Der Zwang zur Freiheit
Kontingenzerzeugung im Sozialstaat,
Aus: vorgänge Nr.178, Heft 2/2007, S. 127-134
Kontingent ist alles, was weder notwendig noch unmöglich ist. Begriffe wie Unbestimmtheit, Nichtwissen und Unsicherheit beschreiben in etwa, was mit Kontingenz gemeint ist. Das Bewusstsein von Kontingenz ist zentral für das Leben in der modernen Gesellschaft. Die soziologische Zeitdiagnose greift diese Thematik mit einer gewissen Regelmäßigkeit auf. Ob von der Erlebnisgesellschaft, der Risikogesellschaft oder der „Beschleunigungsgesellschaft“ die Rede ist, stets werden wir daran erinnert, dass wir uns längst an Kontingenz gewöhnt haben, mit ihr leben, sie sogar her ausfordern, und – obwohl sie nicht immer gut zu ertragen ist – nicht mehr auf sie verzichten wollen.
Die affirmative Rede von der Kontingenz kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass Kontingenz ebenso häufig begrenzt wie erzeugt wird. Zumindest für die Vergangenheit lässt sich konstatieren, dass die „begrenzte Unbestimmtheit“ (Hondrich) ein zentrales soziales Organisationsprinzip in der modernen Gesellschaft darstellte. Entscheidend war weder die rückhaltslose Kontingenzbejahung noch der übermäßige Regelerlass, sondern vielmehr eine Art ritualisiertes Balance- und Spannungsverhältnis zwischen Kontingenzerzeugung und Kontingenzbegrenzung. Dass das Verhältnis zwischen der Erzeugung und Begrenzung von Kontingenz in vielerlei Hinsicht aus der Balance geraten ist, zeigt sich mitunter daran, dass Kontingenz heute vor allem durch Institutionen produziert wird, die historisch in erster Linie mit dem Zweck ihrer Begrenzung geschaffen wurden.
Das wohl einschlägigste Beispiel ist der Sozialstaat. Soziale Sicherheit stellt eine klassische Form der institutionellen Kontingenzbewältigung dar, die auf der Basis von Kontingenzbegrenzung funktioniert. Soziale Rechte gewährleisten nur in dem Maße Sicherheit, wie sie die marktvermittelte Kontingenzerzeugung verlässlich eingrenzen und bestimmte Lebensbereiche bzw. -phasen vor marktmäßigen Übergriffen schützen.
Inzwischen ist diese Funktionsweise jedoch alles andere als selbstverständlich. Heute gibt es kaum noch einen Bereich der sozialen Sicherheit, der nicht neu zur Disposition gestellt wird. Handelt es sich um die Rentenversicherung, das Eltern- oder Kindergeld, die Arbeitslosenversicherung, die Gesundheitsversorgung oder Sozialhilfe, es gibt keine soziale Sicherheit, die noch in dem Sinne als „sicher“ gelten kann. Längst sind die klassischen Konflikte zwischen Arbeit und Kapital dem allübergreifenden Konflikt zwischen Sicherheit und Unsicherheit gewichen. Kontingenz ist dabei nicht nur Anlass und Gegenstand der politischen Auseinandersetzung, sie wird zunehmend auch politisch erzeugt.
Was aber heißt es genau, wenn Kontingenz politisch erzeugt wird? Bevor unterschiedliche Beispiele der politischen Kontingenzerzeugung im und durch den Sozialstaat diskutiert werden, wird im Folgenden eine Begriffsklärung vorgenommen.
