Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 178: Vom Rechtsstaat zur Sicherheitsgesellschaft

Jeder ist verdächtig

Das neue gesellschaftliche Verständnis von Sicherheit und Bedrohung als Grundlage sozialer Kontrolle.

Aus: vorgänge Nr. 178 (Heft 2/2007) S. 118-126

Der gesellschaftliche Umgang mit sozialen Problemen, mit Gefahren und Verhalten, das von sozialen Normen abweicht, verändert sich grundlegend. Dies gilt nicht alleine für das Strafrecht oder staatliche Maßnahmen im Allgemeinen, sondern ebenso für die Aktivitäten von Privaten und damit für den gesamten Bereich sozialer Kontrolle als den Mechanismen, mit denen eine Gesellschaft versucht, ihre Mitglieder zur Einhaltung sozialer Regeln und Normen anzuhalten. Diese Mechanismen werden umfassender und absoluter – sowohl was ihre Ziele, als auch was ihre Akteure und Maßnahmen betrifft. Rechtsstaatliche Standards geraten dabei massiv unter Druck und wandeln sich infolgedessen kontinuierlich. So wären die gegenwärtigen Debatten um die so genannte „Onäne -Durchsuchung” oder die Vorratsdatenspeicherung – also die verdachtsunabhängige Speicherung aller Telekommunikationsverkehrsdaten – vor einigen Jahren noch undenkbar gewesen, von der im Zuge dessen aufkommenden Idee einer Vorratsspeicherung auch aller Fingerabdrücke noch nicht gesprochen. Jedoch handelt es sich auch hierbei nur um Momentaufnahmen eines weitergehenden Wandels, in dessen Zentrum ein neues Verständnis von Sicherheit steht, für dessen Umsetzung andere Maßnahmen und Akteure notwendig werden. Mithin haben nicht die Innen- und Rechtspolitiker jedes Maß verloren. Vielmehr hat sich der Maßstab verändert, und er verändert sich noch. Nicht nur bei den Fachpolitikern, sondern in der Gesellschaft insgesamt. So sind dem ZDF-Politbarometer vom April 2007 zufolge mehr als 60 Prozent der Befragten der Auffassung, dass nicht genug für die „Bekämpfung von Kriminalität” getan wird und sehen derzeit keine Beeinträchtigung von Freiheitsrechten durch derartige Maßnahmen.

Umfassende Sicherheit als Paradigma

Als wesentliche Grundlage dieser Entwicklung ist ein neues Ideal der Sicherheit im Hinblick auf Kriminalität und sonstige als gesellschaftliche Bedrohungen wahrgenommene Phänomene auszumachen. Ging es bei Sicherheit bis in die 1990er Jahre hinein jedenfalls auch um soziale Absicherung, bezogen sich entsprechende Bedürfnissen also wesentlich auf eine soziale Sicherheit, so hat sich diese Perspektive heute grundlegend verschoben: Sicherheit wird fast ausschließlich unter dem Blickwinkel persönlicher Sicherheit vor Kriminalität und Abweichung debattiert, die als zentrale Bedrohungen wahrgenommen werden. Zugleich ist der Einzelne weniger bereit anzuerkennen, dass das Risiko ein Grundzug der menschlichen Existenz ist, dass soziale Konflikte gesellschaftlich produziert sind und zum kollektiv geschaffenen allgemeinen Lebensrisiko gehören (vgl. Haffke 2005: 31 f.). Infolge des gestiegenen Schutzniveaus und der zahlreichen Möglichkeiten der Problembewältigung werden eintretende Schädigungen als wesentlich gravierender empfunden und wächst der Anspruch, vor Bedrohungen geschützt zu werden (vgl. Singelnstein/Stolle 2006: 33 ff.). Damit korrespondiert eine gewachsene Bedeutung gefühlter Verunsicherung bzw. eines „subjektiven Sicherheitsgefühls”, das immer öfter als Begründung für sicherheitspolitische Interventionen dient.
