Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 188: Die ungebildete Republik

Bildungs­gipfel - Bildungs­täler

Reformbedarf an deutschen Schulen;

aus: vorgänge Nr. 188, Heft 4/2009, S. 85-93

I. Erkennt­nisse aus den Schüler­leis­tungs­ver­glei­chen

Mit den internationalen Vergleichsstudien TIMSS 1995, PISA und IGLU hat sich die Debatte um Bildung in Deutschland kräftig wieder belebt und sie hat sich auch qualitativ sehr verändert. Während ein Schwerpunkt der Reformen in den 60er und 70er Jahre die quantitativen Dimensionen des Systems waren, steht in der neueren Debatte die Qualität und die Leistungen der Schüler im Vordergrund. Die Ergebnisse der TIMS-
Studien, die 1996 präsentiert wurden, waren in ihrer öffentlichen Wahrnehmung noch begrenzt, mit PISA und IGLU änderte sich das ab 2001 schlagartig.

Die erste PISA-Erhebung startete im Jahr 2000, ihr folgten die nächsten im Jahr 2003 und 2006. PISA untersucht die Kompetenzen von fünfzehnjährigen Schülerinnen und Schülern in den Bereichen Mathematik, Lesen und Naturwissenschaften. In jeder Erhebungsrunde wird jeweils eine Domäne als Schwerpunktgebiet vertieft analysiert. Zusätzlich werden fächerübergreifende Kompetenzen erhoben. Darüber hinaus werden die Schülerinnen und Schüler über ihre Wahrnehmung von Schule und Unterricht sowie über Merkmale der familiären Umgebung befragt. Auf diese Weise kann analysiert werden, inwieweit Merkmale der sozialen und kulturellen Herkunft mit Unterschieden in der Kompetenz verbunden sind.

Hier sollen nicht im Einzelnen die Befunde dargestellt werden. Sie werden im Großen und Ganzen als bekannt vorausgesetzt. Zusammengefasst kann aber festgehalten werden, dass die Leistungen der Grundschüler oberhalb des OECD-Durchschnitts lagen, keine Viertklässlerpopulation der Europäischen Union schneidet besser ab. Der Anteil der „Risikokinder“, also derjenigen unter der Kompetenzstufe III am Ende der vierjährigen Grundschulzeit ist in Deutschland vergleichsweise gering, allerdings ist der Anteil der Spitzenleser ( Kompetenzstufe V) mit 10,8 Prozent wiederum unbefriedigend. Zwar hat sich die Differenz zwischen den Lesekompetenzen von Kindern mit Migrationshintergrund im Vergleich zu denen deutscher Herkunftssprache verringert, liegt aber noch deutlich über dem internationalen Durchschnitt.

PISA 2006 hatte den Vergleich der naturwissenschaftlichen Kompetenzen zum Schwerpunkt, maß aber auch den jeweiligen Stand in Mathematik und im Leseverständnis der 15jährigen. Die erfreuliche Nachricht war: Mit 516 Punkten in den Naturwissenschaften schneiden Jugendliche in Deutschland deutlich besser ab als vor 5 Jahren, allerdings haben sich Lese- und Mathematikkompetenz nicht wesentlich verbessert. Der Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Kompetenzerwerb hat sich in allen Bereichen abgeschwächt, liegt aber noch deutlich über dem OECD-Durchschnitt. Die Unterschiede zwischen Jugendlichen mit und ohne Migrationshintergrund sind in Deutschland nach wie vor besonders hoch.

Die Ergebnisse der PISA-Studien haben in kaum einem Land so eine öffentliche Resonanz nach sich gezogen, oft auch schon als „typisch deutsch“ karikiert. Vermutlich hat aber die Aufregung mehrere gewichtige Gründe, die in der großen Diskrepanz zwischen den Erwartungen an die Studien und der Vermutung über die Qualität des deutschen Schulsystems und den tatsächlichen Ergebnissen der Schüler liegen.

