster Versuch unternommen werden, die Diskurse zur „Reflexiven Modernisierung“ auch auf kriminalpolitische Entwicklungen anzuwenden. “ Die Theorie Reflexiver Modernisierung versteht sich als empirisch-analytische Theorie, mit deren Hilfe neuartige gesellschaftliche Entwicklungen identifiziert, kausal erklärt – und nicht zuletzt prognostiziert und möglicherweise in ihrem Verlauf verändert werden können.“ (Beck/Lau 2005, S. 109)

Auch Sicherheitspolitiken sind unter anderem die Folge von sozialstrukturellen Transformationsvorgängen. Unter Bezug auf jene Modernisierungstheorien kann gezeigt werden, wie sich neue Sicherheitspraktiken herausbilden konnten. Kern der Theorie Reflexiver Modernisierung ist eine gesellschaftliche Dynamik, die als Enttraditionalisierung im Sinne eines Meta-Wandels beschrieben wird.

Sozialer Wandel und nicht-in­ten­dierte Neben­wir­kungen

Eine zweite Grundannahme der Theorie Reflexiver Modernisierung ist, dass der gesellschaftliche Pluralismus durch den Modernisierungsprozess im Sinne einer Radikalisierung selbst hergestellt wird. Hier liegt eine Theorie sozialen Wandels vor, die den Prozess keineswegs bewusst oder gewollt, sondern eher unreflektiert und unbeabsichtigt als Nebenfolge einer Radikalisierung der Modernisierung beschreibt. Den Autoren, die sich mit diesem Ansatz befassen, erscheint es notwendig, die strukturellen Folgen des Modernisierungsprozesses in ein neues begriffliches Konzept der Moderne – eben der „Zweiten“ oder „Reflexiven“ Moderne – zu kleiden. Ulrich Beck spricht von einer „unreflektierten, gleichsam mechanisch – eigen dynamischen Grundlagenveränderung der entfalteten Industriegesellschaft, die sich im Zuge normaler Modernisierung ungeplant und schleichend vollzieht“ (Beck et al. 1996, S. 29). Der Übergang von einer Gesellschaftsepoche zur nächsten vollzieht sich unpolitisch, vorbei an allen politischen Entscheidungsforen und parteipolitischen Tagesordnungen. In dieser Interpretation der Modernisierung der Moderne (Beck und Bonß 2001) tritt der Gesellschaftswandel auch nicht aufgrund von Krisen oder wachsender Armut ein, sondern im Gegenteil – und wahrscheinlich deshalb so schleichend – durch wachsenden Reichtum und wirtschaftliche Prosperität. Er erfolgt weder durch einen öffentlichen Diskurs, noch durch eine revolutionäre politische Gegenbewegung, sondern durch die Potenzierung der modernen Entwicklung in den Industriegesellschaften. Folgt man diesem Gedanken, so kommt man zum Schluss, dass auch die neo -liberalen Sicherheitspolitiken in den westlichen Demokratien nur zum Teil auf rationale, parteipolitische Ideologien beruhen. Sie beschreiben vielmehr Nebeneffekte eines komplexen Gesellschaftswandels, der gewissermaßen über dem speziellen Politikfeld Sicherheit steht.

Auflösung von Eindeu­tig­keiten

Im Gegensatz zur industriellen Hochmoderne sind trennscharfe Grenzen zwischen Zuständigkeiten, Kompetenz und Verantwortung im Auflösen begriffen. Auf den Wohlfahrtsstaat ist ebenso wenig Verlass wie auf Handlungs- und Lebensformen seiner Gesellschaftsmitglieder. Lebensweisen, Arbeitsverhältnisse und wissenschaftliche Wahrheiten können unter dem neuen Schlagwort „prekär“ am besten erfasst werden. Menschen sind beschäftigt und trotzdem arbeitslos, sie arbeiten zu Hause und machen es sich in der Arbeit bequem. Die industrielle, fordistische Marktlogik ist mit der Durchdringung von privaten Unternehmungen und globalen Märkten nicht mehr aufrecht zu erhalten.

Die Prekarität des Sozialen hat alle Lebensbereiche erfasst: MigrantInnen der zweiten und dritten Generation sind Mitglieder mehrerer Gesellschaften und Kulturen. Die Prekarität des Wissens spiegelt sich in der Frage nach der Abgrenzung von natürlichen und gesellschaftlichen Phänomenen: Sportdoping, Klimawandel, Genfood und Pränataldiagnostik (Viehöfer et.al 2004) sind nur einige Beispiele für die verunsicherten Wissenschaften. Die Entweder-oder-Logik der Moderne wird zunehmend ersetzt durch eine
Sowohl-als-auch-Logik. Der gelebte Pluralismus scheint das Resultat von nebeneinander gelebten Möglichkeiten zu sein, wobei der Aushandlungsprozess sowohl politisch als auch gesellschaftlich-praktisch langwierig und unübersichtlich bleibt.