Dreh- und Angelpunkt der Entwicklungen sozialer Kontrolle ist mithin eine neue gesellschaftliche Wahrnehmung und Interpretation von gesellschaftlichen Bedrohungen, von Anforderungen an deren Kontrolle und der Rolle des Staates in diesem Zusammenhang. Dieses diskursiv hervorgebrachte Bild und Verständnis wandelt sich derzeit erheblich — nicht nur in der öffentlichen oder medial verbreiteten Meinung, sondern in der gesamten Gesellschaft — wobei Veränderungen einer objektiven Wirklichkeit kaum als prägend angesehen werden können. Zwar mögen sich gesellschaftliche Gefahren und Risiken tatsächlich verändern, sich zuspitzen oder in einigen Bereichen auch abnehmen. Dies hat jedoch nur einen sehr bedingten Einfluss auf die gesellschaftliche Wahrnehmung solcher Gefahren und auf die Bedeutung, die ihnen beigemessen wird, wie sich am Beispiel der Kriminalitätsfurcht zeigen lässt: Diejenigen Bevölkerungsgruppen, deren Kriminalitätsfurcht besonders ausgeprägt ist, werden statistisch besehen eher selten Opfer registrierter Straftaten. Darüber hinaus lässt sich noch nicht einmal ein linearer Zusammenhang zwischen erhobener Kriminalitätsfurcht und der Entwicklung erfasster Kriminalität herstellen; vielmehr entwickeln sich beide recht unabhängig voneinander (Kunz 2004: 299 ff.). Der Ebene der Wahrnehmung, Bewertung und Einschätzung von Bedrohungen für die persönliche Sicherheit kommt somit eine hervorgehobene Rolle für die Entwicklung sozialer Kontrolle zu — auch unabhängig von etwaigen tatsächlichen Veränderungen. Diese haben allenfalls eine untergeordnete Bedeutung für diese Entwicklungen, so dass auch die Frage in den Hintergrund rückt, inwiefern die Bedrohungsszenarien real sind.
Das insofern sozial konstituierte Bild von Bedrohungen und Gefahren sowie das dem gegenübergestellte Ideal einer umfassenden Sicherheit bilden eine zentrale Konstante der sich verändernden gesellschaftlichen Ordnung. Der Staat greift dies auf und verstärkt diese Entwicklung, wenn er immer weniger bereit oder in der Lage ist, soziale Sicherheit zu schaffen, während er im Gegenzug den Schutz der Bürger vor Kriminalität und Abweichung verspricht. Er ist insofern auch ein zentraler Akteur. Jedoch kommt ihm keine lenkende Rolle zu. Vielmehr reagieren staatliche Institutionen im Wesentlichen nur auf die beschriebene interpretative Entwicklung und sind bemüht, mit eher symbolischen Maßnahmen und über „Sicherheitsdemonstrationen” die beschränkte Regulierungsfähigkeit des Staates in diesem Bereich auszugleichen (vgl. Singelnstein/Stolle 2006: 41 ff.).
Im Ergebnis dieser Entwicklung geht es bei Sicherheit immer weniger um einen Schutz vor staatlichen Eingriffen oder Bedrohungen durch eine schrankenlose Ökonomie, sondern im Vordergrund steht das Bedürfnis der Absicherung gegen Kriminalität, Gewalt und Abweichung. David Garland (2001: 100) hat dies als einen Wechsel von ökonomischer Kontrolle und sozialer Befreiung hin zu ökonomischer Freiheit und sozialer Kontrolle umschrieben. Während in den 1960er und 1970er Jahren Freiheit mit der Infragestellung von überkommenen Werten, Lebensmodellen, gesellschaftlichen Strukturen und staatlicher Bevormundung assoziiert wurde, ist der Begriff heute geprägt von einem ökonomischen und individualisierenden Verständnis. Parallel dazu wird Sicherheit weniger im Humboldtschen Sinne als Sicherheit vor staatlichen Eingriffen, als Plädoyer für einen gebändigten, rechtsstaatlichen Staat oder im wohlfahrtsstaatlichen Sinne als soziale Absicherung angesehen, sondern als persönliche Sicherheit vor Bedrohungen und Gefahren (vgl. Hassemer 2005: 314). Wir erleben daher nicht einen Abbau von Freiheit für mehr Sicherheit, sondern einen Bedeutungswandel dieser Grundwerte, der sich im gesellschaftlichen Verständnis durchsetzt.