Das deutsche Schulsystem galt in Deutschland gemeinhin als etwas Besonderes und mit dem Gymnasium immer welteliteverdächtig. Auch aus diesem Grund waren in der TIMS-Studie deutsche Schulen für Videobeobachtungen ausgesucht worden, vermutete man doch hier besonders gute Beispiele von gelingendem Unterricht. Ebenso galt die Überzeugung, dass das deutsche Schulsystem mit den Grundsätzen der Staatlichkeit und der Unentgeltlichkeit das Prinzip der Chancengleichheit bestens erreichen würden, waren wir doch sicher, dass angelsächsische, insbesondere amerikanische Schulen mit ihren sehr unterschiedlichen finanziellen Ressourcen je nach Finanzkraft der Kommunen die Ungleichheit geradezu produzierten. Drittens galt der deutsche traditionsreiche Bildungsbegriff den profanen angelsächsischen Kompetenzorientierungen als überlegen, war er doch die Grundlage des europäischen Kulturgutes.

Diese Überzeugungen sind durch die Ergebnisse von TIMSS, PISA und IGLU gründlich ins Wanken geraten. Dass die Ergebnisse nun gerade Deutschland die hohe soziale Selektivität des Schulsystems bescheinigten, war kaum zu glauben Dass ein großer Anteil der 15jährigen Jugendlichen offensichtlich weder europäische Kulturgutträger werden noch über ausreichende Basiskompetenzen verfügen, die zur Bewältigung und Gestaltung des Lebens notwendig sind, war gewöhnungsbedürftig. Zudem war die bildungspolitische und pädagogische Diskussion – von der Schule über die Politik und die Wissenschaft – bis Mitte der 90er Jahre überwiegend überzeugungsbasiert, um nicht zu sagen ideologiebehaftet. PISA wirkte auch deshalb schockierend, weil hier die Empirie einige dieser Überzeugungen in Frage stellte. Länder, die schon länger an empirische Begleitung ihrer Bildungssysteme gewohnt sind, tun sich im Umgang mit den internationalen Leistungsvergleichen auch deshalb leichter.

Die Belebung der Debatte hat ihr Gutes, gibt es doch Grund genug zu Reformen und Handlungsbedarf. Allerdings haben viele Reaktionen und Reformforderungen auf die 70er Jahre zurückgegriffen und der Verweis auf die PISA-Ergebnisse musste für beliebte alte ideologische Schlachten herhalten. Die PISA-Befunde eignen sich nicht dazu, direkte kausale Zusammenhänge herzustellen. Auch die Wissenschaftler – insbesondere das deutsche PISA-Konsortium – sind außerordentlich zurückhaltend darin, Ursachen für die Befunde zu identifizieren.

II. Handlungs­ka­talog der KMK und Reform­maß­nahmen

Unmittelbar nach Vorliegen der ersten PISA-Ergebnisse hat die Kultusministerkonferenz neben einer ersten Einschätzung der Ergebnisse Handlungsfelder benannt, die vorrangig bearbeitet werden sollten. Dazu gehörten: Maßnahmen zur Verbesserung der Sprachkompetenz bereits im vorschulischen Bereich, Maßnahmen zur besseren Verzahnung von vorschulischem Bereich und Grundschule mit dem Ziel einer frühzeitigen Einschulung, Maßnahmen zur Verbesserung der Grundschulbildung und durchgängige Verbesserung der Lesekompetenz und des grundlegenden Verständnisses mathematischer und naturwissenschaftlicher Zusammenhänge, Maßnahmen zur wirksamen Förderung bildungsbenachteiligter Kinder, insbesondere auch der Kinder und Jugendlichen mit Migrationshintergrund, Maßnahmen zur konsequenten Weiterentwicklung und Sicherung der Qualität von Unterricht und Schule auf der Grundlage von verbindlichen Standards sowie eine ergebnisorientierte Evaluation, Maßnahmen zur Verbesserung der Professionalität der Lehrertätigkeit, insbesondere im Hinblick auf diagnostische und methodische Kompetenz als Bestandteil systematischer Schulentwicklung, Maßnahmen zum Ausbau von schulischen und außerschulischen Ganztagsangeboten mit dem Ziel erweiterter Bildungs- und Fördermöglichkeiten, insbesondere für Schülerinnen und Schüler mit Bildungsdefiziten und besonderen Begabungen. Im Herbst 2007 wurde die Verringerung der Zahl der Schulabbrecher als Ziel festgelegt sowie im Frühjahr 2008 eine Qualifizierungsoffensive für Deutschland beschlossen.

