Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 188: Die ungebildete Republik

Ende des deutschen Sonderweges

Strukturreformen der Sekundarstufen I und II sind unabdingbar*

aus: vorgänge Nr. 188, Heft 4/2009, S. 94-103

Die Globalisierung, der demografische Wandel und die weltweiten Wanderungsbewegungen verlangen einen bisher einzigartigen gesellschaftlichen Wandel. Bildung ist neben Forschung und Innovation die wichtigste Voraussetzung, dass der Wandel gelingt. Das deutsche Bildungswesen hat dazu ein Optimum zwischen drei Ansprüchen zu finden:

  • für Wirtschaft und Gesellschaft bestmöglich zu qualifizieren,
  • Kinder und Jugendliche optimal zu fördern und
  • mehr Chancengleichheit zu schaffen.

Das Optimum ist nicht theoretisch zu bestimmen, die beste Praxis hat zu entscheiden. Die Erfahrungen im Inland reichen nicht aus, dazu sind die Traditionen, Institutionen und Positionen zwischen den 16 Bundesländern zu ähnlich und gegen abweichende Länderlösungen drohen öffentliche, politische und föderale Widerstände. Deutschland sollte sich an den bildungspolitisch führenden Staaten orientieren: was anderswo realisiert wurde, ist auch für Deutschland möglich.

I. Schwächen des deutschen Bildungs- und Ausbil­dungs­sys­tems

I.1. Das deutsche Bildungssystem qualifiziert zu wenig

Mit der Globalisierung verändert sich das Berufs- und Arbeitsleben in den westlichen Ländern drastisch: der Bedarf an Hochqualifizierten wächst stark, der an Geringqualifizierten geht erheblich zurück. Ein Bildungssystem soll nicht nur den gegenwärtigen, sondern auch den künftigen Qualifikationsbedarf decken, ja darüber hinaus qualifizieren, um durch Bildung die Innovation von Wirtschaft und Gesellschaft zu beschleunigen. Ein Großteil nicht nur der westlichen Staaten, sondern auch viele der Entwicklungs- wie Schwellenländer haben die Bedeutung von Bildung erkannt und treiben deren Ausbau zum Teil beachtlich voran.

So sind die Studienanfängerquoten zwischen 1995 und 2007 innerhalb der EU um 20 Prozentpunkte angestiegen, in Deutschland – trotz einer sehr niedrigeren Ausgangslage – nur um 8 Prozentpunkte. In der Slowakei, in Polen und in Finnland verbesserten sie sich um mehr als 30 Punkte. Zur gleichen Zeit verdoppelte sich innerhalb der EU die Hochschulabschlussquote, in Deutschland nahm sie nur um knapp zwei Drittel zu.

Das deutsche Bildungswesen qualifiziert im Gegensatz zu vielen EU-Staaten nicht für den künftigen Bedarf, erst recht nicht darüber hinaus, um die Innovationskraft der Wirtschaft zu erhöhen, sondern es wird selbst dem gegenwärtigen Bedarf nicht gerecht.[1]

Allgemeinbildung
Noch immer verlassen 7 Prozent aller Jugendlichen die allgemeinbildenden Schulen ohne Hauptschulabschluss; sie haben inzwischen praktisch keine Chancen mehr, direkt nach der Schule in ein Ausbildungsverhältnis übernommen zu werden. Aber selbst der Hauptschulabschluss reicht nur sehr begrenzt für eine duale Berufsausbildung. Jugendliche mit Hauptschulabschluss stellen nur noch in zwölf Berufsgruppen des Handwerks – im Bau-, Ausbaugewerbe, im Ernährungsgewerbe und in personenbezogenen Dienstleistungsberufen (u. a. Friseurin/Friseur) – die Mehrheit. Ein Drittel bis zu einem Viertel der Anfänger kommt bereits aus Realschulen. In den technischen Berufen sind Hauptschulabsolventen inzwischen die Minderheit, bei den kaufmännischen und den anspruchsvollen Facharbeiterberufen kommen sie seltener vor als Jugendliche mit mittlerem Abschluss oder Abitur. Darüber hinaus gelingt nur noch jedem zweiten Hauptschulabsolventen ein direkter Übergang in ein Ausbildungsverhältnis. Die übrigen sind angewiesen, sich im Übergangssystem zusätzlich zu qualifizieren. Erschwerend kommt hinzu, dass die anschließende adäquate Beschäftigung nach dem Abschluss der Lehre deutlich zurückgeht. Davon sind vor allem Auszubildende in den Handwerks- und personenbezogenen Dienstleistungsberufen betroffen.

