Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 188: Die ungebildete Republik

Zwischen Leistungs­druck, Anpassung und Protest

Was Studierende bewegt;

aus: vorgänge Nr. 188, Heft 4/2009, S. 63-72

I. Leistungs- und Erfolgs­druck der Studie­renden

Die Studierenden wollen ein gutes Examen erreichen, davon reden sie nicht dauernd und lauthals, aber das ist es, was sie innerlich vielleicht am meisten beschäftigt und bewegt. Und zwar so gut wie alle Studierenden: denn 96 Prozent bestätigen: „Mir ist es wichtig, ein gutes Examen zu erreichen“, zwei Drittel (65 Prozent) sogar in starkem Maße – und zwar mit steigender Tendenz. Dies ist eine spezifische, nicht unbedingt angenehme Form der Bewegung und des Bewegt werdens: Die gegenwärtigen Studierenden haben mehr Druck, sie fühlen aber auch mehr Druck und setzen sich selbst mehr unter Druck.

I.1. Die Studie­renden haben mehr Druck

Der Leistungs- und Erfolgsdruck entsteht im Fachstudium, er erhöht sich durch zusätzliche Anforderungen und wird durch manche Nebenverpflichtungen verstärkt. Die fachlichen Anforderungen und ihre Gestaltung – das lässt sich als der Normaldruck in einem Studium bezeichnen, das auf Bewährung angelegt ist, und den jeder kennt und hinnimmt. Solcher Druck wird nur unnötig härter, wenn er unklar oder übertrieben ist. Hinzukommen eine Reihe weiterer Anforderungen, die den Druck für viele Studierende erhöhen, als da sind: ein umfassendes Praktikum abzuleisten, eine Auslandsstudienphase einzuschieben, zusätzliche Qualifikationen zu erwerben – und alle diese Tätigkeiten erscheinen unverzichtbar, um für die Zukunft gerüstet zu sein.

Außerdem müssen viele Studierende einer Erwerbsarbeit nebenher im Semester nachgehen, weil es für die Studienfinanzierung unumgänglich ist. Oder sie müssen familiären Verpflichtungen nachkommen, sei es, weil sie selbst ein Kind haben oder weil sie sich um Eltern kümmern. Der Druck hat sich noch mehr erhöht und verdichtet, man könnte meinen, für viele explosiv. Es scheint kaum möglich, allen Anforderungen gerecht zu werden, Abstriche sind eingewoben. Ein solches Spektrum an Anforderungen führt zu Unsicherheit und Ratlosigkeit, es nährt zudem ein schlechtes Gewissen, weil nicht allem entsprochen werden kann. Die Studierenden erleben sich unter solchen Bedingungen primär defizitär.

I.2. Die Studie­renden fühlen (noch) mehr Druck

Zwei Komponenten führen dazu, dass der vorhandene Druck verstärkt von den Studierenden empfunden wird: Es sind zum einen die aktuellen Sorgen, die verlangten Listungen erbringen zu können, und zum anderen die Befürchtungen um den zukünftigen Arbeitsplatz.

Der reine Zeitaufwand für das Studium oder das Niveau der fachlichen Anforderungen sind es offenbar weniger, die zum Mehr an gefühltem Druck unter den Studierenden führen, sondern vielmehr die Art der Leistungserbringung, die ihnen abgefordert wird. Das umfasst die Permanenz der Leistungsaufrechnung mit eingebauter Folgsamkeitsverpflichtung (Präsenzpflicht in den Veranstaltungen und Sanktionen bei Fehlen oder Verzug); hinzu kommt die engere Folge der Prüfungsabläufe (Tests, Klausuren etc.) bei viel Intransparenz und unklaren, wenig hilfreichen Leistungsrückmeldungen. Die versprochene Flexibilität in der Studienanlage ist ausgeblieben und die Steuerung des Studiums ist den Studierenden weithin aus der Hand genommen. Beides führt dazu, dass vorhandener „Druck“ stärker empfunden wird, weil man sich ihm ausgeliefert fühlt. Die Sorgen um den späteren Arbeitsplatz und der fast ständige Blick auf die Entwicklung der Berufsaussichten erhöhen ebenfalls das Druckempfinden. Die Studierenden meinen, möglichst viel mit guten Resultaten bereits im Studium vorweisen zu müssen, um die späteren Anstellungschancen zu verbessern, obwohl die oftmals unklar bleiben – was wiederum die studentische Unruhe, alles für den Erfolg und gute Noten getan zu haben, steigert. Es ist in der Tat gelungen, die spätere Berufstätigkeit für einen Großteil der Studierenden als Druckmittel aufzubauen und den nebulösen Arbeitsmarkt als Drohkulisse herzurichten. Dies ist durch den Fokus auf die zu erreichende Beschäftigungsbefähigung mit dem Bachelor-Studium noch verstärkt worden, eine Perspektive, welche die Studierenden weithin übernommen haben.