Abweichung und Kriminalität als Gegenstand sozialer Kontrolle werden im Zuge dieser Entwicklung immer weniger als Ergebnis gesellschaftlicher Zustände, als zu bearbeitende soziale Konflikte begriffen, sondern als persönliche Verfehlung angesehen, die jeder Einzelne zu verantworten und damit auch deren Folgen zu tragen hat. Dabei gewinnen Ordnungsvorstellungen an Bedeutung, wie etwa nicht angebettelt werden zu wollen, keine Betrunkenen sehen zu müssen und nicht mit der Armut und anderen gesellschaftlichen Problemen konfrontiert zu werden (vgl. Legnaro 1997: 279). Die insofern gesteigerten Unsicherheit – und Bedrohungsgefühle der Allgemeinheit verlangen wiederum nach neuen und anderen Maßnahmen der Sicherheit obgleich ein umfassender Schutz vor Risiken nicht möglich ist. Vor diesem Hintergrund wird die wohlfahrtsstaatliche Behandlungs- durch eine umfassende Bekämpfungsperspektive ersetzt, in der es um die Verhinderung von Abweichung um jeden Preis geht. Diese umfasst neben polizeilichen und repressiven Elementen zwar nach wie vor auch solche einer wohlfahrtsstaatlichen Fürsorge. Hierbei geht es jedoch weniger um eine Bearbeitung von als kriminogen oder vergleichbar problematisch eingeschätzten sozialen Umständen, sondern um eine Feststellung von Risiken, um entsprechende Personen und Situationen einer präventiven Bearbeitung zuführen zu können. An die Stelle des (jedenfalls auch) behandelnden Ansatzes tritt eine stärker präventiv-kontrollierende Orientierung.
Zusammenfassend besehen führt das neue Ideal der Sicherheit mithin zu einer Ausweitung des Gegenstandes sozialer Kontrolle, wie auch umgekehrt die veränderte gesellschaftliche Wahrnehmung von Abweichung als Bedrohung zu veränderten Sicherheitsbedürfnissen führt. Das Streben nach persönlicher Sicherheit jedes Einzelnen vor dieser Bedrohung erfährt so eine neue Relevanz und entwickelt sich in zahlreichen Bereichen zum gesellschaftlichen Leitbild. Andere gesellschaftliche Prinzipien und Wertvorstellungen, wie etwa rechtsstaatliche Grundsätze oder individuelle Abwehrrechte von Betroffenen, treten angesichts dessen zunehmend in den Hintergrund (vgl. Legnaro 2000: 207; Lindenberg/Schmidt-Semisch 2000: 308 f.). Dies betrifft nicht alleine die Politik und andere professionelle Akteure, sondern ebenso die Allgemeinheit, die Gesamtheit der einzelnen Bürger. Diese können nicht als Opfer einer populistischen Kriminal- und Sicherheitspolitik angesehen werden, sondern sind selbst gewichtige Akteure im Rahmen dieser Entwicklung.
Das dem zugrunde liegende Streben nach Sicherheit produziert immer weitere Verunsicherung, da es ständig neue Nahrung findet und damit verdeutlicht, dass eine umfassende Sicherheit nicht erreicht ist. Es handelt sich um einen sich selbst reproduzierenden Kreislauf, indem Sicherheit ein immer abwesendes Ideal darstellt. Auf diesem Wege entsteht durch die Differenz zwischen einer gesellschaftlich produzierten — und prinzipiell unbegrenzt steigerbaren — Sicherheitserwartung und dem begrenzten Vermögen der Gesellschaft, diese in der Praxis auch zu gewährleisten, eine dauerhafte gesellschaftliche Unsicherheit (Castel 2005: 9 ff.).