Selbst mit mittlerem Abschluss sind die Ausbildungsaussichten nicht zufriedenstellend. Denn auch dieser garantiert weder eine anschließende duale noch schulische Berufsausbildung. Diese gelingt teilweise erst nach einer zusätzlichen Qualifizierung im Übergangssystem. Darüber hinaus müssen Realschulabsolventinnen und -absolventen verstärkt mit Abiturientinnen und Abiturienten konkurrieren. Diese bilden bereits die Mehrheit im oberen der vier Segmente von Ausbildungsberufen, die entweder neu geschaffen oder modernisiert wurden.

So qualifiziert das deutsche Schulwesen zu viele junge Menschen nur unzureichend für den Ausbildung- und Arbeitsmarkt und es befähigt zu wenige zum Studium. Schon jetzt besteht – trotz Wirtschaftskrise – ein Mangel an Hochschulabsolventen in wichtigen akademischen Berufen, so in den Ingenieursparten, bei qualifizierten IT-Fachkräften, bei Ärzten, bei dem Lehr- und Hochschulpersonal. Der Mangel hat schon jetzt zu Verlusten an Wachstum und Beschäftigung geführt. Selbst nach der konservativsten Schätzung – einer reiner Status-quo-Prognose – wird künftig praktisch jede Akademikersparte einen Kräftemangel haben.

In anderen Bereichen wird auf eine Akademisierung der Beschäftigten gedrängt, um die Effektivität zu steigern. So hat sich im westlichen Ausland eine Akademisierung der Erzieher- wie der Gesundheitsberufe weitgehend durchgesetzt, Deutschland wird dem Trend folgen. Damit sinken künftig die Chancen für Jugendliche mit Realschulabschluss weiter.

Die unzureichende quantitative Förderung in Deutschland wird nicht durch eine bessere qualitative Förderung kompensiert. Nein, bei den Leistungen liegen die deutschen Jugendlichen bei Deutsch und Mathematik gerade mal im Mittelfeld. Deutschland hat einen besonders hohen Anteil an Risiko-Jugendlichen, welche die Elementarfertigkeiten nicht beherrschen. Die 15-järigen schneiden in Mathematik, Deutsch und Naturwissenschaften nur mittelmäßig ab und die Leistungen der Abiturientenspitze sind sogar unterdurchschnittlich.

Berufsbildung
Noch kritischer als der Zustand der Allgemeinbildung ist derjenige der Berufsbildung – quantitativ wie qualitativ. Lange Zeit galt Deutschland als vorbildlich: noch 1992 kamen auf 100 Absolventen allgemeinbildender Schulen (ohne Abiturienten) gut 100, 2007 nur noch 75 duale oder schulische Ausbildungsplätze. Der Anteil der dualen Plätze ging um ein Drittel zurück, der der schulischen Plätze verdoppelte sich.