I.3. Die Studie­renden machen sich selbst mehr Druck

Mehr Studierende stellen an sich höhere Ansprüche hinsichtlich der Effizienz ihres Studiums, d.h. sie wollen eine kürzere Dauer, nehmen sich eine höhere Intensität vor und streben einen sehr guten Erfolg an. Die Intention, das Studium möglichst rasch abzuschließen, war in den 80er Jahren (damals unter den westdeutschen Studierende erhoben) für nicht mehr als 24 Prozent ganz wichtig, heute für 42 Prozent insgesamt. Für Bachelor-Studierende ist die eigene Studieneffizienz noch wichtiger. Auch die Arbeitsintensität hat zugenommen: ein sehr starkes Pensum meinen 36 Prozent zu absolvieren, früher gaben dies 28 Prozent an.

An den Hochschulen hat sich das Leistungsklima im letzten Jahrzehnt wesentlich verändert: Der Druck resultiert aus den strikteren Studienbedingungen, aber die Studierenden, besonders im Bachelor-Studium, produzieren ihn auch selbst. Dabei ist die Steigerung von Ehrgeiz und Erfolgsorientierung recht eindeutig mit den Chancen für eine spätere Einstellung und der zugeschriebenen Wichtigkeit der (Beschäftigungsbefähigung) verknüpft: Je enger diese Verknüpfung gezurrt wird, desto höher werden Druck und Sorgen unter den Studierenden. Dies haben bereits früher die Beispiele der Juristen und Lehramtskandidaten gelehrt, und dies wird durch die schubartige Verbreitung von Hetze, Ungenügen und Stress unter den Bachelor-Studierenden, zumindest von ihnen so gefühlt und empfunden, bestätigt.

II. Was ist den Studie­renden wichtig und wertvoll

Aber Leistung und Arbeit sind nicht das gesamte Leben. Was ist den Studierenden wichtig, in welchen Lebensbereichen bewegen sie sich gern? Im Vordergrund steht für die Studierenden mehr und mehr die Familie, der Freundeskreis und eine Partnerschaft, es ist nicht der öffentliche Raum oder das politische Parkett. Diese haben stark an Attraktivität eingebüßt und werden als Feld der Betätigung kaum noch aufgesucht.

II.1. Steigende Bedeutung von Herkunft und Familie

Die Herkunftsfamilie hat stark an Wertschätzung gewonnen und eine beachtliche Wiederbelebung ihrer Bedeutung erfahren. Vater, Mutter und Geschwister, die Freunde und Freundinnen bilden den Mittelpunkt. Die Bewegung der Studierenden sieht aus wie ein Rückzug aus dem öffentlichen Leben in einen privaten Schon- und Vergnügungsraum. Ein Gutteil Verlangen nach Sicherheit und Anerkennung mag damit verbunden sein.

Etwas Bemerkenswertes geht mit dem Rückzug ins Private einher: die Studierenden betonen ihre individuellen Vorteile, halten weniger von Solidarität oder vom Eintreten für andere. Dafür rückt das eigene Fortkommen in den Vordergrund und die Bewältigung der gestellten oder als wichtig erachteten Anforderungen wird zur Leitlinie des Handelns. Das nimmt aber zu selten die Gestalt einer überlegten Strategie an, etwa bei der Bewältigung des Studiums, sondern vermittelt eher den Eindruck des sich „Durchwurstelns“ – was wiederum auch auf unklare und wechselnde Bedingungen zurückzuführen ist (Stichwort: „Versuchskaninchen“).