Die Maßnahmen, die in der Folge ergriffen wurden, sind durchaus bemerkenswert und es ist falsch, andauernd die Reformunfähigkeit der KMK zu beschwören.

Die Arbeit der Kitas wird mit Bildungsplänen und Fortbildungen für Erzieherinnen deutlich aufgewertet. Die Einführung der flexiblen Eingangsstufe in der Grundschule in vielen Ländern der Republik soll den Übergang von der Kita in die Grundschule erleichtern und durch die Altersmischung die Individualisierung des Unterrichts und der Lerngelegenheiten befördern. Dass die Art und Weise der Einführung und die Unterstützung der Lehrkräfte dabei häufig noch zu wünschen übrig lässt, steht auf einem anderen Blatt. Das Ganztagsschulprogramm der Bundesregierung, das nach einigem Zögern einiger Bundesländer dann doch angenommen wurde, hat ganz erheblich zum Ausbau beigetragen.

Die Einrichtung eines bundesweiten Instituts zur Qualitätssicherung im Bildungswesen, ähnliche Einrichtungen in vielen Ländern, die Verabschiedung von Bildungsstandards und zentralen Abschlüssen sind Maßnahmen mit erheblichen Folgen. Bei der Erarbeitung der Standards ist die Vereinbarung von Regelstandards allerdings noch verbesserungsbedürftig. Wichtig wären Minimalstandards in Kompetenzfeldern, die am Ende der Schulzeit von allen Schülern erworben sein müssen. Dies würde in der Tat auch die Pflicht der Schule nach sich ziehen, darüber Rechenschaft abzulegen, dass Jugendliche nicht die Schule verlassen können, ohne über ein Fundament zu verfügen, das sie zur Bewältigung des Lebens befähigt. Die Vergleichsarbeiten, die regelmäßig in mehreren Klassenstufen geschrieben werden, liefern – wenn auch noch in der Entwicklung begriffen – Informationen über die Schülerleistungen in den Ländern. Hier gibt es noch erheblichen Bedarf darin, die Schulleitungen und die Lehrkräfte zu qualifizieren, aus den Informationen über ihre Schüler Rückschlüsse für die Verbesserung ihrer Arbeit zu ziehen.

In vielen Ländern sind Qualitätsrahmen für die Schulentwicklung und Inspektionssysteme geschaffen worden, die nicht nur mehr Informationen über die Qualität der Schulen liefern, sondern auch versuchen, Impulse für Schulentwicklungen zu geben.

Fast alle Länder haben ihre Schulgesetze dahingehend geändert, dass Schulen eine größere Selbstständigkeit für ihre Arbeit und damit auch Verantwortung übernehmen sollen. Allerdings kann vielfach beobachtet werden, dass zwar die so genannte Output-Steuerung zunimmt (anhand der Vergleichsarbeiten und zentralen Abschlüsse), aber die Schulverwaltungen noch lange nicht darauf verzichten, die Vorgaben für die Schulen kleinteilig festzuschreiben. In vielen Ländern ist die Schulstruktur in Bewegung und die Zweigliedrigkeit, Gymnasium und Sekundarschule (unter verschiedenen Namen) ist deutlich auf dem Vormarsch.