Strategische Kontingenz in der Politik
Empirisch ist die Unterscheidung zwischen Kontingenz und politischer Kontingenzerzeugung nicht unproblematisch. Kontingenz ist immer vorhanden, sie wird permanent irgendwo von irgendwem erzeugt, ohne dass immer deutlich erkennbar wäre, ob und inwiefern sie auf intendierende politische Entscheidungen zurückzuführen ist. Zumindest auf der analytischen Ebene lassen sich aber unterschiedliche Formen der Kontingenzerzeugung differenzieren. Zunächst einmal ist die politische Kontingenzerzeugung von einer Art Hintergrundkontingenz zu unterscheiden, die nicht durch politische Entscheidungen zu Stande kommt und nicht (oder zumindest nur sehr indirekt) durch diese beeinflussbar ist. Ein Beispiel ist das plötzliche Eintreten von Straßenglätte, das aufgrund einer unvorhersehbaren Wetteränderung eintritt und zum Verkehrsunfall führt. Der Unfall hätte nicht passieren müssen, er ist das Ergebnis einer kontingenten Wetteränderung, die nicht auf politische Entscheidungen zurückzuführen ist. Natürlich zählt mittlerweile auch oder gerade das Wetter zu den hochgradig politisierten Bereichen. Überhaupt lässt sich die moderne Gesellschaft insofern als „politische Gesellschaft“ (Greven) bezeichnen, als dass ein gesteigerter Sinn für Alternativen im eigenen Leben und in der Politik den Bereich dessen, was bereitwillig als unbeeinflussbare Hintergrundkontingenz akzeptiert wird, drastisch zusammenschrumpfen lässt. Dennoch gibt es Dinge, bei denen niemand auf die Idee käme, die Politik zur Rechenschaft zu ziehen.
Schwieriger ist es bereits, wenn es um marktvermittelte Kontingenz geht. Bei der marktvermittelten Kontingenz handelt es sich um Kontingenz, die als Nebenprodukt zweckrationalen Handelns erzeugt wird. Ökonomische Handlungsrationalität zeichnet sich durch den offensiven Umgang mit Kontingenz aus. Die Transformation von Gefahren in kalkulierbare Risiken zielt auf die Herstellung eines Sicherheitsgefühls, das die umfassende Nutzung von Gewinnchancen ermöglicht. Das daraus folgende „Risikohandeln“ erzeugt jedoch neue Kontingenz und somit auch neue Gefahren, die wieder in Risiken verwandelt werden müssen. Die Geschichte des modernen Versicherungswesens bietet hinreichend Beispiele dafür, dass Sicherheitskonstrukte immer wieder verworfen bzw. ergänzt werden mussten. Der homo oeconomicus wurde immer wieder an die Kette gelegt, zunächst auf der Ebene individueller Vernunft und, als diese Sicherheit nicht mehr genügte, an die Kette der überindividuellen Sicherungssysteme der Sozialversicherung (Plumpe 2002).
Marktvermittelte Kontingenz ist also nicht unproblematisch der Hintergrundkontingenz zuzurechnen, weil Markthandeln durch politische Entscheidungen reguliert bzw. erst ermöglicht wird. Letzteres gilt schon deshalb, weil Märkte die politische Gewährleistung von Vertragssicherheit und Eigentumsgarantien voraussetzen. Dennoch haben Staaten heute zunehmend mit den Konsequenzen ökonomischer Entscheidungen zu kämpfen, die sich ihrem Einfluss entziehen. Ein einzelner Staat kann zum Beispiel wenig ausrichten gegen den Beschäftigungsabbau, der trotz oder gerade aufgrund des Wachstums in Industrie- und Dienstleistungsunternehmen von den Börsen mit Kursgewinnen und verbesserter Kapitalversorgung prämiert wird.
Von der marktvermittelten Kontingenz sind Formen der Kontingenz abzugrenzen, die unmittelbar durch politische Entscheidungen erzeugt bzw. genutzt werden. Nur wenn die Politik Kontingenz selbst erzeugt oder aus ihrer Erzeugung politischen Profit schlägt, soll im Folgenden von strategischer Kontingenz in der Politik gesprochen werden.
Beispiele strategischer Kontingenz im Sozialstaat
Strategische Kontingenzerzeugung im Sozialstaat kann in unterschiedlicher Form auftreten. Prinzipiell zu unterscheiden sind diskursive Formen der Kontingenzerzeugung, die sich zunächst (nur) auf der ideellen Ebene sozialpolitischer Debatten abspielen und materielle Formen der Kontingenzerzeugung, die auf der Ebene der Sozialrechtsreform greifen. Diskursive Kontingenzerzeugung findet häufig im Vorfeld institutioneller Reformen statt. Sie kann an Schwachstellen der gegenwärtigen Sozialsysteme ansetzen, zum Beispiel der knappen Ressource „Vertrauen“. Sozialstaatliche Institutionen enthalten historisch gewachsene Fairnessregeln, auf deren wechselseitige Einhaltung sich die Adressaten dieser Regeln (Steuerzahler und Transferbezieher) mangels Überprüfbarkeit verlassen können müssen. Der individuelle Verzicht auf Regelverletzung hängt davon ab, ob man sich darauf verlassen kann, dass auch alle anderen ihren gerechten Anteil erbringen statt sich durch Steuerhinterziehung oder die ungerechtfertigte Inanspruchnahme von Sozialleistungen Vorteile zu verschaffen.
