Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 178: Vom Rechtsstaat zur Sicherheitsgesellschaft

Editorial

Aus: vorgänge Nr.178, Heft 2/2007, S. 1-4

Am 11.09.2001 schlugen die Terroristen zu. Das World Trade Center wurde zerstört. Am 09.11.2001 schlug der Rechtsstaat zurück. Das erste Paket von Anti-Terror-Gesetzen wurde erlassen, gut einen Monat später, am 14.12.2001, folgte das zweite, seitdem unzählige weitere. Bei seinem Zurückschlagen erlitt der Rechtsstaat selbst einen Rückschlag. Bereits im Herbst 2002 warnte der frühere Bundesverfassungsrichter Winfried Hassemer in dieser Zeitschrift: „Im Spannungsfeld von Freiheit und Sicherheit bewegen wir uns seit geraumer Zeit hin zum Pol der Sicherheit. Das geht zu Lasten der Freiheit“.

Nun legt dieses Bild der beiden Pole die Vermutung nahe, es könne zwischen Freiheit und Sicherheit eine Art Gleichgewicht, eine aristotelische Mitte geben, die zu finden Aufgabe guten Regierens sei. Für diese Sichtweise machte sich zumindest der damalige Bundesinnenminister Otto Schily stark, der dem Pol der Sicherheit nicht nur faktisch, sondern flankierend auch normativ mehr Gewicht geben wollte, als er auf den Strafrechtler Josef Isensee rekurrierend schon am 29.10.2001 die Linie vorgab , dass er sich „an dem Grundrecht auf Sicherheit“ orientiere. Denn, „wer durch Terror und Kriminalität bedroht wird, lebt nicht frei. Das Grundrecht auf Sicherheit steht auch, zwar nicht direkt, aber sehr wohl indirekt, im Grundgesetz“.

Dass dieses „indirekte“ Grundrecht weit mehr als die formulierten von Schily und seinem Amtsnachfolger gehegt und gepflegt wurde, wird von Straf- und Bürgerrechtlern seitdem immer wieder heftig kritisiert. Dass dieses indirekte Grundrecht keines ist, dass gegen andere gewogen werden könne, wird von Verfassungsrechtlern ebenso ins Feld geführt, wie die sich daraus ergebende Erkenntnis, dass zwischen Sicherheit und Freiheit kein Gleichgewicht besteht, sondern bei Einschränkungen der Freiheit die „Sicherheit“ die Beweislast dafür zu übernehmen hat, dass ihre Maßnahmen geeignet, erforderlich und angemessen sind. Viele Sicherheitsgesetze wurden an diesen Kriterien juristisch gewogen, die meisten für zu leicht befunden. Gleichwohl genießen sie die Wertschätzung der Bevölkerung, Gegner ihrer Einführung stehen im Ruch der Vorgestrigkeit. Nicht nur das Klima des Rechtsstaatsdiskurses, sondern auch der Rechtsstaat selbst hat sich gewandelt. Dieser Wandel wurde zwar durch den nine-eleven beschleunigt, setzte damit allerdings nicht ein. Seine Wurzeln reichen zurück bis in die siebziger Jahre, lange Zeit versuchte die Zunft der Juristen sein Wachsen mit der Steinplatte rechtsstaatlicher Grundsätze zu deckeln. Er erwies sich als zäher.

Mittlerweile ist ein Streit unter den Rechtsgelehrten darüber ausgebrochen, ob die Wahrnehmung dieses Wandels seine Anerkennung bedeutet. Ausgelöst hat diesen Streit der emeritierte Rechtsprofessor Günther Jakobs mit seiner Theorie des Feindstrafrechts. Er sieht sein Metier von Zielen bestimmt, die mit rechtstaatlichen Grundsätzen wenig vereinbar sind, gleichwohl eine immer größere Bedeutung entfalten. Wir wollen in dieser Ausgabe der vorgänge den Fragen nachgehen, wie das Recht sich wandelt, welche Grundsätze aufgegeben werden und was das für eine Sicherheit ist, der sie vermeintlich geopfert werden. Einführend zeichnet Fritz Sack die Kontroverse um Jakobs Thesen nach und unterzieht das Selbstverständnis und die Selbstverständigung der juristischen Zunft einer kritischen Bestandsaufnahme. Er konstatiert eine schwindende gesellschaftliche Bedeutung ihrer rein rechtsstaatlichen Argumentation, er hinterfragt ihre Selbstbezüglichkeit und plädiert dafür, den Blick zu weiten, hin zu den ökonomischen und gesellschaftlichen Determinanten des Rechts.

