Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 188: Die ungebildete Republik

Universität, Staat und Demokratie im Bologna-Pro­zess

Ein komplexes Wirkungsverhältnis unter Stress;

aus: vorgänge Nr. 188, Heft 4/2009, S. 19-32

Vor gut zehn Jahren bekannten sich die für Hochschulbildung zuständigen Minister aus neunundzwanzig Staaten an der historisch bedeutsamen Universität von Bologna zu der gemeinsamen Absicht, die Entstehung eines global wettbewerbsfähigen europäischen Hochschulraumes zu fördern. In feierlicher Stimmung wurde ein Dokument unterzeichnet, das fortan als die „Bologna-Erklärung“ durch die nationale Hochschulpolitik der beteiligten Länder gereicht werden sollte. Deutschland leistete gleich zwei Unterschriften, eine für den Bund und eine für die sechzehn Bundesländer. Im Zentrum der Erklärung stehen zwei grundlegende Maßnahmen, die Vereinheitlichung nationaler Hochschulsysteme in Richtung auf ein anglo-amerikanisches Bachelor-/Master-System und die Förderung der europäischen Zusammenarbeit in der externen Qualitätssicherung (Akkreditierung).

Mit der Bologna-Erklärung wurde ein europäischer Reformprozess eingeleitet, der mittlerweile 46 Staaten umfasst. Interministerielle Konferenzen, die alle zwei Jahre an wechselnden Orten Europas stattfinden, dienen der Weiterentwicklung politischer Ziele, der Präzisierung konzeptioneller Leitlinien und der Entwicklung von Strategien und Instrumenten der praktischen Implementierung. Mithilfe der Europäischen Kommission entstand eine komplexe Struktur des Prozessmanagements, die der Einbindung hochschulpolitisch organisierter Interessen und Expertennetzwerke in die Vor- und Nachbereitung interministerieller Treffen sowie der Evaluierung und Europapolitischen Rückkoppelung nationaler Umsetzungsprozesse dient.

In Deutschland hat sich der Bologna-Prozess binnen weniger Jahre zum Katalysator und Beschleuniger einer grundlegenden Umgestaltung des Hochschulsystems entwickelt. Die Implementierung der zweigestuften Struktur aus Bachelor- und Master-Studium bewirkte die Studienzeitverkürzung sowie die Abschaffung von selbstbestimmtem Tempo und Zeitrahmen des Universitätsstudiums. Auch wird der Bologna-Prozess in Deutschland häufig als Angriff auf die Humboldt´schen Prinzipien, allen voran die Einheit von Forschung und Lehre, verstanden. Tatsächlich mündete dieser Prozess in Deutschland in einer ökonomisch motivierten und technokratisch verkürzten Studienstrukturdebatte, der die konservativen Träume von einer reanimierten Ordinarienuniversität alten Zuschnitts ebenso weichen mussten wie gewisse Elemente einer studentisch erkämpften Studierfreiheit (Banscherus 2009: 49). So ist der Bologna-Prozess in Deutschland vor allem an die Massenuniversität adressiert, die sich der politischen Forderung eines „berufs- und arbeitsmarktnahen“ Studienangebotes bisher mit Verweis auf den Fachhochschulsektor entziehen konnte.

Zu der nationalen Wirkung des Bologna-Prozesses gehört auch die staatliche Selbsttransformation durch Internationalisierung und Privatisierung, die bisher im Bereich der Qualitätssicherung am deutlichsten geworden ist. Die Etablierung des international vernetzten Akkreditierungssystems mit privaten Agenturen, die unter den „Standards und Leitlinien für die Qualitätssicherung im Europäischen Hochschulraum“ (HRK 2006) agieren, ermöglicht den sukzessiven Rückzug des Staates aus der Organisations- und Entscheidungsverantwortung für die Qualitätssicherung im Hochschulbereich.

Schließlich bewirkte der Bologna-Prozess in Deutschland die Kumulation hochschulpolitischer Veränderungen, denn erst auf der Grundlage der systematischen Einbindung der deutschen Hochschulpolitik in die internationalen Strukturen und Normbildungsprozesse dieses Reformprozesses konnten vergangene Strukturentscheidungen gegen Widerstände durchgesetzt werden.

In der einschlägigen politikwissenschaftlichen Forschung spricht man mittlerweile von den größten hochschulpolitischen Strukturreformen seit Jahrzehnten (etwa Martens und Weymann 2008). Die letzte große Strukturreform im Hochschulbereich datiert zurück in die siebziger Jahre. Damals hat der öffentliche Ausruf einer „deutschen Bildungskatastrophe“ (Picht 1964) innerhalb der politischen Eliten ein Unbehagen ausgelöst, das unter dem nachhaltigen Eindruck des „Sputnik-Schocks“ von der Angst genährt wurde, Deutschland könne im internationalen Wettbewerb um wissenschaftliche Innovation und Wirtschaftswachstum zurückbleiben. Die aktuelle Reformphase begann unter ähnlichem Vorzeichen. Mitte der neunziger Jahre nahm der DAAD die geringe Anzahl internationaler Studierender an deutschen Hochschulen zum Anlass, die globale Wettbewerbsfähigkeit des deutschen „Bildungsstandortes“ in Frage zu stellen. Ausgehend von dieser Debatte entwickelte sich ein politisches Angstszenario gegen die Abwanderung der Intelligenz („Braindrain“) in die Vereinigten Staaten und andere weltweit führende Bildungsregionen.