II.2. Mehr Grati­fi­ka­ti­ons­er­war­tungen und Sicher­heits­s­treben

Was bleibt den Studierenden an Wichtigkeiten und Engagement, fragt man unwillkürlich? Setzen sie keine eigenen Prioritäten, etwa im gegenwärtigen Studium oder im Hinblick auf den zukünftigen Beruf: Wie gehen sie es an, welche Erwartungen und Motive bewegen sie?

Die Studierenden erwarten an der Hochschule eine gute fachliche, wissenschaftliche Ausbildung, die zu einer qualifizierten, interessanten, angesehenen und selbständigen Berufstätigkeit führt, aber auch Allgemeinbildung fördert. Sie vertreten in großer Mehrheit eine traditionelle „autonome Aufgabenorientierung“, die sie sich zutrauen und der sie sich stellen wollen. In ihren Erwartungen spielt die Arbeitsplatzsicherheit eine zunehmend größere Rolle, gleichsam die defensive Variante der materiellen Haltung, weniger zugenommen hat die Erwartung an ein höheres Einkommen, die offensivere Variante materiell-extrinsischer Orientierung.

Ein allgemeiner Trend, der über die Fachdifferenzen hinausgeht, hat sich in den letzten Jahren verstärkt. Die Ausrichtung an Gratifikationen hat in der Studentenschaft durchgehend zugenommen, als Fachwahlmotiv, als Erwartung an den Nutzen des Studiums wie bei den Werten für die Berufstätigkeit. In einer Fachrichtung hat sie das Übergewicht erlangt: bei den Ökonomen, gefolgt von den Ingenieuren. Eine Sache um ihrer selbst willen anzupacken, das kommt den Studierenden seltener in den Sinn. Es sollte ein Anreiz vorhanden sein und etwas dafür herausspringen, wenn man sich einsetzt – und seien es ECTS-Punkte oder andere Arten der Anerkennung und Gratifikation.

III. Wenig politische Bewegung oder soziales Engagement

III.1. Einige Grundzüge der Entwicklung

Was bewegt denn heute die Studierenden, oder sind sie gar „bewegungslos“ geworden? Politik und öffentliches Geschehen sind für die gegenwärtige Studentengeneration viel weniger ein Movens als früher. Die Grundzüge der Entwicklung, die zu einer politisch distanzierten und ratlosen Studentengeneration geführt hat, lassen sich ziemlich genau nachzeichnen:

  • Weniger politisches Interesse und geringere Beteiligung, auch im Hochschulbereich und bei der Fachschaftsarbeit,
  • verbreitete Labilität in den demokratischen Einstellungen, vor allem bei den kontroversen, pluralistischen Facetten; weniger Standfestigkeit,
  • weniger Meinungs- und Konzeptbildung, Abneigung gegenüber „theoretischen Auseinandersetzungen“, viel mehr Gleichgültigkeit, auch extremen Positionen gegenüber,
  • Wandel von sozial-ökologischen Zielen (Umweltbewahrung Abbau Atomkraft) zu konservativen Zielen (Bekämpfung Kriminalität, Abwehr Überfremdung) oder liberalen Zielen (Technologieförderung, Wettbewerb),
  • weniger Neugier und Interesse an Innovationen, geringere Bereitschaft zum Erproben von Alternativen, sei es im Studium oder im Beruf.

Viele Studierende nehmen vor allem ihr Fortkommen, wenn sie ehrgeiziger sind, oder ihr Durchkommen, wenn sie ängstlicher sind, wichtig. Sie schauen weder über den Tellerrand des Faches noch zeigen sie Engagement für öffentliche Angelegenheiten oder gegen soziale Missstände. Wenn die eigenen Belange beeinträchtigt scheinen, dann kann studentischer Protest aufflammen, durchaus auch in härterer Gangart. Allerdings sind sie damit noch weit davon entfernt, Gegenkonzepte zu entwickeln oder gar die Macht- oder Systemfrage zu stellen, um darüber eine weit reichende „soziale Bewegung“ aufzubauen.