Im Zuge des unaufhaltsamen Fortschreitens gesellschaftlicher Fragmentierung durch Individualisierungsprozesse, Wertpluralisierung und den Rückgang erfahrbarer Solidarität sind die Vertrauensgrundlagen sozialstaatlicher Institutionen einer starken Belastungsprobe ausgesetzt. Die Politik, die durch Missbrauchunterstellung gezielt Unsicherheit bezüglich der Wirkung bestimmter Sozialpolitikprogramme herstellt, hat daher ein leichtes Spiel, die unhinterfragte Restsicherheit, die innerhalb der Bevölkerung noch vorhanden ist, auch noch zu erschüttern. Ein Beispiel ist etwa die Missbrauchsdebatte, die von der Schröder-Regierung im Vorfeld der Hartz-IV-Reformen angestoßen wurde und in der Sozialhilfeempfängern Faulheit und Trittbrettfahrerei unterstellt wurde.
Weil derartige Debatten auf Nichtwissen und die daraus resultierende Unsicherheit aufbauen können, treiben sie die Erosion der ohnehin fragilen politischen Akzeptanz steuerfinanzierter Grundsicherungsleistungen weiter voran. Insoweit es der Politik gelingt, dadurch die Unterstützung der Wähler für den Sozialabbau zu fördern, kann sie davon profitieren. Sie tut dann lediglich das, was die Mehrheit der Wähler von ihr erwartet und schützt sich dadurch vor Ungerechtigkeitsvorwürfen. Ferner tritt sie als „Problemlöser“ auf, weil sie den Missbrauch sozialer Leistungen bekämpft. Und schließlich kann sie die Verantwortung für die Folgeschäden des Sozialabbaus den ohnehin diskreditierten Transferbeziehern zuschieben.
Ein weiteres Beispiel für diskursive Kontingenzerzeugung sind Debatten, durch die herkömmliche Rollenverteilungen am Arbeitsmarkt in Frage gestellt und bewusst umdefiniert werden, so etwa in der Diskussion um den so genannten Arbeitskräfteunternehmer (dazu Voß/Pongratz 1989). Mit dieser ursprünglich aus der Managementliteratur stammenden Bezeichnung werden lohnabhängige Beschäftigte zu Unternehmern ihrer selbst tituliert, mit der Konsequenz, dass ein völlig neues Berufsbild entsteht, das die freiwillige Inkaufnahme neuer Unsicherheiten und Risiken am Arbeitsmarkt fördert. Tätigkeit erscheint hier nicht mehr im negativen Licht der reinen Erfüllung von Notwendigkeit innerhalb eines hierarchischen Arbeitsverhältnisses. Sie wird vielmehr mit positiv besetzten Werten, wie Selbstverwirklichung, die Steigerung von Teamautonomie und Selbststeuerung, sowie die autonome Entäußerung erlernter Kompetenzen in Verbindung gebracht. Implizit wird damit eine Neudefinition des Arbeitsverhältnisses vorgenommen, die Arbeitsmotivation vor allem von intrinsischen Motiven statt von Gratifikation in Form von Einkommen und sozialer Sicherheit abhängig macht. Zugleich findet eine Umdeutung des Leistungsprinzips statt, und zwar dahingehend, dass die Klarheit von Gratifikationsregeln (z.B. „Stundenlohn“) dem kontingenten Erfolg erbrachter Mehrleistungen weicht. Schließlich zieht das eine Umkehr der Beweislast nach sich. Nicht mehr der „Arbeitgeber“ muss nachweisen, dass der Arbeitslohn im gerechten Verhältnis zu den nachweislich erbrachten Arbeitsleistungen steht. Stattdessen müssen die (immer noch) abhängig Beschäftigten in Vorleistung treten und ihre Eigenmotivation unter Beweis stellen, obwohl die Gratifikation ihrer Bemühungen völlig ungewiss ist. Auch nützt es den Betroffenen wenig, dass ihnen durch die rein evaluative Auszeichnung ein Mehr an sozialer Anerkennung in Aussicht gestellt wird. Im Gegenteil, insofern sich diese Diskurse ohne Aussicht auf die materielle Erfüllung geweckter Hoffnungen in veränderten Verhaltensweisen und institutionellen Arrangements niederschlagen, handelt es sich um Ideologien der Anerkennung, die regulative Macht erzeugen, statt soziale Anerkennung zu gewährleisten (Honneth 2004). Kontingenzerzeugung bedeutet hier nüchtern betrachtet das Vorgaukeln von Chancen, während die Gefahr der Enttäuschung heruntergespielt wird. Dass Unternehmen davon profitieren können, ist unbestritten. Aber auch die Politik, die sich diese Diskurse zu Eigen macht, kann aus der regulativen Macht, die in ihnen produziert wird, Profit schlagen.