Im Unterschied zu heute besaß die Hochschulreform vor vierzig Jahren allerdings auch eine explizit politisch motivierte Dimension. Unter dem Einfluss der Studentenproteste wurden damals hochschulpolitische Forderungen in Richtung der grundlegenden Demokratisierung inner- und außeruniversitärer Verhältnisse virulent, die in den bundesweiten Reformplänen der sozial-liberalen Koalition ihren deutlichsten Niederschlag fanden. Die sozial-liberale Koalition trat im Oktober 1969 mit dem Versprechen an, Bildung und Ausbildung an die Spitze innerer Reformen zu stellen.[1] Hochschulpolitik galt als zentrales Element einer umfassenderen gesellschaftspolitischen Reformagenda, mit deren Umsetzung man der nach außen postulierten demokratischen Staats- und Lebensform zur Glaubwürdigkeit verhelfen wollte.

Vierzig Jahre später ist die hochschulpolitische Demokratiedebatte immer noch relevant, geht es doch in Anbetracht der gegenwärtigen Strukturveränderungen darum, die Rolle der Hochschulbildung als Fundament demokratischer Selbstbestimmung und als soziales Recht im demokratischen Verfassungsstaat neu auszuloten. Paradoxerweise werden diese Fragen in der aktuellen Hochschulreformdebatte jedoch eher verdrängt. Im Kern der Auseinandersetzung stehen vielmehr Themen wie Elitenförderung, Kurzstudium für die breite Masse und Akzeptanz der neuen Abschlüsse am Arbeitsmarkt. Zwar schließen diese Fragen die Bezugnahme auf den Zusammenhang zwischen Demokratie und Hochschulreform nicht grundsätzlich aus. Vor dem Hintergrund der antidemokratischen Ressentiments eines spezifisch deutschen Elitedenkens, das als Teil der ständischen obrigkeitsstaatlichen Bildungs- und Universitätskultur Geschichte geschrieben hat (Ringer 1983; Bollenbeck 1994), wirken diese Themen jedoch eher polarisierend als dass sie die deliberative Auseinandersetzung anregen.

Doch nicht nur als Grundlage demokratischer Selbstbestimmung und Partizipation, auch als Gegenstand demokratischer Willensbildungsprozesse hat die Hochschulbildung scheinbar ausgedient. Einschlägigen Analysen zufolge leidet der Bologna-Prozess unter einem eklatanten Demokratiedefizit, das sowohl in der Umgehung nationaler Öffentlichkeit und formaler demokratischer Willensbildungsprozesse (Martens und Wolf 2006; Wolf 2009), als auch in der spezifisch deutschen Auslegung und praktischen Implementierung Europapolitischer Reformempfehlungen (Lenhardt und Stock 2002) zum Tragen kommt. Im Folgenden soll näher auf die einzelnen Stränge der demokratietheoretischen Kritik am Bologna-Prozess eingegangen werden.

I. Stressoren für die Demokratie

Die demokratietheoretische Kritik am Bologna-Prozess richtet sich gegen vier Tendenzen der aktuellen Hochschulreformpolitik: die Umgehung nationaler Öffentlichkeiten und formaler Verfahren der demokratischen Willensbildung (Informalisierung), die Dezentralisierung
des Bildungsföderalismus, die Schwächung der Gruppenuniversität und die Wiederbelebung eines spezifisch deutschen Bildungskonservatismus.

I.1. Die Infor­ma­li­sie­rung der Hochschul­po­litik

Kritikern zufolge fällt der Bologna-Prozess in eine Kategorie internationaler Reformstrategien, durch die nationale Regierungen versuchen, von außen Druck auf innenpolitische Kräfteverhältnisse auszuüben (Martens und Wolf 2006; siehe auch Wolf 2000). Im Umweg über Europa werden die formalen Verfahren nationaler demokratischer Willensbildung ebenso umgangen, wie die sozialen Milieus potentiell widerständischer Hochschulgruppen. Gehören die Exekutive und eine exklusive Minderheit Europapolitisch etablierter zivilgesellschaftlicher Akteure zu den Profiteuren dieser Entwicklung, so sind die nationalen Parlamente und Hochschulöffentlichkeiten die Verlierer.

Angestoßen wurde der Bologna-Prozess aus der nationalen Ministerialbürokratie der Länder Frankreich, Deutschland, Italien und England. Mit Ausnahme von England, wo die gestufte Studienstruktur und externe Qualitätssicherung bereits vor dem Bologna-Prozess existierte, verfügten diese Länder über historisch gewachsene Strukturen im Hochschulsektor, die den Bologna-Prozess konterkarierten und den nationalen Widerstand wahrscheinlich machten. In der Anschubphase des Bologna-Prozesses wurden daher keine besonderen Anstrengungen unternommen, die Reformpläne in der nationalen Öffentlichkeit publik zu machen (Toens 2008). Wirklich angekommen in der deutschen Hochschulöffentlichkeit ist der Bologna-Prozess erst mit vierjähriger Verspätung anlässlich der Bologna-Konferenz in Berlin (2003). Zu dem Zeitpunkt hatten die Europapolitischen Entwicklungen bereits eine derart starke Eigendynamik angenommen, dass Politiker die für Deutschland eingeschlagene Reformlinie als alternativlos hinstellen konnten. Hinzu kam, dass der Bologna-Prozess außerhalb des institutionellen Gefüges der Europäischen Union angestoßen wurde. Das Problem der mangelnden parlamentarischen Rückkoppelung europäischer Reformpolitik wurde dadurch maßgeblich verschärft. Der Bologna-Prozess bildet somit ein Beispiel par excellence für die Umgehung der formalen Prinzipien des demokratischen Verfassungsstaates, allen voran das Prinzip der Gleichheit politischer Einflussmöglichkeiten (dazu auch Greven 2005).