Auch für die Sicherheitspolitik gilt: Den politischen Herausforderungen kann nicht mehr mit den alten Antworten der Moderne begegnet werden: Sicherheit kann nicht mehr allein durch noch mehr Technik, mehr Märkte, mehr Konsum, mehr Wissensproduktion hergestellt werden. Auch in diesem politischen Segment haben die Grundinstitutionen der Moderne, also Konkurrenzdemokratie, Marktwirtschaft und Wohlstandsgesellschaft mit Massenkonsum keine ewige Bestandsgarantie mehr. Die politische Herausforderung liegt dabei im Aushandlungsprozess. Allerdings, und das unterscheidet diesen soziologischen Ansatz von den Governance-Ansätzen, handelt es sich nicht um eine zeitgeschichtliche Momentaufnahme zur Sicherheitspolitik, sondern um eine gesellschaftliche Dynamik, deren Ausgang in den Gesellschaften noch unklar ist. Im Gegensatz zu einer Marginalisierung der Pluralität in der Ersten Moderne wird Pluralität heute normalisiert, und das findet insbesondere seinen Ausdruck im gesamten Rechtssystem: im Arbeitsrecht, Familienrecht, Scheidungsrecht, in der Anerkennung homosexueller Partnerschaften.

Die Pluralisierung von Sicherheitspolitiken in der Form einer Fusion von verschiedenen Strategien zeigt sich am Beispiel des Wiener Karlsplatzes, der seit Jahrzehnten als Lebensraum und zentraler Treffpunkt der Drogenszene bekannt ist: Dem Stützpunkt für Sozialarbeit wurde ein neues Polizeikommissariat zur Seite gestellt, und darüber hinaus der Vorplatz zur Schule und der Park beim Kinderspielplatz zur Schutzzone erklärt. In dieser Schutzzone dürfen sich „verdächtige Personen“ nicht mehr aufhalten (Stummvoll 2006). Dazu wurde der Park von LandschaftsplanerInnen entsprechend den Ergebnissen international diskutierten Sicherheitskonzepte der Raumplanung nach den Gesichtspunkten der Transparenz und Übersichtlichkeit umgestaltet. Sicherheit am Karlsplatz ist damit ein Produkt aus Sozialarbeit, Polizeiarbeit, Justiz und Raumplanung. Die Pluralisierungstendenzen machen einen offenen Dialog zwischen Proponenten von situativen, kommunalen, partizipativen und repressiven Kriminalpräventionspraktiken erforderlich. Das sicherheitspolitische Patchwork am Wiener Karlsplatz ist das Produkt eines langen Aushandlungsprozesses, und keineswegs ein Einzelfall, sondern eine Konsequenz des sozialen Strukturwandels in vielen Europäischen Metropolen.

Sicher­heits­po­litik als Suche nach neuen Ordnungen

Sicherheitsarbeit wird im Verständnis vieler LokalpolitikerInnen mit Ordnungsarbeit gleichgesetzt. Es geht dabei nicht mehr nur um die Aufrechterhaltung und die Wiederherstellung von altbekannten Verhaltensmustern, die durch die gesetzliche Regelung bestimmt werden. Nicht, dass die Gesetze an Bedeutung verloren hätten, aber hinzugekommen ist die Variabilität von informellen Normen, die neben den gesetzlichen (formellen) Normen bedeutsam werden. Der Hilfeschrei nach Gesetz und Ordnung ist nur als verzweifelter Versuch zu verstehen, an einem Ordnungsmuster festzuhalten. Während in der Ersten Moderne noch von Ordnungsstörungen die Rede war, ist die ununterbrochene Neuordnung und Umordnung symptomatisch für die sich abzeichnenden Strukturen der Reflexiven Moderne. Von einem einheitlichen Ordnungsbegriff ist prinzipiell Abstand zu nehmen, denn Ordnungen sind einem permanenten Fluss unterworfen, sie bilden sich, lösen sich auf und bilden sich wieder neu durch neue Ordnungsträger, die auf dem sozialen Markt auftauchen. Wenn man noch vor einiger Zeit meinte, die Mode würde sich immer schneller ändern, so wird es heute immer undurchsichtiger, was gerade in Mode ist. So ist das auch mit den Ordnungsstrukturen. Noch können sich die konservativen Ordnungsfanatiker gegenüber neuen Ordnungsträgern, wie z.B. kulturelle Minderheiten, behaupten. Der Ordnungsfanatismus ist unter dem Vorzeichen des Kulturkonservatismus ein ähnliches soziales Phänomen wie der neu aufkeimende Nationalismus, der ebenso lediglich an alten (Welt-) Ordnungsstrukturen festzuhalten versucht.