Ein großes Problem allerdings bleibt die Lehrerausbildung. Die Reformen beim Bachelor und Master lassen den großen Bedarf an diagnostischen Kompetenzen und die Förderung der Lehrkräfte durch eine bessere pädagogische Qualifizierung noch weitgehend außen vor. Insgesamt stöhnen die Schulen eher über ein Zuviel an Maßnahmen und den angefangenen Maßnahmen steht ganz eindeutig keine genaue Beobachtung ihrer Wirkungen zur Seite. Die wissenschaftliche Begleitung und Beobachtung der Wirkungsweise der Maßnahmen – insbesondere was die Förderung von benachteiligten Kindern angeht – ist noch eine offene Baustelle.

Vielfach wird die föderale Struktur der Bundesrepublik mit der Länderhoheit für Bildung für die vermeintliche Reformunfähigkeit haftbar gemacht. Abgesehen von der Tatsache, dass niemand weiß, ob bei einer zentralen Zuständigkeit die Entscheidungen besser wären, zeigen andere Staaten wie Kanada und die Schweiz, die ebenfalls föderal organisiert sind, andere Ergebnisse. Hier obsiegt offenbar ein pragmatischerer Umgang mit Lösungsstrategien und hilft, Konsense zu finden. Möglicherweise ist bei uns nach wie vor nicht so sehr die föderale Struktur der Ballast, sondern die hohe ideologische Besetzung des Themas. Unabhängig davon ist es aber gar nicht nachvollziehbar, dass sich Bund und Länder in der Bildungspolitik – außer in der Forschung – ein Kooperationsverbot auferlegt haben.

III. Unter­be­lich­tete Reform­be­darfe

Alle empirischen Befunde belegen, dass der Umgang des deutschen Schulsystems mit Benachteiligten außerordentlich schlecht gelingt. Warum gelingt es öffentlichen Schulen in Deutschland schlechter als Schulen in anderen Ländern, Nachteile aufgrund familiärer und sozialer Herkunft auszugleichen. Auch die Verbesserungen der Schülerleistungen, die PISA 2003 gegenüber den Ergebnissen von 2000 aufweist, finden sich wiederum vor allem im oberen Leistungsbereich und nicht bei den benachteiligten Hauptschülern.

Bei der Suche nach Ursachen sollen im Folgenden zwei Aspekte beleuchtet werden, die bisher in der öffentlichen Debatte wenig Beachtung finden:

III.1. Schüler­leis­tungen und Kontext­be­din­gungen

Schülerleistungen hängen wesentlich von der Leistungsorientierung der Schule, der Lehrkräfte, der Eltern, dem schulischen Umfeld und den politischen Vorgaben ab. Hohe konsistente Leistungsanforderungen verbunden mit einem lernfreundlichen Klima sind die besten Voraussetzungen für hohe Schülerleistungen. Dies ist zunächst mal eine banale Erkenntnis. Die Frage ist aber, wodurch die Leistungsbereitschaft von Schülern und die Leistungsorientierung der übrigen Akteure gefördert werden.

Wenn man z.B. Schulalltag und Schulkulturen in Kanada und Deutschland vergleicht, so fällt auf, wie unterschiedlich mit Leistung und Leistungsorientierung umgegangen wird. Während kanadische Schüler selbstverständlich bei Umfragen angeben, in der Schule ihr Bestes geben zu wollen, in Klassenzimmern als „the best of the week“ ausgezeichnet werden, Lernfortschritte an der Wand für alle sichtbar dokumentiert werden, würden sich deutsche Schüler häufig eher dem Strebervorwurf ausgesetzt sehen. Auch bei Lehrkräften wird Leistungsorientierung schnell mit Ausgrenzung verbunden und der Sorge, dass schwächere Schüler verlieren könnten. Offensichtlich ist die Eindeutigkeit, mit der die Kategorie Leistung besetzt ist, in Ländern unterschiedlich ausgeprägt.