Peter-Alexis Albrecht spricht mit Blick das aktuelle Strafrecht von einem „symbolischen Risikostrafrecht“. „Es nimmt Abschied von der Allgemeinheit und der Gleichheit der Rechtsanwendung und leitet die Informalisierung des Rechts ein „. Der Rechtsanwender könne das Recht anwenden, wenn er will, er könne es aber auch lassen. Diese Rechtsopportunität führe zu einem gehaltlosen Rechtsbegriff, der sich im Ergebnis gleichheitverletzend und willkürlich darstelle. In Albrechts Augen strebt dieses „nachpräfentive Strafrecht“, getragen vom Kampf gegen den Terror, globale Herrschaftssicherung an.

Manfred Kutscha ruft in Erinnerung, dass staatliche Eingriffe in die bürgerlichen Freiheitsrechte nicht erst seit dem 11.9.2001 zu verzeichnen sind, sondern weit in die Geschichte der Bundesrepublik zurückreichen. Und er weist darauf hin, dass sich im Schutz gegen diese Eingriffe, das Bundesverfassungsgericht den Ruf des in der Bevölkerung beliebtesten Verfassungsorgans errungen hat. Das Bundesverfassungsgericht hat sich auch in den letzten Jahren als das relevanteste Korrektiv der Sicherheitsgesetzgebungen erwiesen. Allerdings hängt seine Durchsetzungsmacht davon ab, dass sich die die Bevölkerung mit ihm identifiziert. Verfassungspatriotismus war und ist aber eine auch von der politischen Linken nicht immer gepflegte Tugend.

Die Trennung von Verfassungsschutz und Polizei gilt als eine der elementaren Lehren, die aus dem Nationalsozialismus gezogen wurden, auch wenn deren verfassungsrechtliche Normierung keineswegs eindeutig ist. Christoph Gusy und Kristine Pohlmann sehen mit der engeren Verzahnung der Dienste, die durch die Sicherheitsgesetze intendiert wurde, eine Aufhebung dieser Trennung zwar nicht als gegeben, wohl aber als ermöglicht an. Denn es gehört schon eine enorme rechtliche Selbstdisziplin dazu, wenn man sich in gemeinsamen Lagezentren trifft und über Anti-Terrordateien Daten austauscht, nicht mehr als das jeweils Zulässige preiszugeben. Um diese Disziplin zu stärken, empfehlen die beiden Autoren, die beteiligten Beamten datenschutzrechtlich stärker zu sensibilisieren.

Was unter dem Rubrum der Terrorbekämpfung an neuen Gesetzen eingeführt wurde, ist eingebettet in einen allgemeinen Trend der Rechtsverschärfung. Neben der Figur des Terroristen sind es vor allem die des jugendlichen Intensivtäters und die des resozialisierungsresistenten Sexualstraftäters, die den Ruf nach schärferen Sanktionen laut werden lassen, sobald sie die öffentliche Arena betreten. Wer den Wandel des Rechtsstaates in den Blick nimmt, sieht zu kurz, wenn er ihn auf den Kampf gegen den Terrorismus reduziert.

Zur Verfolgung jugendlichen Intensivtätern sind mittlerweile Sonderabteilungen bei den Staatsanwaltschaften eingerichtet worden. Sie nehmen nicht mehr nur eine Straftat, sondern einen Tätertypus in den Blick. Die Zuschreibung, das macht die Ausführung von Jens Puschke klar, führt zu einer umfassenden, frühzeitigen sozialen Kontrolle, zur Abkehr von jugendstrafrechtlichen Grundsätzen und zu einer Verletzung rechtsstaatliche Verfahrensregeln. Puschke sieht den Versuch der Erhöhung der Präventionswirkung durch die Zusammenarbeit zwischen Strafverfolgungsbehörden und Schulen sowie Jugendeinrichtungen sowie die in weiteren Bereichen sichtbar werdende Vernetzung von präventiv-polizeilicher, ausländer- und strafverfolgungsbehördlicher Tätigkeit kritisch.