I.2. Die Dezen­tra­li­sie­rung des Bildungs­fö­de­ra­lismus

Im deutschen Fall fällt die Umsetzung des Bologna-Prozesses mit der radikalen Dezentralisierung des Bildungsföderalismus zusammen. Im Zuge der letzten großen Föderalismusreform, die unter der Großen Koalition (2005-2009) zum Abschluss gebracht wurde, sind die institutionellen Stützpfeiler einer formal geregelten gesamtstaatlichen Bildungsverantwortung (Bildungsplanung als Gemeinschaftsaufgabe, Hochschulrahmengesetz) abgeschafft worden. Zwar ist die Föderalismusreform als ein autonomer politikfeldübergreifender Prozess zu betrachten, der in keinem direkten Zusammenhang zum Bologna-Prozess steht. Im Bereich der Hochschulpolitik hat der Bologna-Prozess den Rückzug des Bundes aus der Rolle des Rahmengesetzgebers jedoch erleichtert, weil er alternative informelle Steuerungsmechanismen in Form von internationalen Normbildungsprozessen („Soft Governance“) bereithält, über die sich die Bundesländer auf eine gemeinsame Politiklinie einstimmen können (dazu Toens 2009a).

Was für Bund und Länder zumindest im Bildungsbereich den Ausweg aus der „Politikverflechtungsfalle“ (Scharpf) bedeutet, kann sich nachteilig auf die Demokratieentwicklung auswirken. Mit dem Rückzug des Bundes aus der formalen Verantwortung und Gesetzgebungskompetenz ist der Hochschulpolitik nicht nur der Adressat gesellschaftspolitischer Forderungen abhanden gekommen. Auch ist mit der Schmälerung des politischen Einflusses der Parteien zu rechnen, die sich in Deutschland vor allem auf der nationalen Politikebene entwickelt haben (dazu Benz 2009: 103-104). Schließlich führt die Abschaffung des Hochschulrahmengesetzes dazu, dass bundesweite Regelungen, die in den sechziger und siebziger Jahren auf den Weg gebracht wurden (z.B. die Gruppenuniversität), innerhalb einzelner Bundesländer zur Disposition gestellt werden können.

I.3. Die Schwächung der Gruppen­-­Uni­ver­sität

Nicht nur die Abschaffung der bundesweit verbindlichen Rahmengesetzgebung, sondern auch die Verwaltungsreform an den Universitäten hat die Gruppenuniversität nachhaltig geschwächt. Zwar zählt auch diese Reform zu den nationalen hochschulpolitischen Entscheidungen, die unabhängig vom Bologna-Prozess begonnen wurden. Zudem richtet sich der Bologna-Prozess keinesfalls explizit gegen das innerhalb Europas einzigartige Modell der deutschen Gruppenuniversität (dazu de Boer und Stensaker 2007). Implizit schwächt der Bologna-Prozess die Gruppenuniversität jedoch, weil er die normative Leitidee der Hochschulautonomie nachhaltig verändert hat. So hat insbesondere die strategische Einbeziehung der Europäischen Kommission, zu der man sich aus pragmatischen Gründen im Anschluss an die Bologna-Erklärung durchgerungen hat, dazu geführt, dass der Bologna-Prozess „heute als ein vollständiger und tatsächlich revolutionärer Paradigmenwechsel weg von einer angebotsseitigen und hin zu einer nachfrageseitigen Hochschulpolitik für ganz Europa geworden ist“ (Martens und Wolf2006: 159). Die Übernahme eines ökonomischen betriebswirtschaftlichen Denkens ging einher mit der „bemerkenswerten Neukonzeptualisierung der wissenschaftlichen Einrichtung Universität als Wirtschaftsbetrieb, der als Dienstleistungsunternehmen der Wissensgesellschaft […] eine Marktstellung im Wettbewerb erringen und verteidigen müsse“ (Friedrich, zitiert in Martens und Wolf 2006: 159). Diese Entwicklung begünstigt die Unterwanderung der Organisationsstrukturen der Gruppenuniversität, weil die langwierigen Konsensbildungsprozesse und Abstimmungsverfahren in den zahlreichen Selbstverwaltungsgremien der Idee der unternehmerischen Universität mit professionalisierten Führungsstrukturen und straff durchorganisierten Entscheidungsprozessen (dazu auch Clark 1998) widersprechen.

I.4. Bildungs­kon­ser­va­tismus

Schließlich wird moniert, dass sich die historisch gewachsene undemokratische Bildungstradition Deutschlands, die man mit den sozial-liberalen Reformen vor vierzig Jahren hinter sich lassen wollte, in der praktischen Umsetzung der Bologna-Ziele, allen voran der gestuften Studienstruktur, fortsetzt (Lenhardt und Stock 2008). Die Mitgliedsstaaten des Bologna-Prozesses hatten sich bewusst gegen die Europapolitische Konkretisierung nationaler Umsetzungsschritte entschieden, die nicht nur den Souveränitätsansprüchen einzelner Staaten widersprochen hätte, sondern auch dem Ziel, zwar einerseits auf die Konvergenz nationaler Hochschulsysteme hinzuwirken, andererseits jedoch die Vielfalt europäischer Bildungskulturen zu wahren. Von Detailregelungen, die für die Durchlässigkeit und sozial gerechte Ausgestaltung des Hochschulstudiums entscheidend sein können (Hochschulzugang, Regelstudienzeit, Prüfungswesen, etc.), wurde somit abgesehen. In Deutschland – wo eine robuste historisch gewachsene demokratische Bildungskultur fehlt – bedeutet das Kritikern zufolge, dass bildungskonservative Kräfte erneut ihre Wirkung entfalten. Tatsächlich zielt die Stoßrichtung hochschulpolitischer Reformempfehlungen von Kultusministerkonferenz und Wissenschaftsrat auf ein berufsqualifizierendes dreijähriges Bachelor-Studium für die breite Masse der Studierenden.