III.2. Abnahme der Umwelt­be­we­gung und gespaltene Solidarität

Das Auslaufen der sozialen Bewegungen und der Rückgang der Solidarität seien jeweils an einem Beispiel skizziert: dem der Umweltbewegung zum einen, der BaföG-Forderungen zum anderen. Das Auslaufen der Umweltbewegung hat Mitte der 90er Jahre eingesetzt. Was mit Natur und Umwelt geschieht, das bewegt weit weniger Studierende als noch vor 15 Jahren (1993): Damals hielten über zwei Drittel (67 Prozent Uni, 73Prozent FH) das Thema für sehr wichtig, heute sind es nicht mehr als zwei Fünftel (Uni 40 Prozent, FH 42 Prozent). Der Rückgang ist in allen Fachrichtungen ähnlich; am wenigsten kümmern solche Fragen Ökonomen und Juristen. Auch als politisches Ziel haben Umwelt-, Natur- und Tierschutz stark an Stellenwert verloren: Die Priorität des Umweltschutzes, etwa vor wirtschaftlichem Wachstum, ist von 90 Prozent feste Unterstützung auf 76 Prozent zurückgegangen.

Geringe Solidarität zeigt sich bei der Frage nach einer Erhöhung der Bafög-Sätze. Die Erhöhung der BaföG-Sätze wird von einem Drittel stark gefordert, aber ein anderes Drittel ist sogar eher dagegen. Diese Anteile verschieben sich eklatant, wenn man die Studierenden danach unterscheidet, ob sie zur Studienfinanzierung auf BaföG-Mittel angewiesen sind oder sie nicht benötigen, weil die Elternetats völlig ausreichen. Auch ansonsten lassen sich die Studierenden durch die Lage anderer wenig bewegen, seien es Entwicklungsländer oder Studentinnen mit Kind. Wie es anderen geht, kümmert die Mehrheit der Studierenden wenig, regt sie nicht auf oder bewegt sie. Finanzierungsprobleme des Studiums beschäftigen einen Teil der Studierenden, aber nicht alle.

IV. Ranking der Belastungen im Studium

Was Studierende bewegt, umfasst ein weites Spektrum: Erfreuliches im privaten Bereich, Ärger in der WG oder Stress mit der Prüfung, Stolz auf einen gutes Klausurergebnis, auch Sorgen wegen der Zukunft. Wir fragen die Studierenden ausführlich nach Schwierigkeiten, Problemen und Belastungen. Weil Belastungen die Aufmerksamkeit besetzen, damit die Breite der möglichen Bewegungen einschränken – in einen Tunnel führen können.

Was steht bei den Studierenden an erster Stelle? Es sind die Belastungen durch bevorstehende Prüfungen: 36 Prozent empfinden sie als sehr stark – echter Stress, weitere 53 Prozent empfinden sie teilweise. – Fragen wir genauer nach, bestätigen 32 Prozent der befragten Studierenden einen hohen Grad an Prüfungsangst, und 20 Prozent erleben starke Prüfungsnervosität bis hin zum Black-out. Sicherlich kann Prüfungsstress gemindert oder erhöht werden, je nachdem, wie die Prüfungen angelegt sind und welche Folgen sie haben. Das belegt ein Blick auf die Verteilung nach Fachzugehörigkeit: Am höchsten ist er in der Medizin, gefolgt von Jura, am geringsten in den Fächern der Geistes- und Kulturwissenschaften.

An zweiter Stelle der Belastungen folgen die Leistungsanforderungen im Fachstudium: für 24 Prozent der Studierenden sind sie stark, für weitere 60 Prozent teilweise belastend. Im Zeitverlauf sind wenige Änderungen des erlebten Leistungsdrucks zu verzeichnen. Die Bachelor-Studierenden berichten nicht überproportional mehr von belastenden Leistungsanforderungen, wenn damit deren fachliches Niveau gemeint ist. Das verweist erneut darauf, dass „Leistungsanforderungen“ keine eindimensionale Sache sind, sondern dass es neben ihrem Umfang und Niveau besonders die Art und Weise der Leistungserbringung ist, die zu Problemen führt. Sie wachsen an, wenn Studierende den Eindruck gewinnen, die Kontrolle über ihre Leistungserbringungen zu verlieren; wenn sie meinen, durch ihren eigenen Leistungseinsatz das Ergebnis nicht steuern zu können, seien es die unmittelbaren Resultate oder die weiteren, damit verbundenen Folgen (etwa den Übergang in ein Masterstudium).