Diese permanente Bedrohung ist nicht nur die Grundlage für Maßnahmen der Sicherheit. Sie kann auch als Gegenstück zur umfassenden individualisierenden „Freiheit” des Liberalismus verstanden werden. Der Einzelne ist heute weniger an feststehende gesellschaftliche Normen gebunden, sondern ihm steht regelmäßig eine Vielzahl individueller legitimer Verhaltensmöglichkeiten zur Verfügung. Dies führt umgekehrt zu einem neuen Regulierungsbedürfnis, den Einzelnen an gesellschaftlichen Anforderungen auszurichten. Anstelle einer disziplinierenden Ausrichtung an Normen wirkt in diesem Sinne die steigende gesellschaftliche Unsicherheit normierend, denn sie bildet die Grundlage für die Selbstbeschränkung und -führung des Einzelnen. Die stete Bedrohung durch Unsicherheit und Risiken führt zur eigenen Anpassung, indem gesellschaftliche Anforderungen internalisiert und das eigene Verhalten ständig und aktuell hieran ausgerichtet werden. Hierbei handelt es sich um eine Form der Verhaltensführung, die aufgrund des dauernden Engagements jedes Einzelnen für sich selbst wesentlich effektiver wirkt, als dies eine Kontrolle durch andere ermöglichen könnte. Vergleichbar mit dem „Unternehmer seiner selbst” im Wirtschafts- und Berufsleben, der angesichts seiner prekären Beschäftigungsposition dazu angeleitet ist, sich den wechselnden Anforderungen des Berufslebens ständig anzupassen, bildet Unsicherheit auch allgemein die Basis für die Selbstführung des Einzelnen bei der möglichst optimalen Ausrichtung an gesellschaftlichen Verhaltensanforderungen. In diesem Sinn ist Sicherheit nicht die notwendige Grundlage gegenwärtiger Freiheit. Vielmehr ermöglicht die herrschende Unsicherheit erst die gegenwärtige Form von Freiheit, denn sie führt dazu, dass sich der Einzelne in seiner Freiheit beschränken lässt und selbst beschränkt. Die Unsicherheit macht diese Freiheit somit erst möglich (vgl. Lemke 1997: 187 f.).

Soziale Kontrolle im Vorfeld

Das gewandelte gesellschaftliche Verständnis und Bild von Abweichung einerseits und die gestiegene Bedeutung von Sicherheit andererseits bedingen einen grundlegenden Wandel der Formen sozialer Kontrolle, der ganz im Zeichen des Strebens nach Effektivität steht: Abweichung, Kriminalität und Gewalt sollen so umfassend und weitgehend wie möglich bekämpft werden (s. bereits Feeley/Simon 1992). Dies schlägt sich vor allem in dem bereits seit den 1970er Jahren auf der Wunschliste der Sicherheitsbehörden stehenden, äußerst vielseitigen Streben nach Prävention nieder, die heute ebenso im Gesundheitsbereich wie in der sozialen Arbeit zu finden ist und sich als allgemeines Leitbild durchgesetzt hat (s. Pütter 2007: 3 ff.). Das Vermögen, abweichendes Verhalten im Vorfeld erkennen und ihm vor seinem Eintritt entgegenwirken zu können, soll dessen möglichst effektive Kontrolle und Verwaltung ermöglichen.