Die Erfahrung des freien wissenschaftlichen Denkens soll im Rahmen des Master-Studiums einer exklusiven Minderheit vorbehalten bleiben. Interessanterweise wird eine ähnliche Position bereits seit den sechziger Jahren vom Wissenschaftsrat vertreten (kritisch dazu Banscherus 2009).
Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass die aktuelle Hochschulreform in vielerlei Hinsicht hinter die hochschulpolitischen Demokratisierungsforderungen aus den sechziger und siebziger Jahren zurückgeht. Dem SDS, der sich Mitte der sechziger Jahre zu einer Art Speerspitze des hochschulpolitisch engagierten Teils der Studentenbewegung entwickelt hatte (etwa SDS 1965), ging es um die Herstellung von Öffentlichkeit und Transparenz (dazu auch Kraushaar 2001). Die sozial-liberale Regierungskoalition stand für intensive Bemühungen in Richtung einer gesamtstaatlichen Bildungsverantwortung (dazu Hamm-Brücher 1972). Die hochschulpolitischen Erfolge eines aus der Studentenbewegung hervorgegangenen akademischen Mittelbaus erstreckten sich im Wesentlichen auf die Durchsetzung der Gruppenuniversität (vgl. Hennis 1982). Schließlich richteten sich die Demokratisierungsbestrebungen unterschiedlicher hochschulpolitisch engagierter Gruppen gegen den Bildungskonservatismus der ständischen obrigkeitsstaatlichen Bildungskultur, die im gegliederten Schulwesen und in der Ordinarienuniversität ihren institutionellen Niederschlag gefunden hatte (vgl. Dahrendorf 1965; Hamm-Brücher 1972; siehe auch Kraushaar 2001).

Die Diskrepanz zwischen damals und heute erklärt auch, warum die aktuelle deutsche Hochschulpolitik von hochschulpolitischen Kräften, die sich der damaligen Demokratieoffensive der Studentenbewegung und der sozial-liberaler Koalition nach wie vor verbunden sehen, als Angriff auf die Demokratie empfunden wird (vgl. etwa BdWi 2008). Dass die beschriebenen Tendenzen aktueller Hochschulreform als Stressoren für die Demokratie wahrgenommen werden, ist keinesfalls selbstverständlich, gibt es doch Länder, in denen eine demokratische Bildungskultur vorherrscht, die professorale Amtsmacht ebenso entbehrlich erscheinen lässt wie die staatlich garantierten kollektiven Repräsentationsorgane der Gruppenuniversität (Lenhardt 2005: 64). Wirklich verständlich wird die Wahrnehmung einer spezifischen Demokratieferne aktueller Hochschulpolitik erst mit Blick auf die jüngere Demokratiegeschichte Deutschlands, zu der die hochschulpolitische Demokratisierungsoffensive von Teilen der Studentenbewegung und der sozial-liberalen Regierungskoalition untrennbar dazugehört.

Inwieweit lässt sich die aktuelle Reformphase aber tatsächlich als hochschulpolitischer Paradigmenwechsel beschreiben? Inwieweit signalisiert sie eine Form des hochschulpolitischen Wandels, der sich im Rahmen von Pfadabhängigkeiten und Kontinuitäten abspielt?

II. Ein Paradig­men­wechsel in der deutschen Hochschul­re­form?

Aus der Perspektive politikwissenschaftlicher Institutionenforschung zeichnen sich Paradigmenwechsel dadurch aus, dass neben der Veränderung der Instrumente und systematischen Einbettung von Politik auch die Abkehr von einst gesicherten Ansichten und Systemen signalisiert wird (Hall 1993). Dieser Definition zufolge hat der Bologna-Prozess den Paradigmenwechsel in der deutschen Hochschulreform eingeleitet, weil er erstens zu der nachhaltigen Internationalisierung und Teil-Privatisierung deutscher Hochschulpolitik geführt hat. Statt den vollständigen staatlichen Rückzug aus der Hochschulpolitik zu signalisieren, bedeutet die Umsetzung des Bologna-Prozesses in Deutschland jedoch vor allem den Wandel staatlicher Steuerungsinstrumentarien. Der Staat wird vom Herrschaftsmonopolisten zum Herrschaftsmanager, indem er Organisations- und/oder Entscheidungsverantwortung zu Gunsten der Aufrechterhaltung staatlicher Letztverantwortung privatisiert bzw. internationalisiert (Genschel und Zangl 2007). Schließlich hat der Bologna-Prozess in Deutschland die Abkehr von den herkömmlichen hochschulpolitischen Ansichten und Systemen unterstützt, was sich vor allem auch daran bemerkbar gemacht hat, dass die einstigen Meilensteine deutscher Hochschulreform (Bildungsplanung als Gemeinschaftsaufgabe von Bund und Ländern, Hochschulrahmengesetz, Gruppenuniversität, Öffnungsbeschluss) im Kontext der Umsetzung des Bologna-Prozesses wenn nicht vollständig abgebaut, so doch zumindest in ihren Grundfesten erschüttert worden sind.