Die dritte Stelle im Gewicht der Belastungen nehmen Orientierungsprobleme im Studium ein, an Universitäten etwas mehr als an Fachhochschulen (Uni: 13 Prozent + 58 Prozent = 71 Prozent; FH: 9 Prozent + 55 Prozent = 64 Prozent). Am meisten Desorientierung herrscht unter den Studierenden der Sozialwissenschaften, am wenigsten bei den Studierenden der Medizin. Es hängt offenbar nicht nur an der Strukturierung des Studiums und der sozialen Einbindung, um Orientierung zu vermitteln. Wenn die Studienbedingungen einseitig ausfallen, d.h. starke Strukturierung ohne Einbindung (z. B. Medizin) oder viel Integration ohne gewisse Strukturierung (z. B. Geisteswissenschaften), können sie sogar nachteilig für den Studienablauf und Studienertrag sein.

Auf dem vierten Platz der Belastungen ist die Anonymität an der Hochschule platziert. Damit eng im Zusammenhang steht die große Zahl der Studierenden als eine Belastung. Überfüllung und Anonymität sind deutlich mehr ein Problem für Studierende an Universitäten als an Fachhochschulen (an Universitäten für 54 Prozent; an Fachhochschulen für 39 Prozent). Ebenso sind die Fachdifferenzen bei dem Problem der Überfüllung auffällig: Sie sind drastisch höher in den Geistes- und Sozialwissenschaften, damit auch im Lehramtsstudium, erfreulich gering in den Naturwissenschaften, gefolgt von den Ingenieurwissenschaften. Stärkere Überfüllung beeinträchtigt nicht nur die Beratung und Betreuung der Studierenden, sondern vermindert darüber hinaus die Studienqualität in den Lehrveranstaltungen erheblich.

Die finanzielle Lage und die Frage der Studienfinanzierung belastet heute weit mehr Studierende als früher. Noch in den 80er Jahren machte sich (in Westdeutschland) etwas weniger als die Hälfte überhaupt Sorgen um die Studienfinanzierung (48 Prozent). Der Anteil erhöhte sich in den 90er Jahren auf über die Hälfte (bis 56 Prozent), er überstieg dann zum neuen Jahrtausend die 60-Prozent-Marke und liegt nun bei 71 Prozent der Uni-Studierenden, an den Fachhochschulen sogar bei 78 Prozent. An den Universitäten stellt nun für 19 Prozent, an den Fachhochschulen sogar für 37 Prozent die aktuelle Finanzsituation eine sehr starke Belastung dar, führt sozusagen zur Schlaflosigkeit. Finanzprobleme treiben viele Studierende in eine Erwerbsarbeit während des Semesters, oft in einem Umfang (ein Wochentag und mehr), der dem Studium nicht mehr gut tut. Der Wunsch nach Erhöhung der BaföG-Sätze, als Voraussetzung für eine Verbesserung der Studiensituation, steht folglich bei den Studierenden an prominenter Stelle, ganz vordringlich an den Fachhochschulen.

V. Bologna-Pro­zess und Bache­lor-­Stu­dium

V.1. Studierbarkeit und Studienerfolg

Die Studierenden haben erhebliche Probleme mit der Studierbarkeit, die ihnen im Bachelor-Studium erleichtert werden sollte, aber nun erschwert erscheint. Das Bachelor-Studium sollte überschaubarer, strukturierter, besser betreut, über die Module besser studierbar, auch flexibler sein. So die verkündete Intention. Die Mehrheit der Studierenden erfährt aber mehr Regularien, mehr Intransparenz und weniger Planbarkeit. Die Kriterien der „Effizienz“, ihnen selbst ja wichtig, können sie nicht einhalten – die Studienzeit wird länger, ECTS-Punkte sind nicht gesammelt und die Überlegung zum Studienabbruch nimmt zu. Dieser Widerspruch – ihren Interessen entgegen – bewegt die Studierenden, treibt manche von ihnen sogar zu Demos auf die Straße.