Als Anknüpfungspunkt für Maßnahmen einer insofern vorverlagerten Sozialkontrolle dienen mithin nicht — wie herkömmlich — bereits eingetretene Rechtsgutsverletzungen, ein abweichendes Verhalten oder eine konkrete Gefahren, die ohne Intervention absehbar eine Schädigung nach sich ziehen würden. Stattdessen wird ein Konstrukt bemüht, mit dessen Hilfe sich schon sehr viel früher absehen lassen soll, welche Personen und Situationen für die Zukunft die Gefahr abweichenden Verhaltens in sich bergen. Hierfür werden der Begriff und die Methode des Risikos als berechenbarer Größe herangezogen (vgl. Groenemeyer 2003: 31 ff.; Frehsee 2003: 278 f.). Dieser Vorstellung zufolge lassen sich bestimmte Kriterien ausmachen, die das Eintreten abweichenden Verhaltens statistisch betrachtet wahrscheinlicher machen und daher als Risikofaktoren klassifiziert werden können. Das Vorliegen oder Nichtvorliegen solcher Kriterien soll dementsprechend Aussagen darüber ermöglichen, wie wahrscheinlich abweichendes Verhalten für bestimmte Personen oder Situationen in der Zukunft ist und ob eine frühzeitige Intervention zur Verhinderung dessen notwendig ist. Derartige Maßnahmen knüpfen daher gar nicht mehr an tatsächliche Gefahren oder schädigende Handlungen an. Einzig interessant und ausreichend ist die Zugehörigkeit zu einer Risikogruppe, also das Aufweisen bestimmter Kriterien und die daraus folgende Prognose. Dies zeigt sich beim Ausbau der Sicherungsverwahrung vor allem bei Tätern, die wegen Delikten gegen die sexuelle Selbstbestimmung verurteilt wurden, sowie in der Terrorismusbekämpfung bei zahlreichen Maßnahmen, von der Rasterfahndung bis zum Fall Kurnaz (Funk 2007: 20 ff.).
Diese Denklogik der Vorverlagerung produziert mit ihrem Streben nach möglichst genauer Prognose und Erfassung von Risikofaktoren einerseits ständig neue Risiken (vgl. Castel 2005: 11 f.; Frehsee 2003: 278 f.). Andererseits führt sie zu einer grundlegenden Veränderung bei den Maßnahmen sozialer Kontrolle. Das überkommene Strafrecht ist für die neuen Ziele nur sehr eingeschränkt anwendbar. Denn es reagiert vorwiegend auf konkrete Normverstöße in der Vergangenheit — wenngleich ihm dabei eine Wirkung für die Zukunft zugeschrieben wird —, so dass sich vergleichsweise unkonkrete Risiken mit seinen Mitteln kaum erfassen lassen. Dies führt zu einem Umbau des Strafrechts, indem etwa in bestimmten Bereichen die Strafbarkeit in den Gefahrenbereich vorverlagert und so die strafrechtliche Eingriffsschwelle abgesenkt wird. Dies lässt sich bspw. bei der Kriminalisierung des so genannten „Stalking” oder im Bereich des Betäubungsmittelstrafrechts beobachten.
Vor allem aber erlangen jene staatlichen Handlungsformen neue Bedeutung, die nicht reaktiv orientiert sind, sondern Gefahren und Risiken bearbeiten. Die Mechanismen sozialer Kontrolle wie auch die verschiedenen Rechtsgebiete passen sich dieser Neuorientierung an. So lässt sich beispielsweise im Polizeirecht eine Absenkung der Schwelle polizeilicher Eingriffe beobachten. Sie erfolgen nicht mehr erst bei einer konkreten Gefahr, sondern weit im Vorfeld erfassbarer Bedrohungen schon bei einer abstrakten statistischen Annahme, die staatliche Eingriffe im Bereich alltäglicher Situationen und sozialadäquater Verhaltensweisen notwendig macht (Eisenberg 2005: 276 ff.).
Dies gilt beispielsweise für die Videoüberwachung, die unabhängig von konkreten Gefährdungen an die bloß abstrakte Einschätzung anknüpft, dass eine bestimmte Örtlichkeit im Hinblick auf abweichendes Verhalten besonders relevant sei. Auf diesem Weg entsteht an der Schnittstelle zwischen Straf- und Polizeirecht eine Form proaktiver Prävention, die sich nicht mehr an einem konkreten Individuum orientiert, sondern sich entweder an risikoträchtigen Orten, Strukturen und Lagen ausrichtet oder gleich die Bevölkerungsmitglieder in ihrer Gesamtheit als Risikofaktoren klassifiziert (vgl. Naucke 1999: 342), wie die verdachtsunabhängige Speicherung persönlicher Daten etwa der Telekommunikation eindrucksvoll unter Beweis stellt.