Materielle Formen der Kontingenzerzeugung greifen vor allem dort, wo das Sozialrecht zur Herstellung von Unsicherheit genutzt wird. Historisch ist die negative Verrechtlichung alles andere als neu. Sie wurde vor allem in den subsidiären Grundsicherungsschemen der Sozialhilfe angewendet. Negative Verrechtlichung bedeutet die Umkehrung oder Abschwächung subjektiver Rechtsansprüche durch die Normierung rechtlicher Sanktionsmittel bei nichtkonformen Verhalten (Vobruba 1983; siehe auch Toens 2003: 5). Das Sozialrecht wird nicht zur Herstellung von Erwartungssicherheit (positive Verrechtlichung) genutzt, vielmehr wird dem Leistungsanspruch erst nach der wiederholten Prüfung von „Bedürftigkeit“, „Arbeitsfähigkeit“ und „Arbeitswilligkeit“ stattgegeben. Da es sich in allen drei Fällen um äußerst vage Terminologien handelt, die der weiteren Interpretation und Ausdeutung bedürfen, bedeutet das faktisch eine beträchtliche Erweiterung der Definitionsmacht über Anspruchstatbestände auf Seiten des Gesetzgebers und der Sozialbehörde.
Rein rechtlich war die Möglichkeit der Vorenthaltung und Kürzung von Sozialleistungen also immer schon vorhanden. Sie wurde nur mehr oder weniger restriktiv gehandhabt. Unter Hartz IV ist die negative Verrechtlichung zum systematischen Bestandteil von Aktivierungsmaßnahmen geworden. Die ehemalige Sozialhilfe ist zu einer Art Experimentierfeld für die Erprobung einer Vielzahl von Aktivierungs-, Beschäftigungs- und Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen mit äußerst unsicheren Erfolgsaussichten umfunktioniert worden. Die Maßnahmen reichen von Arbeitspraktika, bei denen Jugendliche auf einen nur vage in Aussicht gestellten Ausbildungsplatz quasi unentgeltlich hinarbeiten müssen, bis hin zur Entlassung in die (Schein-)Selbstständigkeit („from Welfare to Workfare to Entrepreneurs hip“). Nicht selten enden derartige Experimente in der endlosen Warteschleife, in Verschuldung oder gar Schlimmerem. Dass sie dennoch fortexistieren liegt mitunter daran, dass man sich dieser Form der Kontingenzerzeugung unter der Androhung des Entzugs existenzsichernder Sozialleistungen nicht so einfach entziehen kann. Insofern Mitnahme- und Verdrängungseffekte auf Seiten der Unternehmen bekanntermaßen nicht ausgeschlossen sind, profitiert die Wirtschaft. Die Politik kann sich die Schaffung von Ausbildungs- und Arbeitschancen auf die Fahnen schreiben. Das gilt zumindest so lange, wie der Erfolg dieser Maßnahmen im Einzelfall nicht ausgeschlossen und damit immer noch kontingent ist.