Lorenz Böllinger attestiert den neuen Regelungen zur Sicherungsverwahrung, dass sie keinerlei empirisch fassbaren Nutzwert, wohl aber mit Sicherheit negative Auswirkungen auf das Ziel der Resozialisierung haben. Die Vorschriften seien das typische Beispiele für einen überschießenden Kontroll- und Ausschließungs -Furor, für eine oberflächliche, dysfunktionale, lediglich vermeintlichen Wählerinteressen entsprechende, symbolische Politik.

Videoüberwachung gilt gemeinhin als die Inkarnation staatlichen Kontrollbedürfnisses. Nils Leopold macht in seinem Beitrag deutlich, dass dieses Bild schief ist, denn in Deutschland wird die überwiegende Zahl der Kameras von privaten Personen, Firmen und Institutionen betrieben. Hier sieht er denn auch den größeren rechtlichen Regelungsbedarf.

Stefan May analysiert das gestiegene Bedürfnis nach Sicherheit im Lichte der Beck`schen Theorie der Risikogesellschaft, als deren stille Begleiterin er die „Präventionsgesellschaft“ ausmacht. Deren Anstrengungen sind darauf gerichtet, Schadenspotenziale berechenbar und beherrschbar zu machen. Mit den unbestreitbar gestiegenen Sicherheitsstandards wird dieses Bedürfnis allerdings nicht befriedigt, sondern vielmehr weiter angeheizt. Der 11.9.2001 habe dieser Präventionsdynamik eine neue, globale Dimension gegeben.

Günter P. Stummvoll beobachtet eine Infiltration des Rechtssystems durch Praktiken des Risikomanagements. Während das Strafrecht repressiv wirkt, fokussiert eine proaktive Politik der Risikovermeidung alleine auf die Wahrscheinlichkeit von zukünftigen Ereignissen. Sicherheitsproduktion ist nicht mehr alleine Aufgabe des Staates, vielmehr liegen plurale Verantwortlichkeiten vor, die je nach Situation Sicherheit für bestimmte NutzerInnen garantieren.

Tobias Singelnstein befürchtet, dass die neuen Formen der Sozialkontrolle rechtsstaatliche Standards untergraben. Dagegen biete auch die Verfassung kaum Schutz, denn auch sie unterliege einem inhaltlichen Wandel und verliere an Bindungswirkung, etwa in der Frage, wie weit der absolut geschützte Kernbereich persönlicher Lebensgestaltung reiche. In der schleichenden Umdeutung der grundrechtlichen Werte erkennt er die große Gefahr.

Im Essay geht Katrin Toens der politischen Kontingenzerzeugung durch die Reformen des Sozialstaates nach. Die Politik der Aktivierung des Einzelnen steigert nicht die Autonomie, denn ihr wohnt ein Zwang inne. Da die marktvermittelte Kontingenzerzeugung sich dem Einfluss des Staates entzieht, drückt sich in der strategischen Kontingenzerzeugung auch ein Mangel an Gestaltungsmacht aus, den der Staat überspielen muss. Traditionelle Gerechtigkeitspolitik ist unter diesen Bedingungen kaum mehr realisierbar.

Michael Th. Greven stößt im Bericht der Parlamentarischen Versammlung des Europarates auf besorgniserregende Befunde zum Zustand der Demokratie und der Menschenrechte in Europa.

Inge Günther analysiert die disparaten gesellschaftlichen Lager Israels und ihre politischen Interessen. Ihr Fazit: keine Regierung werde sich derzeit an eine Zwei-Staaten Lösung wagen, dazu bedürfe es des Druckes von außen.

Rezensionen der Bücher „Die Identitätsfalle“ von Armatya Sen und „Die Staatsbedürftigkeit der Gesellschaft“ von Berthold Vogel runden diese Ausgabe der vorgänge ab, zu der ich Ihnen wie immer eine anregende Lektüre wünsche.

Ihr

Dieter Rulff

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