Das Risiko als Gegenstand sozialer Kontrolle macht somit zum einen wesentlich früher Eingriffe notwendig, die unabhängig von einer konkret bestehenden Bedrohungslage erfolgen. Zum anderen sind damit aber auch deutlich mehr und umfassendere Maßnahmen erforderlich, denn es genügt nicht mehr das Einschreiten im Fall eines Verdachts oder einer konkreten Gefahr. Stattdessen ist eine möglichst umfassende Erfassung von Personen und Situationen erforderlich, um einerseits Risikofaktoren zu bestimmen und andererseits laufend überprüfen zu können, ob diese irgendwo vorliegen. Die ständige Notwendigkeit der Risikoerkennung und Prognose führt damit zu einem unstillbaren Wissensdurst (Pütter 2007: 10), in dessen Zuge die Bedeutung der Privatheit wie auch die Möglichkeiten der Begrenzung und Kontrolle sozialkontrollierender Mechanismen abnehmen. Ähnlich wie sich der Einzug von Strafzwecken und Resozialisierung in das Strafrecht (vgl. Albrecht 2005: 48 ff.) als Effektivierung und Ausweitung des Zugriffs im Gewand der Humanität verstehen lässt, bedeutet die vermeintlich Eingriffsärmere, mildere Prävention damit eine Ausweitung sozialer Kontrolle, denn sie agiert in verschiedener Hinsicht umfassender.
Was zunächst als Renaissance einer obrigkeitsstaatlichen Sicherheit und Sozialkontrolle daherkommt — der Staat sorgt für persönliche Sicherheit vor Kriminalität und vergleichbaren Bedrohungen und darf dabei weitgehend in die bürgerlichen Freiheiten eingreifen — stellt sich bei genauerer Betrachtung als nur ein Aspekt dieser Entwicklung dar. Denn die Mobilisierung zum Zwecke der Sicherheit beschränkt sich keineswegs auf den Staat. Neben der weiter zunehmenden Bedeutung privat-professioneller Akteure und nicht-staatlicher Institutionen wird in immer stärkerem Maße auch die Allgemeinheit als Summe der Einzelnen aktiviert. Dabei geht es weniger um kollektive Appelle, als vielmehr um die Responsibilisierung und Einbeziehung jedes Einzelnen als besonders effektivem Weg der Mobilisierung der Allgemeinheit. Wenngleich verschiedene Tätigkeiten natürlich nach wie vor in staatlicher Hand verbleiben, so beschränkt sich die Aufgabe aller doch gleichwohl nicht nur auf Denunziation und Bürgerpflichten, sondern wird der Einzelne aktiv in die Bearbeitung von Kriminalität mit einbezogen, sei es im Rahmen kommunaler und anderer Formen von Kriminalprävention, bei der in verschiedenen Bundesländern getesteten SMS-Fahndung, durch die Möglichkeit der Online-Strafanzeige (dazu Puschke 2005) u. ä. Jeder ist verdächtig — und kontrolliert zugleich. Dies lässt sich etwa am Beispiel von Compliance-Programmen zur Korruptionsbekämpfung durch gegenseitige Überwachung innerhalb von Unternehmen im Rahmen von Corporate Governance nachvollziehen.
Ebenso wie jeder selbst für seine soziale Sicherheit zu sorgen hat, soll er sich auch an der sozialen Kontrolle solcher Bedrohungen beteiligen, die immer mehr als Bedrohungen aller und damit jedes Einzelnen vermittelt und wahrgenommen werden. Statt eines abstrakten Wissens um die Existenz einschlägiger Gefahren und die theoretische Möglichkeit, von diesen betroffen zu werden, steht das Bild von der persönlichen Bedrohung im Vordergrund. Die damit entstehende Unsicherheit aktiviert einerseits dazu, sich vor Kriminalität zu schützen, sicherheitsbewusst und kriminalpräventiv zu handeln (O’Malley 1996: 199 ff.). Darüber hinaus regt sie jeden Einzelnen dazu an, sich selbst aktiv an der Bekämpfung von Abweichung und der Kontrolle von Risiken zu beteiligen — selbst wenn diese ihn nicht selbst betreffen. Sozialkontrolle wird so vom Staat auf die Allgemeinheit als Gesamtheit der Einzelnen übertragen, indem die Individuen responsibilisiert werden, sich an der ständigen Prävention und Verfolgung von Abweichungen zu beteiligen (Krasmann 2003: 266 ff.; Garland 1996: 452 ff.). Sie erscheint so als „permanente gesellschaftliche Anstrengung, ein Regime des täglichen sozialen Lebens” (Legnaro 1997: 271). Persönliche Sicherheit vor Bedrohungen ist zu einer Aufgabe geworden, an deren Umsetzung alle aktiv beteiligt sein sollen.