Politische Hintergründe und Gerechtigkeitsprobleme
Worin besteht nun der Konflikt zwischen Sicherheit und Unsicherheit, auf den eingangs hingewiesen wurde? Wenn in allen Bereichen der sozialen Sicherheit für alle mehr Kontingenz erzeugt als begrenzt wird, wächst die Unsicherheit für alle, womit noch nicht notwendigerweise ein Verteilungskonflikt entsteht. So ist es aber nicht, denn erstens müsste die gerechte Lastenverteilung ungleiche Ausgangslagen berücksichtigen. Zweitens betrifft strategische Kontingenzerzeugung vor allem die Grundsicherungssysteme der ehemaligen Sozialhilfe. Dort wiegt sie besonders schwer, da existenzsichernde Sozialleistungen aufs Spiel gesetzt werden. Unter Androhung des Entzugs subsistenzsichernder Leistungen handelt es sich bei Arbeitsangeboten ferner um „Angebote, die nicht abgelehnt werden können“ (Goodin 1997). Kontingenzerzeugung ist daher paradoxerweise zugleich beides, eine Kontingenz- und eine Bestimmtheitszumutung, weil den Betroffenen im Ernstfall nur noch eines gewiss ist, nämlich dass sie da so schnell nicht wieder heraus kommen. Aktivierungspolitik wirkt daher auch nicht immer autonomiesteigernd. Durch sie kann sich die Abhängigkeit vom Staat verstärken. Insoweit Aktivierungsmaßnahmen eine Arbeitsgesellschaft stabilisieren, der offensichtlich die Arbeit ausgegangen ist, dient das Mehr an sozialer Unsicherheit der einen auch immer der Rückversicherung der anderen, die sich dadurch beruhigt dem Glauben hingeben können, alles sei in Ordnung.
Kontingenz greift nicht nur in der Politik, längst hat sie auch die sozialwissenschaftliche Gerechtigkeitsdebatte erfasst. In Anbetracht der politischen Hintergründe aktueller Sozialrechtsreformen ist es höchst ungewiss, inwieweit es überhaupt noch Sinn macht, politische Strategien der Kontingenzerzeugung aus der Perspektive normativer Gerechtigkeit anzufechten. In dem Maße in dem sich marktvermittelte Kontingenzerzeugung in Hintergrundkontingenz verwandelt, die sich dem politischen Einfluss einzelner Staaten entzieht, sind politische Strategien der Kontingenzerzeugung lediglich die Kehrseite eines Mangels an politischer Gestaltbarkeit, die der Staat – will er sich nicht selbst bankrott erklären – überspielen muss. Im Kontext der globalisierten Welt und unter den Bedingungen des weltweiten Wettbewerbs um Anlage- und Investitionsmöglichkeiten kann der Staat nicht anders als selbst zum „Territorialunternehmer“ zu werden, indem er eine räumlich bestimmte Einheit mit all dem, was sich in ihr befindet, nach außen lockend präsentiert und anbietet (Hamann/Nullmeier 2006: 10). Unter diesen Bedingungen ist traditionelle Gerechtigkeitspolitik kaum mehr realisierbar.
Sozialpolitische Entscheidungen werden jedoch trotzdem getroffen. Keinesfalls sind sie immer alternativlos oder wertneutral. Selbst wenn Sozialpolitik heute nicht mehr an idealen Gerechtigkeitsvorstellungen gemessen werden sollte, lässt sie sich immer noch unter Fairnessgesichtspunkten als besser oder schlechter beurteilen. Abschließend sollen drei sozialwissenschaftliche Diskussionsstränge mit unterschiedlichen Interventionsabsichten aufgezeigt werden.