An die Stelle vereinzelter Ordnungsstörungen ist eine generelle Ordnungskrise getreten, in der sich die Welt als unberechenbar präsentiert. In Anbetracht der zunehmenden Berücksichtigung von globalen Unsicherheitsgefühlen wird Sicherheitsarbeit mehr und mehr zur Ordnungsarbeit. Mehr noch: Sicherheitsarbeit wird zur Suche nach neuen Ordnungen. Die alten rationalen Praktiken zur Herstellung der Erwartungssicherheit durch die Berechenbarkeit von Risiko sind immer weniger wirkungsvoll, was dazu führt, dass wir uns einem generellen Risiko gegenüber sehen. Wir müssen lernen, dass absolute Sicherheit grundsätzlich nicht herstellbar ist, ein Grundsatz, der an die vormoderne Zeit erinnert, als man noch von “ Gefahren“ und „Schicksal“ sprach (Douglas und Wildavsky 1982).

Die Risiko­men­ta­lität der Reflexiven Moderne

Die organisierte Produktion von Wissen über Risiken im Rahmen von Wissenschaft und Forschung und die Vermittlung durch Massenmedien führt insgesamt zu mehr Unsicherheit. Je stärker die reale Vernetzung der Welt voranschreitet und je mehr man über die Vernetzung von Ereignissen weiß, je länger und komplexer die Kausalketten werden, die in der Handlungsplanung und bei Entscheidungen in Rechnung gestellt werden, desto unberechenbarer wird die Zukunft (Kreissl 2007).

Entscheidend für die Erfahrung von Unsicherheiten ist, dass der Risikodiskurs nicht nur auf so genannte Expertenkreise beschränkt bleibt, sondern für die Bevölkerung transparent wird, eben weil sich das Grundverständnis von Experten und Laien in der Reflexiven Moderne auflöst. Wir sind Zeitzeugen einer Berichterstattungsinflation aufgrund einer Informationsflut über Gefährdungen, die letztlich eine Potenzierung des Zerstörungspotentials und der Verletzlichkeit hervorruft. Die Folge ist eine Inflation der Warnhinweise die entweder die Menschen in völlige Ratlosigkeit stürzt, oder aber dazu führt, dass Warnhinweise tendenziell nicht mehr ernst genommen werden und ihre Wirkung verlieren.

Vorläufig besteht jedoch noch der Versuch, Risiken in den Griff zu bekommen. Risikomanagement ist der Reflex auf die Prekarisierung der sozialen Welt, die umso riskanter erscheint, je mehr Wissensfaktoren aufeinander treffen. Der Prekarität am Arbeitsmarkt, in der Wissenschaft und in der eigenen Lebensbiografie werden Anstrengungen zum Risikomanagement in allen gesellschaftlichen Lebenslagen gegen über gestellt. Risikomanagement ist das Zauberwort, mit dem alle erdenklichen Zukunftssorgen abgefedert werden sollen. Dazu werden Sicherheitspartnerschaften zwischen öffentlichen, privaten und zivilgesellschaftlichen Einrichtungen gegründet, es werden neue gesetzliche Regelungen zur Aneignung von Orten im öffentlichen Raum getroffen, die Polizei bedient sich ausgefeilter Datenverarbeitungsprogramme zur Analyse von Tätergruppen und Tathäufungspunkten (Hot Spots), und die Sicherheitstechnologie bietet ihre Innovationen zur lückenlosen Überwachung und Kontrolle der Gesellschaftsmitglieder an.

Das konstruierte Bedürfnis nach Sicherheit verlangt pausenlos, dass das gemacht wird, was auf dem Wissensstand gerade machbar ist. Mit Günther Anders (2002, S. 17, Original 1980) könnte man meinen, die Politik des Risikomanagements ist im modernen Grundsatz „Das Gekonnte ist das Gesollte“ stecken geblieben. „Lass nichts Verwendbares unverwendet!“, lautete das Postulat der Ersten Moderne und so scheint das auch in der Reflexiven Moderne in der Entwicklung von Risikovermeidungstechnologien und deren Einsatzmöglichkeiten zu sein.