Fazit und Ausblick

Ein verändertes gesellschaftliches Bild und Verständnis von Abweichung, Bedrohung, Sicherheit und von der Rolle des Staates sowie die zunehmende Bedeutung dieser Themen bringen einen grundlegenden Wandel sozialer Kontrolle im Zeichen der Effektivität hervor. Als zielführend werden hierbei immer weniger Maßnahmen sozialer Integration oder die Bearbeitung sozialer Probleme angesehen. Stattdessen steht ein umfassender verwaltend-kontrollierender Zugriff auf der Agenda, der im Vorfeld konkreter Bedrohungen Risiken erkennen und entsprechende Gegenmaßnahmen ermöglichen soll, bevor eine Schädigung eingetreten ist.
Diese Entwicklung sozialer Kontrolle ist geeignet, bestehende rechtsstaatliche Standards zu untergraben. Dem werden auf der Ebene politischer Auseinandersetzung heute zumeist die Verfassung und insbesondere die Grundrechte entgegengehalten. Diese unterliegen indes selbst einem inhaltlichen Wandel und verlieren insofern an Bindungswirkung. Dies betrifft etwa die im Fluss befindliche Frage, wie weit der absolut geschützte Kernbereich persönlicher Lebensgestaltung reicht, in den nicht eingegriffen werden darf, bei welchem Maß an Überwachung eine unverhältnismäßige und daher unzulässige Totalausforschung anzunehmen ist und welcher Raum an Privatheit dem Einzelnen bewahrt bleibt.
Bedeutsamer als diese konkrete Ebene der Auseinandersetzung scheinen daher — gerade auch angesichts der zu beobachtenden Verschiebung grundrechtlicher Maßstäbe — die gesellschaftlichen Grundlagen dieser Entwicklung zu sein. Zwar werden die Grundrechte und diesbezügliche Argumentationen die beschriebene Entwicklung sozialer Kontrolle an einzelnen Punkten beeinflussen können. Die langfristige Etablierung bzw. Durchsetzung begrenzender Standards in diesem Bereich, eine Richtungsänderung in der Entwicklung sozialer Kontrolle hängen vorrangig davon ab, wie ihre Ziele und Gegenstände gesellschaftliche verstanden werden (Singelnstein/Stolle 2006: 120 ff., 138 ff.)
In diesem Sinne wird eine über einzelne, konkrete Fragen hinausgehende Veränderung hier erst möglich, wenn sich das gesellschaftliche Bild von Abweichung und Kontrolle, Sicherheit und Freiheit, Risiko und sozialen Problemen wandelt. Erst dann werden den hier wirkenden Akteuren und Politiken die Grundlagen entzogen. So lange von einer breiten Mehrheit ein unbedingtes Streben nach umfassender Sicherheit favorisiert und als notwendig angesehen wird, so lange kein Problembewusstsein beispielsweise gegenüber einer weitgehenden, auch freiwilligen Preisgabe von persönlichen Daten und Privatsphäre existiert, und so lange das derzeit dominierende Bild von Abweichung und Kriminalität als zentraler und zu bekämpfender Bedrohung sich durchsetzen, wird sich die bisherige Entwicklung fortsetzen. Die wesentliche Gefahr besteht dabei nicht in einer Abschaffung oder einem schrittweisen Verschwinden des Rechtsstaates. Als bedeutsamer muss vielmehr die schleichende Umdeutung der grundgesetzlichen Werte, Begriffe und Regelungen angesehen werden, die zu einem schon heute zu konstatierenden grundlegenden Wandel führt.