„Zahlreiche Forschungsarbeiten zeigen, dass die Erwartungen, die Lehrkräfte hinsichtlich der Potenziale und Leistungen ihrer Schülerinnen und Schüler haben, deren tatsächliche Bildungsverläufe beeinflussen können. Lehrkräfte erwarten von Schülerinnen und Schülern aus unteren sozialen Schichten, aus eingewanderten Familien oder ethnischen Minderheiten häufig weniger. Die Sensibilität für milieubedingte Verhaltensweisen ist oft nicht hinreichend ausgeprägt. Dies gilt insbesondere gegenüber türkischen und arabischen Jugendlichen. Die Kultivierung des Lernens, die Generalisierung der Lernbereitschaft und die Fähigkeit, den Lebensverlauf als Lernprozess zu verstehen und zu gestalten, ist das entscheidende Ziel einer Bildung, die die Kinder und Jugendlichen der Risikogruppe aus der Exklusionsfalle herausführen soll. „Sie muss dabei im Auge behalten, dass nicht in falsch verstandener Nachsicht die Zuschreibung einer Opferrolle überhand nimmt und die Stärkung der Leistungsbereitschaft und des Selbstvertrauens zur selbstständigen Meisterung des Lebens in den Hintergrund tritt. Für gelingende schulische Bildungsprozesse braucht es auch eine außerschulische Kultur, die Leistungsanforderungen und Leistungsbereitschaft wertschätzt, sowie die realistische Aussicht, dass sich schulische Anstrengungen für den weiteren Lebenslauf auch lohnen und dass also Leistung herkunftsbedingte Ungleichheit mindern kann.“[1]

„Haltungen und Einstellungen der Personen in der unmittelbaren und medialen Umwelt haben Auswirkungen auf die Entwicklung der Selbstbilder und der Leistungsbereitschaft von Kindern und Jugendlichen. Dies gilt auch für die Erwartungshaltungen von Lehrkräften an Kinder und Jugendliche unterschiedlicher Herkunft. Die „selffulfilling prophecy“ im Bildungsbereich ist hinreichend erforscht

Unter diesem Gesichtspunkt sollten auch die Ergebnisse der Studien zwischen den Ländern der Bundesrepublik analysiert werden. Seit Beginn der Ländervergleiche in Deutschland bringt der Süden bessere Ergebnisse hervor als die Nordländer. Bei der Lesekompetenz liegen 2006 Sachsen, Bayern, Thüringen und Baden-Württemberg bei 500 Kompetenzpunkten und mehr, Niedersachsen, Mecklenburg-Vorpommern, Hamburg und Bremen liegen bei 484 und weniger, also deutlich unter diesem Leistungslevel. 2003 lagen die Länder bei den Kompetenzpunkten zwar etwas niedriger, aber auch da führten die vier Südstaaten die Liste an, bei den Nordlichtern war allerdings Brandenburg noch schlechter als Niedersachsen; 2000 war die Verteilung vergleichbar. Manfred Prenzel, der Leiter der PISA-Studie 2006, hat zur Erläuterung der Ergebnisse auf die klare Leistungsorientierung und die höheren Qualitätsstandards in sächsischen Schulen verwiesen. Auch Familien, die zwischen Nord und Süd die Schule wechseln, erleben deutliche Leistungsunterschiede. In den bildungspolitische Debatten wird in der Selbst- oder der Fremdwahrnehmung der Süden meist als konservativ und der Norden gern als fortschrittlich gesehen. Hier soll keine Wertung der Bildungspolitik in den Ländern vorgenommen werden. Es könnte aber sein, dass in den Ländern der Südschiene der Konsens zwischen Schule und gesellschaftlichem Umfeld über ein positives Verhältnis zu Leistung und Anstrengungsbereitschaft größer ist als im Norden.

Es wäre schon interessant, wenn die Forschung stärker ihr Augenmerk auf solche Kontextbedingungen von Schule legen würde.