Gleichwohl lässt sich die nationale Wirkung des Bologna-Prozesses nicht ausschließlich in den Terminologien der Nivellierung und Konvergenz länderspezifischer Strukturen beschreiben. Die aktuelle Reformpolitik lässt sich überdies nicht nur in der Kategorie des Undemokratischen verstehen, sie signalisiert auch nicht den radikalen Bruch mit der Hochschulstrukturpolitik vor vierzig Jahren. Die nähere Betrachtung der Denkmodelle, der praktischen Umsetzung und der hochschulpolitischen Erfolge bzw. Misserfolge sozialliberaler Reformpolitik lässt vielmehr auf ein komplexes Wirkungsverhältnis zwischen Universität, Staat und Demokratie schließen, das ebenso durch Kontinuität wie durch Wandel geprägt ist. Zwar hat man damals in deutlich stärkerem Maß als heute auf Öffentlichkeit, Parlamentarisierung und rechtliche Formalisierung der Hochschulpolitik, die gesamtstaatliche Bildungsverantwortung, die Gruppenuniversität und die Demokratisierung deutscher Bildungskultur gesetzt. Die praktische Umsetzung der damals vorherrschenden Denkmodelle scheiterte jedoch in vielerlei Hinsicht an den Beharrungskräften der herkömmlichen Strukturen. Ferner wurden die Reformideen in der Regel zwar im Namen der Demokratie verfochten, was die betreffenden Akteure jedoch jeweils unter Demokratie verstanden wissen wollten, variierte in Abhängigkeit ihrer hochschulpolitischen Interessen.

II.1. Öffent­lich­keit, Parla­men­ta­ri­sie­rung und rechtliche Forma­li­sie­rung

Die Studentenbewegung der sechziger und siebziger Jahre wurde keinesfalls durch ein theoretisch kohärentes Selbstverständnis ihrer Bewegungsformen und Ziele geprägt. Wenn sie jedoch eines einte, dann war das „der Versuch Öffentlichkeitsformen zu erringen, durchzusetzen und dauerhaft zu etablieren“ (Kraushaar 2001: 6). Die Kritik an der Öffentlichkeit richtete sich zum einen gegen die Ordinarienuniversität, die völlig frei von öffentlichem Rechtfertigungsdruck und parlamentarischer Kontrolle ihre „1000-jährige Tradition“ kultivieren konnte (dazu Hennis 1982).

Die studentische Kritik an der Öffentlichkeit richtete sich auch gegen die öffentliche Verwaltung. So berief sich der SDS auf Jürgen Habermas, der mit seiner Habilitationsschrift Strukturwandel der Öffentlichkeit (1962) gezeigt hatte, dass das Öffentlichkeitsprinzip zwar bis in die Parlamente und Gerichte vorgedrungen ist, auf die Verwaltung jedoch nicht ausgedehnt werden konnte. Stattdessen könne sich die Verwaltung „unter dem Vorwand eines für sie reservierten Sachverstandes gegen die politisch artikulierten Interessen der Bevölkerung durchsetzen“ (Habermas, zitiert in Kraushaar 2001: 6).

Auf keinen anderen Politikbereich traf diese These wohl so sehr zu wie auf die Hochschulpolitik im deutschen Exekutivföderalismus, waren die Universitäten doch bis zum Ausbruch der Studentenrevolte ausschließlich der Rechtsaufsicht der für sie zuständigen Länderministerien unterstellt. Zwar gab es einen allgemeinen Universitätskodex, der stark an dem kulturstaatlichen Prinzip der Freiheit von Wissenschaft und Lehre ausgerichtet war. Die Kontrolle der Universität lag jedoch ausschließlich bei den Länderministerien. Die Parlamente waren nur marginal involviert, der Bund so gut wie gar nicht (Hennis 1982). Dass hochschulpolitische Demokratisierungsforderungen vor allem an den Bundestag adressiert waren, lag daher nahe. Ebenso wahrscheinlich war jedoch der Widerstand der Länderregierungen gegen die Forderungen der Parlamentarisierung und gesamtstaatlichen Verantwortung im Bildungsbereich. Die politische Macht der Länderregierungen reicht historisch weit hinter die Entwicklung des Nationalstaates und der Demokratie zurück. Entsprechend basiert der Bundesstaat auf der Kompromisslösung des unitarischen Exekutivföderalismus, in dem die starken Länderverwaltungen weitestgehend unangetastet blieben (Lehmbruch 2001). Mit der Ausdifferenzierung nationalstaatlicher Politik sind die Länderregierungen jedoch zusehends in die Defensive gedrängt worden. Der Kulturföderalismus blieb nahezu die letzte Bastion der politischen Autonomie, die es aus der Länderperspektive kompromisslos zu verteidigen galt.

So scheiterten denn auch die bildungspolitischen Reformpläne der sozial-liberalen Koalition an dem Unwillen der Länder, auf den bundespolitischen Reformkurs einzuschwenken. Für diese Verweigerungshaltung stand vor allem die Kultusministerkonferenz, deren innere Organisationsweise überdies als zutiefst undemokratisch kritisiert wurde. Der Zwang zur Einstimmigkeit – und damit zum negativen Konsens – verbunden mit dem strikten Prinzip der Nichtöffentlichkeit stand für „eine unverhohlene Ignoranz gegenüber öffentlicher Kritik“ (Hamm-Brücher 1972: 20).