Literatur
Albrecht, Peter-Alexis 2005: Kriminologie, 3. Aufl., München.
Castel, Robert 2005: Die Stärkung des Sozialen. Leben im neuen Wohlfahrtsstaat, Hamburg. Eisenberg, Ulrich 2005: Kriminologie, 6. Aufl., München.
Feeley, Malcolm M.; Simon, Jonathan 1992: The New Penology. Notes on the Emerging Stratgey of Corrections and its Implications; in: Criminology, Jg. 30, S. 449-474.
Frehsee, Detlev 2003: Der Rechtsstaat verschwindet. Strafrechtliche Kontrolle im gesellschaftlichen Wandel von der Moderne zur Postmoderne. Gesammelte Aufsätze, Berlin.
Funk, Albrecht 2007: Risiko- und Sicherheitsmanagement. Von den Gefahren einer neuen Sicherheitslogik; in: Bürgerrechte & Polizei / Cilip, H. 86 (1/2007), S. 16-24.
Garland, David 1996: The Limits of the Sovereign State. Strategies of Crime Control in Contemporary Society; in: British Journal of Criminology, Jg. 36, S. 445-47.
Garland, David 2001: The Culture of Control. Crime and Social Order in Contemporary Society, Oxford.
Groenemeyer, Axel 2003: Soziale Probleme und politische Diskurse — Konstruktion von Kriminalpolitik in sozialen Kontexten. Soziale Probleme, Gesundheit und Sozialpolitik — Materialien und Forschungsberichte Nr. 3, Bielefeld.
Haffke, Bernd 2005: Vom Rechtsstaat zum Sicherheitsstaat; in: Kritische Justiz, Jg. 38, S. 17-35. Hassemer, Winfried 2005: Sicherheitsbedürfnis und Grundrechtsschutz: Umbau des Rechtsstaats?; in: Strafverteidiger-Forum 2005, S. 312-318.
Krasmann, Susanne 2003: Die Kriminalität der Gesellschaft. Zur Gouvernementalität der Gegenwart, Konstanz.
Kunz, Karl-Ludwig 2005: Kriminologie, 4. Aufl., Bern u. a.
Legnaro, Aldo 1997: Konturen der Sicherheitsgesellschaft. Eine polemisch-futurologische Skizze; in: Leviathan 1997, S. 271-284.
Legnaro, Aldo 2000: Aus der neuen Welt: Freiheit, Furcht und Strafe als Trias der Regulation; in: Leviathan, Jg. 28, S. 202-220.
Lemke, Thomas 1997: Eine Kritik der politischen Vernunft. Foucaults Analyse der modernen Gouvernementalität, Hamburg/Berlin.
Lindenberg, Michael; Schmidt-Semisch, Henning 2000: Komplementäre Konkurrenz in der Sicherheitsgesellschaft. Überlegungen zum Zusammenwirken staatlicher und kommerzieller Sozialer Kontrolle; in: Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform, Jg. 83, S. 306-319.
Naucke, Wolfgang 1999: Konturen eines nach-präventiven Strafrechts; in: Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft, Jg. 82, S. 336-354.
O’Malley, Pat 1996: Risk and Responsibility; in: Barry, Andrew et al. (Hrsg.): Foucault and Political Reason. Liberalism, Neo-Liberalism and Rationalities of Government, Chicago/London, S. 189-207
Puschke, Jens 2005: Online-Strafanzeigen aus kriminologischer Sicht; in: Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform, Jg. 88, S. 380-390.
Pütter, Norbert 2007: Prävention. Spielarten und Abgründe einer populären Überzeugung; in: Bürger-rechte & Polizei / Cilip, H. 86 (1/2007), S. 3-15.
Singelnstein, Tobias; Stolle, Peer 2006: Die Sicherheitsgesellschaft. Soziale Kontrolle im 21. Jahrhundert, Wiesbaden.

nach oben