Ein anderes gewichtiges Problem ist die in Aussicht gestellte Beschäftigungsbefähigung (Employability) geworden. Der Vorsatz hört sich ebenfalls gut an, im Studium mehr für die Berufsbefähigung zu tun, es stärker anwendungsbezogen anzulegen, kurzum für den Bachelor „employability“ herzustellen. Das erweist sich letztlich aber als eine Art Fallstrick, in den sich Hochschulen wie Studierende verfangen haben. Denn sie stehen vor einem unübersichtlichen Anforderungskatalog und einem immensen Aufbau an Bedingungen, denen sie nachlaufen (müssen). Sie sehen sich einem Zusatz nach dem anderen gegenüber: 1. Zusatz: Schlüsselqualifikationen erwerben, 2. Zusatz: Anwendungsbezug herstellen, 3. Zusatz: Praktika ableisten, 4. Zusatz: Marktgerechtigkeit beachten, 5. Zusatz: selbst dran schuld.

Die Hochschulen und Lehrenden geben ihre eigene Verantwortlichkeit aus der Hand, weil sie die Bestimmungen dieses Anforderungskataloges zur „Beschäftigungsbefähigung“ anderen überlassen – zumeist der sog. „Wirtschaft“. Die Studierenden sehen sich unklaren oder widersprüchlichen Anforderungen gegenüber, seien es die fachlichen Kenntnisse, die Schlüsselqualifikationen oder die allgemeinen Kompetenzen. Diese Beschäftigungsbefähigung mit dem Abschluss als „Bachelor“, wenn sie denn erläutert wird, bezieht sich zudem auf Aufgaben und Status eines „mittleren Angestellten“ in der Privatwirtschaft bzw. auf die „gehobene Laufbahn“ im Staatsdienst. Sie bezieht sich nicht auf die Professionalität der „freien Berufe“ oder auf den Einsatz im höheren Dienst (belohnt mit dem Titel „Rat“), wovon die meisten Studierenden weiterhin ausgehen oder träumen. Diese Unklarheiten und Widersprüche sind noch längst nicht ausgeräumt, wie der Streit zwischen den Ländern um die Einstufung und Verantwortlichkeit des „Lehrers“ belegt.

V.2. Grund­pro­bleme bei der Gestaltung des Bologna-Pro­zesses

Ein erstes Grundproblem im Verlauf des Bologna-Prozesses ist das Auseinanderfallen von Versprechen einerseits und Verwirklichung andererseits. Es sind nicht die hehren Bologna-Ziele, die von den Studierenden in Frage gestellt werden, dafür sind ihnen Internationalität, Austausch, Mobilität, Fremdsprachen, gegenseitige Anerkennung, bessere Stoffgestaltung (Module), kontinuierliche Leistungsanerkennung viel zu wichtig und werden akzeptiert. Aber bei der Verwirklichung und Anwendung hapert es oft im Einzelnen, auch bei einigen wichtigen, grundlegenden Elementen der neuen Studienstruktur.

Zu solchen Erschwernissen neben der Studierbarkeit zählen eine ganze Reihe von Folgeproblemen, die mit dem Bachelor-Studium, wie es in Deutschland bislang verwirklich wurde, verbunden sind:

  • die starren und engen Zeithorizonte für das Bachelor-Studium, an den Universitäten nahezu durchweg auf sechs Semester festgezurrt, an den Fachhochschulen immerhin öfters auf sieben Semester gedehnt,
  • die eher erschwerten Möglichkeiten zum Auslandsstudium, wobei Modulaufbau und ECTS-Vergabe den Auslandsaufenthalt oft behindern statt ihn zu befördern,
  • der passive Status der Studierenden, die als bloße „Kunden“ aus der Mitgestaltung und Mitverantwortung entlassen werden,
  • der verschärfte Wettbewerb und unklare Selektionsverfahren, etwa beim Übergang zum Master,
  • sowie mehr erlebte soziale Ungerechtigkeit bei vielen Studierenden, etwa bei der Studienfinanzierung oder der notwendigen Erwerbsarbeit neben dem Studium.