II.2. Gesamt­s­taat­liche Bildungs­ver­ant­wor­tung

Für das Scheitern der sozial-liberalen Bemühungen, formale Weichenstellungen einer funktionierenden Bund-Länder-Zusammenarbeit im Bildungsbereich vorzunehmen, sind nicht nur staatliche Widerstände von Seiten der Länder relevant. Die Ursachen lagen ebenso auf der bundespolitischen Ebene. Das betrifft zum einen die erste Große Koalition (1966-1969). Sie hat die Bildungsplanung als Gemeinschaftsaufgabe auf den Weg gebracht hat, die vierzig Jahre später von der zweiten Großen Koalition wieder abgeschafft wurde. Dabei ist nicht auszuschließen, dass das Scheitern der gesamtstaatlichen Bildungsplanung (dazu Scharpf 1985: 327-328) bereits in der verfassungspolitischen Kompromissregelung der Gemeinschaftsaufgaben angelegt war. In der sozialliberalen Koalitionsregierung wurden die Gemeinschaftsaufgaben als halbherzige Lösung kritisiert, die eine gesamtstaatliche Verantwortung im Bildungsbereich, mangels eines sinnvoll gestuften Systems von Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten zwischen Bund und Ländern, eher verhindert als gefördert hat (Hamm-Brücher 1972: 22).

Auch innerhalb der sozial-liberalen Koalition gab es jedoch Widerstände gegen die Hochschulreform. So sind die Gründe für die Stagnationsphase, die spätestens seit Mitte der siebziger Jahren auf der Hochschulpolitik lastete, nicht nur in der schwachen verfassungsrechtlichen Position des Bundes, im Parteiendissens sowie dem mangelnden hochschulpolitischen Sachverstand innerhalb der Regierungsparteien (sowie der hochschulpolitisch unerfahrenen Parteien insgesamt) zu suchen. Vielmehr muss damals bereits eine Phase der staatlichen Finanzierungszurückhaltung im Hochschulbereich eingesetzt haben, was den mangelnden politischen Willen der Gesamtregierung signalisierte (Hamm-Brücher 1972: 32-27). Hinzu kam die strukturelle Schwäche der deutschen Demokratieentwicklung, die auf die Inkongruenz der Logiken von Parteienwettbewerb und Bund-Länder-Verhandlungen zurückzuführen ist. Bei gegenläufigen Mehrheitsverhältnissen in Bundestag und Bundesrat kann die Regierungsopposition die Vetomacht des Bundesrates gegen Gesetzesvorschläge der Regierungspartei(en) im Bundestag nutzen. Diese Situation, die noch während der sozialliberalen Reformära eintrat, hat die Durchsetzung des Hochschulrahmengesetzes maßgeblich erschwert (Hennis 1982).

II.3. Die Gruppen­uni­ver­sität

Mit dem Erlass des Hochschulrahmengesetz wurde die drittel- bzw. viertelparitätische Vertretung der Gruppen in der akademischen Selbstverwaltung bundesweit verbindlich geregelt. Die Entstehungsgeschichte des Hochschulrahmengesetzes zeigt, dass die Ursachen für die Unzulänglichkeiten der damaligen Reformergebnisse nicht ausschließlich in der Verwaltung zu suchen sind. Relevant ist ferner die spezifische Verfasstheit der Universitätspolitik und der Demokratie in den sechziger und siebziger Jahren.

Das Hochschulrahmengesetz kam unter Umständen zustande, die die hochschulpolitische Unerfahrenheit der Parteien signalisieren. So verfügten weder die Parteien noch die Parlamente damals über den hochschulpolitischen Sachverstand, geschweige denn ausgearbeitete Reformprogramme, mit denen angemessen auf die komplexe Herausforderung einer bundesweit wirksamen Hochschulrahmengesetzgebung reagiert werden konnte (Hennis 1982). In diese „Demokratielücke“ stießen die politisch effektiv organisierten Hochschulgruppen, und das waren die Hochschulrektorenkonferenz und die Bundesassistentenkonferenz. Beide Organisationen forderten die Demokratisierung des Humboldt´schen Prinzips der akademischen Selbstverwaltung, wobei die Hochschulrektoren unter Demokratisierung die weitestgehende Unabhängigkeit der Universitätsverwaltung vom Staat verstanden, während die Bundesassistentenkonferenz sich mit der studentischen Forderung der egalitär organisierten Universität solidarisierte (Hennis 1982).

Unter demokratietheoretischen Gesichtspunkten lässt sich die gesetzliche Regelung der Gruppenuniversität als ein ebenso schillerndes wie ambivalentes Unterfangen beschreiben. Zwar gelang es der Bundesassistentenkonferenz, eine Art „Workplace-Democracy“ in der staatlichen Universität durchzusetzen, die Vereinbarkeit dieser Regelung mit den Repräsentationsprinzipien parlamentarischer Mehrheitsdemokratie auf der einen Seite und dem Grundsatz der Wissenschaftsnähe des Universitätsstudiums auf der anderen lässt sich aber bezweifeln (etwa Hennis 1982; Palandt 1993; Greven 2000; de Boer und Stensaker 2007). Erstens sind die Universitäten in Deutschland nicht unabhängig vom Staat. Typisch für die Beziehung zwischen Staat und Universität ist vielmehr eine spezifische Form der Dualität, die daraus resultiert, dass die Universität gleichzeitig eine unabhängige Körperschaft und eine staatliche Institution darstellt (Hennis 1982). Die Gruppenuniversität überwindet diesen Widerspruch nicht. Sie spiegelt ihn vielmehr, weil sich die Selbstbestimmung nur auf den ideellen, nicht aber auf den materiellen Teil der Aufgabenwahrnehmung bezieht (Palandt 1993: 98). Zu diesem Widerspruch gehört auch, dass die Gruppenuniversität eine bestimmte staatlich garantierte „Universitätsdemokratie“ gefördert hat, in der sich „die Hochschulangehörigen … nicht zwanglos, das heißt ohne staatliche Vermittlung aufeinander beziehen (können)“ (Lenhardt 2005: 64).