III.2. Bildungs­kanon als Selek­ti­ons­in­stru­ment

Das Grundverständnis von dem, was Bildung ausmacht, prägt die Auswahl von Lerngegenständen und hat eine eigene Wirkung, neben den Vorgaben der Rahmenpläne. Und dies kann in hohem Maße sozial selektiv wirken, ein Aspekt, der in der Bildungsdebatte häufig zu kurz kommt. „Die Misere des deutschen Bildungssystems hat ihren Ursprung in einer fatalen Asymetrie: Wir überfrachten den Bildungsbegriff und unterschätzen die Erziehungswirklichkeit.“[2]

Der Bildungsbegriff in vielen Debatten um Allgemeinbildung begründet sich in einer emphatisch als Kulturnation aufgeladenen Definition. Damit geht offensichtlich einher, dass die Wirklichkeit an den Schulen und das, was Jugendliche lernen können, ausgeblendet wird. PISA 2000 weist z.B. darauf hin, dass die Lehrplanexperten völlig falsche Vorstellungen von den Lernmöglichkeiten der Kinder und Jugendlichen haben.[3]

Die Aufladung des Bildungsbegriffs in der deutschen Debatte hat sehr viel mehr mit dem Bedürfnis nach Differenz und Abgrenzung zu tun als mit Integration. Sie knüpft nahtlos an die Tradition eines Bildungsbürgertums des 19. Jahrhunderts an, das Bildung ausschließlich als zweckfrei und fern jeden Nützlichkeitsstrebens definiert. Bildung wird ausdrücklich als Abgrenzung zur ökonomischen Massenproduktion reklamiert. Damit ist auch der Anspruch, alle Menschen an dieser Bildung teilhaben zu lassen und sich darum zu mühen, suspendiert.

Demgegenüber gehen die OECD und damit auch die PISA-Tests von einem Kompetenzansatz aus, in dem definiert wird, über welche Kompetenzen 15-Jährige in den Bereichen Textverständnis, Mathematik und Naturwissenschaften verfügen sollten. Um diese Ansätze hat es regelmäßig sowohl bei Pädagogen (Frankfurter Erklärung) wie im Feuilleton heftige Debatten gegeben. Die FAZ wie auch die Süddeutsche Zeitung[4] traten nach der Veröffentlichung der PISA II-Ergebnisse mit Artikeln wie „Bildung lässt sich nicht messen“ etc. an die Öffentlichkeit und beklagten, dass die gewählten Tests eher zur Dressur geeignet seien als dazu, Bildungsbürger auszuzeichnen. Wer nach Kompetenzen fragt und nach der Fähigkeit, in der Welt zurechtzukommen, macht sich immer schon ökonomischen Nützlichkeitsdenkens schuldig.

Das angelsächsische Curriculum wie auch z.B. das schwedische ist demgegenüber realistischer und pragmatischer und an der erfahrbaren Lebenswelt der Jugendlichen orientiert. Die Gegenstände haben einen größeren Anwendungsbezug und in der Schule kann man durchaus mit nicht kognitiven Fähigkeiten auch noch Erfolge haben. Wer erfolgreich an der Fußballmannschaft teilhat und dadurch auch noch Anerkennung gewinnt, fühlt sich möglicherweise mehr aufgehoben und schöpft Motivationsressourcen, um sich auch schwierigeren Aufgaben zuzuwenden.

Die Bildungskommission der Heinrich-Böll-Stiftung hat sich in ihrer 5. Empfehlung „Lernkonzepte für eine zukunftsfähige Schule-von Schlüsselkompetenzen zum Curriculum“[5] mit dieser Frage befasst und ebenfalls vorgeschlagen, vom Kompetenzansatz auszugehen. Sie hat sich damit auch dieser Kritik stellen müssen.