Zugleich wird den Studierenden weithin vorenthalten, was sie im Studium begeistern oder motivieren könnte. Denn es wurde viel zu viel Wert auf das Festschreiben und Aushandeln von Strukturen und Quoten gelegt (etwa Studiendauer, Masterquote), aber die belebenden Prinzipien (the animating principles) und der Reiz von Wissenschaftlichkeit (the sense of science) blieben oft unbeachtet oder gingen verloren.

V.3. Der Bachelor ist nicht an allem Schuld

Vorsicht sollte aber walten, wenn Schwierigkeiten und Mängel im Studium einfach auf den „Bachelor“ als Ursache geschoben werden. In vielen Printmedien, von SPIEGEL über FAZ und ZEIT bis hin zur Süddeutschen Zeitung ist es zum beliebten Spiel geworden, vieles von dem, was an den Hochschulen und dem Studium stört, belastet oder zuwider ist, all dies und noch mehr auf die neuen Studienstrukturen und die Anlage des Bachelor-Studiums zu schieben. Einige Gründe sprechen dagegen, dem Bologna-Prozess so viel Verantwortlichkeit zuzuschreiben. Die meisten problematischen Züge waren bereits vor Einführung des Bachelors vorhanden, wie das Starren auf Effizienz, die Dominanz von Anwendung und die Priorität des Utilitarismus. Andere Bedingungen haben sich nicht verändert wie der Zeithaushalt im Studium oder die Möglichkeiten zum öffentlichen Engagement. Die studentische Zurückhaltung hat nichts mit der Einführung des Bachelors zu tun, ebenso wenig ihre Ausrichtung an eigenen Interessen oder ihr geringeres soziales Engagement. Diese Haltungen hatten schon vorher in der Studentenschaft die Oberhand gewonnen und sich gleichsam verfestigt, als noch kaum Bologna- Studiengänge eingerichtet waren.

Schließlich ist es oft die Kumulation von ungünstigen Studienbedingungen, für die weder der Bachelor noch der Bologna-Prozess verantwortlich gemacht werden können. Dazu gehören die gestiegenen Probleme mit der Studienfinanzierung, die unklaren Auswahlverfahren der Hochschulen oder die anhaltende Überfüllung, vor allem an den Universitäten. Bei all diesen schwerwiegenden Problemen ist Abhilfe nötig, damit Standards der Studienqualität, Studieneffizienz und Fairness verwirklicht werden. Die Abhilfen müssen von der öffentlichen Hand, in den Ländern wie im Bund, geleistet werden, unabhängig davon, wie das Bachelor-Studium im Hinblick auf Wissenschaftlichkeit und Studierbarkeit überdacht oder wie der Bologna-Prozess im Hinblick auf Bildungsziele und soziale Gerechtigkeit neu fokussiert wird.

Vielleicht entsteht ein gewisser Wandel, wenn zum einen die „Citizenship“ als Bildungsziel das gleiche Gewicht wie die „Employability“ erhält, wenn der Forschungsbezug wieder so wichtig wird wie der Anwendungsbezug und wenn der vorherrschende Utilitarismus wieder mehr Platz für Idealismus lässt. Das Kommuniqué der Ministerkonferenz in Leuwen vom Mai 2009, die Positionen der Europäischen Assoziation der Universitäten (EUA) sowie neuere Verlautbarungen der deutschen Hochschulrektoren-Konferenz (HRK) lassen die Bereitschaft erkennen, den bisherigen Bologna-Prozess zu überdenken und die Weichen für das Bachelor-Studium neu zu stellen.

VI. Wünsche und Forderungen der Studie­renden

Was die Studenten bewegt, ist auch daran ablesbar, was sie sich zur Verbesserung der Studiensituation wünschen und welche Forderungen sie an die Hochschulen stellen. Was halten sie für dringlich – und besteht darüber unter ihnen Einvernehmen? Soll die Aufforderung an die Studierenden zu mehr Mitgestaltung ernst gemeint sein, dann verdienen ihre Wünsche und Forderungen mehr Beachtung.