Seit jeher haben die Sozialwissenschaften sozialstaatliche Reformen entweder unterstützend, kritisch oder einfach nur beschreibend begleitet. Sie tun es auch heute noch, und das trotz oder gerade wegen des eingeschränkten Gestaltungsspielraums der Politik. Ebenso lässt sich die Politik von den Sozialwissenschaften inspirieren, etwa in dem sie sozialpolitische Reformen im Rückgriff auf Rational Choice-Theorien aus Politikwissenschaft und Policy-Analyse rechtfertigt (dazu Le Grand 1997). Materielle Formen der Kontingenzerzeugung, die hier unter Aktivierungspolitik gefasst wurden, können sich zum Teil auf die Soziologie des Dritten Wegs von Anthony Giddens und anderen berufen. Die Risikosoziologie wurde Ende der 90er mit dem Anspruch verfochten, eine Zeitdiagnose des sozialen Wandels zu erstellen, aus der sich Strategieempfehlungen für die Sozialpolitik ableiten lassen. Die Diagnose ist wohlbekannt. Angeblich wurden sozialstaatliche Lösungen aus der Perspektive der Bürgerinnen und Bürger nicht mehr als legitimer Schutz vor Kontingenzzumutung empfunden, sondern vielmehr als Bestimmtheitszumutung, die der individuellen Fähigkeit zur selbst bestimmten Lebensweise in vielerlei Hinsicht im Weg steht. Was diese Sichtweise oberflächlich betrachtet so sympathisch macht, ist, dass sie Transferbezieher vom verstaubten Image des passiven Leistungsempfängers befreit und überdies – ähnlich wie die Rede vom Arbeitskräfteunternehmer – neue Freiheits- und Kreativitätsspielräume einklagt. Gegenüber der normativen Sozialstaatskritik hat sie über dies den Vorteil, dass sie sich gar nicht erst auf die verfängliche Frage nach „der“ sozial gerechten Umverteilungspolitik einlassen muss. Empirische Untersuchungen zeigen allerdings, dass die gesellschaftliche Kontingenzerfahrung weitaus komplexer ist, als durch die Risikosoziologie des Dritten Wegs nahe gelegt wird (dazu Taylor-Gooby 2001). So trifft die These der chancenbewussten, risikohandelnden Bürger/innen, denen der Sozialstaat im wahrsten Sinne des Wortes zu viel geworden ist, lediglich auf einen kleinen, privilegierten Teil der Mittelschicht zu. Untersucht man Kontingenzerfahrung in der breiteren Mittelschicht, dann wird bereits deutlich, dass sie wesentlich ambivalenter wahrgenommen wird. Schließlich versagt die Krisendiagnose mit Blick auf Geringverdiener. Hier zeigen Untersuchungen, dass Kontingenz mit einer stärkeren Betonung auf ihren Gefahrenanteil wahrgenommen wird. Im Fall von Arbeitslosigkeit und Scheidung sind Geringverdiener im Vergleich zu den Angehörigen der Mittelschicht doppelt so stark von Armutsrisiken betroffen. Auf der Grundlage dieser Untersuchungsergebnisse wurde die Risikosoziologie des Dritten Wegs als Ideologie der Mittelschicht kritisiert, die soziale Ungleichheiten normativ überblendet.
Eine zweite Interventionsform beschränkt sich auf die Beschreibung politischer Prozesse aus der neutralen Beobachterperspektive. Hier wird aufgezeigt, wie sich Politik unter Bedingungen einer gesteigerten gesellschaftlichen Kontingenz und der Ambiguität sozialer Phänomene verändert. In der Politikwissenschaft ist an dieser Stelle die Governance-Forschung zu nennen, doch auch in der Gesellschaftstheorie wird verstärkt auf Begriffe wie Ambivalenz, Gegenläufigkeit und Paradoxie zurückgegriffen. Der Anspruch der neutralen Beobachterperspektive, der hier vertreten wird, kann jedoch nicht verhindern, dass sich die Politik diese Analysen aneignet und zur Durchsetzung normativer Positionen zunutze macht.
Schließlich lässt sich ein dritter sozialwissenschaftlicher Diskussionsstrang ausmachen, mit dem gewissermaßen am normativen Anspruch kritischer Gesellschaftstheorie festgehalten wird. Paradoxien der Kontingenzerzeugung werden aus dieser Perspektive nicht nur beschrieben, sondern auch daraufhin untersucht, inwieweit sie dem normativen Fortschritt der Gesellschaft im Sinne der Verwirklichung gleichberechtigter Ansprüche auf Autonomie und Selbstbestimmung im Weg stehen. So sehr man die „Erfolgsaussichten“ auch dieser Perspektive kritisch in Frage stellen mag, aus ihr lassen sich die Gerechtigkeitsprobleme strategischer Kontingenzerzeugung im Sozialstaat immerhin noch benennen.
Literatur
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Hamann, F./Nullmeier, F. (2006) „Die Konkurrenzgesellschaft“, in: vorgänge. 45,4: 5-12.
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Vobruba, G. (1983) „Entrechtlichungstendenzen im Wohlfahrtsstaat“, in: Abschied vom Recht? Herausgegeben von R. Voigt. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
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