Zweitens besitzt die Universität keine eigene demokratische Legitimation. Es gilt die Verantwortlichkeit der Parlamente. Insofern ist bemerkenswert, dass die Gruppenuniversität als Verlegenheitslösung eines hochschulpolitisch unerfahrenen Gesetzgebers zustande gekommen ist. „The laws for higher education were far more the result of ideology, prejudices, and political fashion than they were of clear vision and decisive action by those in power“ (Hennis 1982: 25-26).

Schließlich hat die Gruppenuniversität die Entwicklung einer in vielerlei Hinsicht kontraproduktiven Grenzverwischung zwischen den privaten Interessen und Dienstpflichten der staatlich Beschäftigten an den Universitäten begünstigt (Hennis 1982). Die institutionelle Krise der Universität ist somit nicht ausschließlich auf das staatlich verursachte Problem der Unterfinanzierung zurückzuführen. Sie ist vielmehr von den Universitäten mit zu verantworten (dazu Greven 2000).

II.4. Demokra­ti­sie­rung der Hochschul­kultur

Die antidemokratischen Ressentiments der historisch gewachsenen, ständischen, obrigkeitsstaatlichen Bildungs- und Universitätskultur werden bis heute in einer bestimmten Form der Krisendiagnose wirksam, die davon ausgeht, dass die innere und äußere Natur des Menschen der Bildung politisch unüberwindbare Grenzen auferlegt. Bildungsmängel werden zu Begabungsmängeln erklärt. Begleitet wird diese Auffassung von der Vorstellung eines objektiven wirtschaftlichen Qualifikationsbedarfes, nach dem sich die Schul- und Hochschulreform zu richten habe. Im Vergleich zu den Vereinigten Staaten, wo demokratische Bildungskultur und expansive Bildungsentwicklung das Substitut für eine unterentwickelte staatliche Sozialpolitik bilden, hat sich die deutsche Bildungs- und Hochschulpolitik in einer gewissen Nähe zu ebenso konservativ-paternalistischen wie undemokratischen Sozialpolitikvorstellungen entwickelt. „So lässt der Glaube an einen ehernen Qualifikationsbedarf nicht an freie Bürger denken, sondern an weisungsgebundene Beamte im bürokratischen ‚Gehäuse der Hörigkeit'“ (Lenhardt und Stock 2008: 130).

Dass der typisch deutsche Bildungskonservatismus die Hochschulpolitik allen Demokratisierungsbestrebungen in den sechziger und siebziger Jahren zum Trotz kontinuierlich geprägt hat, spiegelt sich in der Ambivalenz des so genannten Öffnungsbeschlusses aus dem Jahr 1977. Mit dem Sofortprogramm zur Öffnung der Hochschule hat man sich zwar einerseits zu dem generellen Verzicht auf die (überdies verfassungswidrige) Schließung der Hochschulen gegenüber dem wachsenden Bildungsinteresse innerhalb der Bevölkerung durchgerungen. Anderseits lässt die Festlegung einer Überlastquote, nach der die Hochschulen nicht (entsprechend des Zuwachses an Studierenden) besser ausgestattet wurden, weil sie lediglich vorübergehend mehr Studenten aufnehmen sollten, auf einen gewissen Zynismus schließen. Man ging davon aus, dass das Bildungsinteresse wieder nachlassen würde, wenn die „Studentenschwemme“, die die geburtenstarken Jahrgänge der Politik beschert hatten, wieder vorüber sei. Tonangebend war die Vorstellung eines Studentenbergs, den es zu untertunneln galt. Das wachsende Bildungsinteresse wurde als „ein widriges Naturereignis angesehen, dessen baldiges Ende herbeigesehnt wurde“ (Lenhardt 2005: 35).

Faktisch mündete die Politik des Öffnungsbeschlusses in der chronischen Unterfinanzierung der Hochschulen, durch die die Universitäten immer tiefer in die Abwärtsspirale aus institutioneller Krise, öffentlichem Desinteresse und Staatsversagen hineingetrieben wurden. Unter der Vielzahl der Studienabbrecher, für die die deutschen Universitäten auf den internationalen Bologna-Konferenzen noch heute gerügt werden, bildet das „erfolgreiche Scheitern“ zwar nicht die Ausnahme. Insofern aber die Vermutung zutrifft, dass Studierende aus bildungsferneren Schichten nicht so häufig zu den erfolgreich Gescheiterten hinzugerechnet werden konnten, hat die chronische Unterfinanzierung der Universität die Entwicklung latenter Selektionsmechanismen innerhalb des Universitätsstudiums begünstigt.