Die Reflexive Moderne zeigt ihr kriminalsoziologisches Gesicht im Übergang von der Disziplinargesellschaft zur Sicherheits- und Kontrollgesellschaft. Während in der Ersten Moderne Vertrauen und Ordnung kraft traditionellen Handelns hergestellt wurden, werden in der Reflexiven Moderne geltende Routinen außer Kraft gesetzt. Im Straßenverkehr würde die Aufkündigung des Vertrauensgrundsatzes zum völligen Stillstand und zu einem Verkehrschaos führen. Das Sicherheitsmanagement ist auf dem besten Weg dazu, gleichsam das soziale Leben lahm zu legen, indem grundsätzlich alle Menschen verdächtigt werden, sich nicht an die gesellschaftlichen Regeln zu halten. Die Folge des exzessiven Risikomanagements, ausgelöst durch die mediale Risikohysterie, ist die Umkehr der Beweislast. Man akzeptiert stillschweigend jegliche Überwachung an Flughäfen, Bahnhöfen, in U-Bahnen, in Verwaltungsgebäuden, in Einkaufszentren, um zu beweisen, dass man unschuldig ist.

Neben der strafrechtlichen Generalprävention der Ersten Moderne hat sich mit dem Risikomanagement eine zweite Ideologie zur Spezialprävention breit gemacht. Während das Strafrecht repressiv wirkt und Täter zur Rechenschaft zieht bzw. potentielle Täter abschrecken soll, fokussiert eine proaktive Politik der Risikovermeidung alleine auf die Wahrscheinlichkeit von zukünftigen Ereignissen. Erschwerend hinzu kommt die Tatsache, dass die unwahrscheinlichsten Ereignisse den größten Schaden anrichten, aber dennoch zumindest seit 9/11 als reale Gefahren wahrgenommen werden. Bei der Einschätzung von Risiken sind der Fantasie keine Grenzen gesetzt, denn möglich erscheint alles, was in Science Fiction Filmen thematisiert wird. Folgt man dem Risikoparadigma, so wird die Fiktion real.

Eine weitere Eigenschaft des Risikoparadigmas ist, dass die Sicherheitsproduktion nicht mehr alleine Aufgabe des Staates ist, sondern plurale Verantwortlichkeiten vorliegen, die je nach Situation Sicherheit für bestimmte NutzerInnen garantiert. Angestellte und KundInnen gehören zur Klientel der Kontrollpraktiken in Einkaufszentren und Freizeitparks, Passagiere sind die Sicherheitskonsumenten der Bahn und der Fluggesellschaften, AnrainerInnen sind vor Fremden in Siedlungen zu schützen, die als „Gated Communities“ Zugangskontrollen und interne Verhaltensregeln festlegen und „Exklusivität“ garantieren. Für jede Situation gibt es gesonderte Sicherheitsregime, Sicherheitsregeln, Ressourcen und Kontrollpraktiken um das spezifische Verständnis von Ordnung zu gewährleisten. In diesen Fällen bestehen andere Kontrollmentalitäten als jene des Strafrechtssystems. Sie sind proaktiv, prospektiv und agieren nach den wirtschaftspolitischen Grundsätzen des Risikomanagements anstelle von moralischen Grundsätzen des Staatsrechts.

Im Zusammenhang mit Modernisierungsthesen der Reflexiven Moderne ist als wesentlich festzuhalten, dass es nicht um einen Prozess geht, in dem ein politisches Paradigma durch ein anderes abgelöst wird, sondern um eine Pluralisierung von Politiken und eine Zerstreuung bzw. ein Ineinandergreifen von Eindeutigkeiten (vgl. Johnston und Shearing 2003). Konkret hat nicht die Risikomentalität die Strafrechtsmentalität abgelöst, sondern Praktiken des Risikomanagements werden als Nebenfolge unbemerkt in das Rechtssystem infiltriert, wenn zum Beispiel die Polizei die Schutzzone kontrollieren muss, oder Normen für kriminalpräventive Architektur und Raumplanung in das Baurecht einfließen. Neben den traditionellen repressiven Aufgaben übernimmt die Polizei zunehmend unternehmerische Aufgaben und setzt dazu selbst Überwachungstechnologien zur Risikovermeidung ein. Für den kriminologischen Diskurs bleibt der Schluss, dass Governance-Analysen zur Sicherheitspolitik nicht ausschließlich politisch verstanden werden sollten, sondern unter dem sozialwissenschaftlichen Aspekt des sozialen Strukturwandels von der Moderne zu einer aktuelleren Epoche betrachtet werden sollten.

Literatur

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Viehöfer Willy / Gugutzer Robert / Keller Rainer / Lau Christoph 2004: Vergesellschaftung der Natur – Naturalisierung der Gesellschaft. In: Beck und Lau 2004: Entgrenzung und Entscheidung. Edition Zweite Moderne. Suhrkamp. Frankfurt/Main.

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