Der Kompetenzansatz geht nicht davon aus, dass Kompetenzen ohne Gegenstände erworben werden, sie müssen sich aber dadurch legitimieren, dass sie geeignet sind, von Lernenden verarbeitet werden zu können. Im Mittelpunkt steht die Person der Lernenden und deren Lernprozess, insofern gilt auch die wissenschaftliche Anstrengung diesem Prozess. Dieser Ansatz geht nicht davon aus, dass sich damit die Motivationsfrage erledigt habe, sie misst der Lernmotivation aber einen größeren Stellenwert zu.

Die Konzeption eines Kanons denkt vom Gegenstand her, der aus sich heraus Bindung stiften und motivieren soll. Dieser Ansatz ist auch meist an die Klasse als Kollektiv und nicht an den einzelnen Lernenden gerichtet. Angelsächsischer (z.B. kanadischer) Unterricht macht diesen Unterschied sehr deutlich: im Mittelpunkt der schulischen Bemühungen stehen Schülerinnen und Schüler und der persönliche Bezug ist bestimmend wie auch die Beziehungen zwischen den SchülerInnen Lerngegenstand sind.

Insofern erscheint es nicht sinnvoll, einen inhaltlichen Bildungsbegriff alternativ zum Kompetenzansatz aufzubauen. Kompetenzen sind das notwendige Fundament für die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben und die individuelle Handlungsfähigkeit. Dass dieser Zusammenhang nicht hergestellt und in ein vernünftiges Verhältnis gesetzt wird, könnte ein zentrales Problem unserer Schulen sein und mit dafür verantwortlich sein, dass ein großer Teil vor allem von Jugendlichen aus der Unterschicht kein Verhältnis zu den Inhalten entwickelt und damit auch keinen Erfolg in der Schule erreicht.

III.3. Falsche Verteilung von Verant­wor­tung

Die in Deutschland traditionell starke Außensteuerung der Bildungseinrichtungen (auch durch die herrschende Interpretation des Art. 7 GG) hat zu einer teils passiven Haltung der Akteure und zu unrealistischen Erwartungen an Dritte geführt. Dies aber ist gegenüber Bildungsprozessen, die eine sehr individuelle Form der Aneignung von Welt sind, höchst abträglich. Schon Dahrendorf hat in seinem Buch „Bildung als Bürgerrecht“ 1965 als zentrales Problem deutscher Schulen die ungeklärte Frage bezeichnet, wer Verantwortung für schlechte Schülerleistungen übernimmt. Diese Frage ist auch bei der IGLU-Untersuchung gestellt worden, mit dem Ergebnis, dass in keinem Bundesland mehr als 10 Prozent der befragten Schulen sich bei Schulversagen für zuständig erklärten.

Die Kategorie der Accountability oder der Rechenschaftspflichtigkeit ist in kanadischen und skandinavischen Schulen außerordentlich hoch besetzt. Eine solche Kategorie fehlt in deutschen Bildungseinrichtungen. Es liegt auf der Hand, dass die Selbstzuschreibung von Unzuständigkeit bei der Schule und auch bei den Lehrkräften den Blick darauf verschließt, welche Ergebnisse mit dem eigenen Unterricht erreicht werden. Die Steuerungssysteme und Vorgaben, die mehr Autonomie oder vorsichtiger formuliert mehr Selbstständigkeit für Schulen anpeilen, müssen die Kategorie der Verantwortung und der Rechenschaftspflicht für die Ergebnisse der Arbeit ins Zentrum rücken.

IV. Ausblick

Nach PISA sind durchaus viele und beachtliche Reformen angeschoben worden und die KMK ist vermutlich besser als ihr Ruf. Aber es sollte auch deutlich werden, dass die Reformmaßnahmen besser koordiniert, besser evaluiert und anschlussfähiger gestaltet werden müssen. Zudem sollte der Blick auf Felder gelenkt werden, die noch stärker bearbeitet werden müssen.