III. Ausblick

Die Gleichzeitigkeit von Wandel und Kontinuität ist nur scheinbar paradox. Dafür gibt es mehrere Gründe. Erstens vollziehen sich Paradigmenwechsel nicht über Nacht. Selbst wenn sie für die breite Masse der Entscheidungsbetroffenen plötzlich und unerwartet spürbar werden, sind sie in der Regel Ausdruck eines schleichenden Veränderungsprozesses, der sich über mehrere Dekaden unterhalb der Oberfläche institutioneller Stabilität in unspektakulärer Weise anbahnt (vgl. Streeck und Thelen 2005). Die Durchsetzbarkeit der aktuellen Hochschulreformpolitik lässt sich nicht nur mit Blick auf den externen Reformdruck erklären. Vielmehr besteht Grund zu der Annahme, dass der Bologna-Prozess erst auf der Grundlage der institutionellen Dauerkrise der Universität seine länderspezifische Wirkung entfalten konnte.

Wandel wird nicht nur durch Kontinuität ermöglicht. Andersherum gilt ebenso, dass Kontinuität durch Wandel ermöglicht wird. Aus der historischen Perspektive wurde der Topos der Humboldt´schen Universität nicht etwa im 19. Jahrhundert, sondern erst im 20. Jahrhundert mentalitätsprägend für die deutsche Universitätsentwicklung. Der starke Einfluss, den die Humboldt´sche Universitätsidee ein ganzes Jahrhundert lang auf die deutsche Universitäts- und Hochschulpolitik ausgeübt hat, lässt sich darauf zurückführen, dass „diese Tradition durch eine Abfolge von Rezeptionsphasen … immer wieder neu konstruiert wurde und so eine große Tiefenwirkung erlangte. Unter jeweils anderen politischen und hochschulpolitischen Bedingungen wurden unterschiedliche Aspekte der neuhumanistischen Universitätsidee herausgegriffen und in einen neuen Verwendungskontext montiert (Paletschek 2001: 103). Politisch sind Humboldt´s Ideen längst zur Allzweckwaffe geworden (Nybom 2007).

Auch die Demokratie wurde in der Hochschulpolitik der sechziger und siebziger Jahre zu einem normativen Bezugspunkt unterschiedlicher hochschulpolitischer Forderungen. Bereits der flüchtige Blick auf die näheren Umstände, die zur Durchsetzung der so genannten Meilensteine deutscher Hochschulpolitik geführt haben, zeigt, dass die damalige Hochschulreform keinesfalls „aus einem Guss“ gemacht war, sondern vielmehr als das Produkt des teilweise kontingenten und teilweise pfadabhängigen Zusammenwirkens unterschiedlicher Interessen und parteipolitischer Orientierungen gesehen werden muss, die sich in jeweils spezifischer Weise – offensiv oder defensiv – auf ihre Demokratievorstellung berufen haben. Dass die damaligen Reformversuche größtenteils auf der Basis ineffektiver Kompromisslösungen zustande kamen, ist teilweise auf die institutionelle Verfasstheit der parlamentarischen Demokratie im deutschen Bundesstaat zurückzuführen. Zum Teil hängen die Unzulänglichkeiten der damaligen Politiklösungen aber auch mit der hochschulpolitischen Unerfahrenheit demokratischer Akteure in den sechziger und siebziger Jahren zusammen.

Heute bildet nicht mehr die Demokratie die normative Bezugsfolie der Interessenpolitik. Vielmehr haben Leistungsprinzip und Wettbewerbsideologie diese Stelle eingenommen. Am deutlichsten wird das mit Blick auf die Hochschulrektorenkonferenz, die ihr ureigenstes Ziel, auf die stärkere Unabhängigkeit der Universität vom Staat hinzuwirken, heute nicht mehr in Rekurs auf die Demokratie verteidigt, sondern mithilfe von ökonomischen Wettbewerbs- und Differenzierungsmodellen. Dieser politische Strategiewechsel hat dazu geführt, dass die Hochschulrektoren wie kaum eine andere politisch organisierte Vertretung der Hochschulangehörigen in Deutschland vom Bologna-Prozess profitieren kann (Toens 2009b, 2009c).

Der Komplexität des spezifisch deutschen Wirkungsverhältnisses zwischen Universität, Staat und Demokratie ist es zu verdanken, dass sich die Wirkungen der Hochschulreform vor vierzig Jahren nur schwer von den Ursachen ihres Scheiterns trennen lassen. Zeitzeugen zufolge befand sich die Reformpolitik bereits zu Beginn der siebziger Jahre im Teufelskreis aus institutionellen Reformhürden und mangelndem Reformwillen. So argumentiert etwa Hamm-Brücher, dass die verfassungsrechtliche, organisatorische und institutionelle Unfähigkeit zur Reform zu der Schwächung des Reformwillens geführt hat. Dieser sich permanent steigernde Prozess zwischen Ursache und Wirkung führte in die Resignation und (für Teile der Studentenbewegung) in die Radikalisierung (Hamm-Brücher 1972: 8).

Ebenso ist damit zu rechnen, dass sich die Erklärungsfaktoren des aktuellen hochschulpolitischen Paradigmenwandels in Deutschland nur schwer rekonstruieren lassen. Die Frage, in welchem Maß dieser Paradigmenwechsel jeweils auf konstruktive Lernprozesse, Internationalisierung oder Verschiebungen im nationalen politischen Kräfteverhältnis zurückzuführen ist, und inwieweit er als veränderter Ausdruck historischer Weichenstellungen gesehen werden muss, die das Verhältnis zwischen Universität, Staat und Demokratie seit je her belasten, ist noch nicht erschöpfend beantwortet.

[1] Vgl. die Regierungserklärung von Willy Brandt, 28. Oktober 1969 (zitiert in Hamm-Brücher 1972: 25).

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