Was steht an erster, zweiter und dritter Stelle der Wunschliste, wenn eine Fee den Studierenden drei Wünsche freigeben würde? Die Universitätsstudenten, um mit ihnen zu beginnen, wünschen sich drei Dinge als sehr dringlich: 1. Einen stärkeren Praxisbezug des Studiums; 2. mehr Lehrveranstaltungen in kleinerem Kreis, 3. bessere Arbeitsmarktchancen (43 Prozent, 42 Prozent und 36 Prozent ganz wichtig). Und die FH-Studierenden wünschen sich in erster Linie: 1. bessere Arbeitsmarktchancen, dann 2. die Erhöhung der Bafög-Sätze, sowie 3. Brückenkurse zur Aufarbeitung schulischer Wissenslücken (38 Prozent, 36 Prozent und 29 Prozent).

Einvernehmen herrscht zwischen den Studierenden beider Hochschularten über die notwendige Verbesserung der Arbeitsmarktchancen. Die Verbesserung der Arbeitsmarktchancen für Absolventen des Faches halten 80 Prozent für dringlich, darunter über ein Drittel (36 Prozent) für sehr dringlich. Gedacht wird dabei aber nicht allein an die Ankurbelung der Wirtschaft und die Steigerung der Konjunktur mit mehr Stellenangeboten. Vielmehr ist darunter auch eine Leistung der Hochschulen zu verstehen: die Vorbereitung durch das Studium für den Arbeitsmarkt mittels Anwendungsbezug und Praktika und die Unterstützung beim Übergang ins Berufsleben (Career Center).

Drei Forderungen zur Hochschulentwicklung stehen für die Studierenden als sehr wichtig im Vordergrund, wiederum mit etwas unterschiedlicher Gewichtung an Universitäten und Fachhochschulen.

  • Praktikum als fester Bestandteil des Studiums (64 Prozent Uni; 73 Prozent FH),
  • Ausstattung der Hochschulen mit mehr Stellen (60 Prozent Uni; 47 Prozent FH),
  • mehr Kooperation zwischen Hochschulen und Wirtschaft (52 Prozent Uni; 63 Prozent FH).

Auch die Internationalität der Hochschule und des Studiengangs sowie der studienbezogene Austausch, insbesondere das Auslandsstudium, haben für die Studierenden einen hohen Stellenwert. Solche Forderungen werden zum Teil von Bachelor-Studierenden noch etwas entschiedener unterstützt, obwohl keine dieser Forderungen ein spezifisches Defizit der Bachelor-Studiengänge aufgreift. Beachtlich bleibt die Akzeptanz der Leistungsanforderungen im Studium, trotz häufigen Drucks und mancher Belastungen: Die Studierenden reden der Verringerung der Anforderungen in fachlicher und außerfachlicher Hinsicht oder einem Absenken des Prüfungsniveaus kaum das Wort, jedenfalls nicht grundlos oder aus Bequemlichkeit.

Die Wünsche und Forderungen der Studierenden richten sich keineswegs allein oder vordringlich auf Veränderungen im Bachelor-Studium, so sehr ihnen dies auch aktuell auf den Nägeln zu brennen scheint. Ihre Wünsche und Forderungen gehen deutlich darüber hinaus und betreffen allgemeinere Elemente der Hochschulentwicklung und Studienbedingungen. Es handelt sich zum einen um den Komplex von Qualifikation und beruflichen Chancen, zum anderen um den Komplex der finanziellen Ausstattung der Hochschulen und zum dritten um die Finanzsituation der Studierenden. Diese Forderungen sind eingebettet in weiterreichende Fragen nach der Studienqualität und den Bildungszielen, nach dem Stellenwert eines Studiums und schließlich nach der sozialen Gerechtigkeit im Hochschulzugang wie Studienverlauf. Insofern enthält die gegenwärtige Situation der Studierenden ein größeres Potential für Protest und Rebellion. Wie sich dieses entwickelt ist freilich abhängig von der gesellschaftlichen und politischen Auseinandersetzung damit – eine wichtige, aber offene Frage.

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