Dies gilt für die Auswahl schulischer Lerngegenstände und die Vergewisserung über die erreichten Kompetenzen. Schulische Inhalte müsse stärker an der Lebenswelt von Jugendlichen und an Kompetenzen, über die 15-und 16-jährige Jugendliche verfügen müssen, orientiert werden. Jugendliche brauchen die Gewissheit, dass Schulen ihnen das notwendige Fundament zur Verfügung stellen. Schulische Inhalte müssen sich vor allem an der Lebenswelt auch von Migrantenkindern orientieren, Anschlüsse zulassen und Einstiege erleichtern.

Die begonnenen Reformen bei der Entwicklung von Standards und klaren Leistungsorientierungen sind richtig und sollten weiterentwickelt werden. Sie müssen aber ergänzt werden durch Fortbildungen für Lehrkräfte, die helfen, Potentiale von Jugendlichen zu erkennen und zu ermutigen. So müssen Lehrkräfte darin qualifiziert werden, Informationen aus den Ergebnissen von Vergleichsarbeiten zu ziehen und Schlussfolgerungen für das pädagogische Angebot der Schule und ihren Unterricht zu ziehen. Maßnahmen zur Förderung müssen gelernt werden. Klare Qualitätsvorgaben und Leistungsorientierung werden durch Vergleichsarbeiten und zentrale Prüfungen unterstützt, wenn auch dafür gesorgt wird, dass diese Standards von den Akteuren angenommen werden und sie die Unterrichtsqualität beeinflussen. Dazu sollten Bildungsverträge zwischen Schule, Eltern und Schülern geschlossen werden, die die jeweiligen Rechte und Pflichten festlegen, wenn die Schulkarriere erfolgreich verlaufen soll. Zudem sollten Netzwerke von Paten und Mentoren, Betrieben, sozialen und kulturellen Einrichtungen um die Schulen gebildet werden, die Unterstützungen für die Schüler bringen. Es sollten mehr Mentoring-Programme eingerichtet werden, die Kinder aus benachteiligten Schichten sowohl in der Schule wie auch darüber hinaus begleiten. Kinder vor allem unterer Schichten müssen erleben, dass sich Anstrengungen lohnen.

Bildungsverträge und die Öffnung von Schulen für die Kooperation mit außerschulischen Partnern können die Verständigung darüber befördern, was Zielsetzung von Bildungsprozessen und Erwartungen an den jeweils eigenen Beitrag dazu sein sollten. Auch hierdurch sollen Eigenaktivität und Eigenverantwortung gestärkt werden und weniger die Neigungen, jeweils andere für Misserfolge verantwortlich zu machen. Hohe Leistungserwartungen, verbunden mit dem Zutrauen, dass Kinder und Jugendliche diese auch erfüllen können, und eine lernfreundlichen Umgebung sind die besten Garanten für gute Leistungen. Kinder und Jugendliche haben ein Recht auf optimistische Erwachsene.

[1] Heinrich Böll-Stiftung, Empfehlung der Schulkommission, Bildungsgerechtigkeit im Lebenslauf, H-J. Kuhn u. a. 2008 S.11.

[2] Wolf Lepenies, Bildungspathos und Erziehungswirklichkeit, in: Die Bildung der Zukunft, Kilius, Nelson, Kluge Jürgen u.a. Hrsg. Suhrkamp, FfM 2003, S. 15.

[3] PISA 2000, Deutsches PISA-Konsortium (Hrsg.) Opladen 2001, S.100ff.

[4] z.B. FAZ 9.12.2004, „Bildung läßt sich nicht messen“ von Heike Schmoll, SZ 6.12.04, „Borniert und blöd mit hoher Punktzahl“ von Jens Bisky, SZ vom 7.12.04, „Strebermann, geh du voran“ von Thomas Steinfeld.

[5] Bildungskommission der Heinrich-Böll-Stiftung (Hrsg) „Selbstständig lernen – Bildung stärkt Zivilgesellschaft“, Weinheim 2004.

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