Damit die Jugendlichen nicht auf der Straße stehen, wurde das Übergangssystem ausgebaut. In ihm landen nach dem Schulabgang fast eine halbe Million Jugendliche. Es umfasst das Berufsvorbereitungsjahr, das Berufsgrundbildungsjahr, die berufsvorbereitenden Maßnahmen sowie die nicht zum Berufsabschluss führenden Berufsfachschulen. Es wurde auf Grund der Klagen der Wirtschaft über die mangelnde Leistungsfähigkeit der Schulabgänger/-innen eingeführt. Doch das Übergangssystem geht auf das Qualifikationsbedürfnis der Wirtschaft bislang fast nicht ein. Es befähigt nicht genügend und vergibt keinen Abschluss. Abgesehen von den Berufsfachschulen schafft nur die Hälfte bis zu zwei Drittel der Abgänger/-innen das Ziel des Lehrganges; einen Ausbildungsplatz in Betrieb oder Schule erreicht nur gut die Hälfte, die anderen geben auf oder verbleiben ein weiteres Jahr im Übergangssystem.

Aber auch die duale Berufsausbildung qualifiziert nicht mehr genug, sie beginnt zu spät und garantiert nicht mehr den Übergang in eine qualifizierte Berufstätigkeit. Auszubildende beginnen inzwischen die duale Ausbildung im Durchschnitt mit über 19 Jahren, in den Großstädten in West- und Ostdeutschland mit über 20 Jahren. Nur noch ein Drittel (36 Prozent) ist unter 18 Jahre alt. Die duale Berufsausbildung ist keine Jugendbildung mehr, sie wurde zu einem Studium – aber dritter Klasse: die Quote erfolgreicher Anschlüsse sinkt, der Abschluss sichert weder eine angemessene Tätigkeit noch einen Zugang zur Hochschule. Mehr als jeder dritte Auszubildende ist – trotz teilweise bestehender befristeter Übernahmetarifverträge – sogar im direkten Anschluss an die Berufsausbildung arbeitslos, andere werden als Angelernte und Ungelernte beschäftigt. Grund ist, dass das duale System des Öfteren am Arbeitsmarkt vorbei ausbildet.

Auch im Kernbereich des Schulberufssystems, bei den Erziehungs- und den Sozialberufen sowie im Gesundheitswesen wird die Ausbildung meist erst im Studentenalter begonnen – oft nach einer anderweitigen Vorbildung. Auch diese Ausbildungen werden zum „Studium“ – ohne deren Abschlüsse und Berechtigungen sowie ohne dessen Ansehen.

I.2. Jugendliche werden nicht optimal gefördert

Jugendliche werden nur dann optimal gefördert, wenn so wenige wie eben möglich zur Risikogruppe zählen, möglichst viele die Hochschulreife erwerben und die meisten davon erfolgreich studieren. Denn Akademiker/-innen haben bei allen Unterschieden weiterhin die besten Arbeitsmarktchancen, die sichersten Berufe, die günstigsten Gehälter und die befriedigendsten Tätigkeiten.

Finnland schafft es, den Anteil der Risikoschüler/-innen in Mathematik auf 7 Prozent zu drücken – ein Drittel des deutschen Wertes. In Finnland und Irland erreichen über 90 Prozent des Altersjahrganges die Hochschulreife, im EU-Durchschnitt immerhin 70 Prozent, in Deutschland hingegen nur 41 Prozent – das ist der drittniedrigste Wert. Die Akademikerquote ist in Dänemark, Neuseeland, Finnland, Polen und Australien mindestens doppelt so hoch wie in Deutschland, in Island beträgt sie sogar 63 Prozent gegenüber 23 Prozent in Deutschland.[2] Deutschland fördert seine Jugendlichen nicht optimal. Im Verhältnis zum Ausland bleiben sie einerseits leistungsmäßig zurück und andererseits werden ihre Fähigkeiten unterschätzt.

1. Das Vertikalsystem wird damit begründet, die unterschiedlichen Begabungen optimal zu fördern. Doch das Gegenteil ist der Fall. Die vertikale Gliederung verhindert eine optimale Breitenförderung. “ Einen vergleichbaren Einfluss (wie das Leistungs- und Fähigkeitsniveau der Schülerschaft) übt nur die Schulform als milieuprägendes institutionelles Merkmal aus.“[3] Das Vertikalsystem bremst die Leistungsentwicklung der Hauptschüler/-innen, ohne die Gymnasiastinnen und Gymnasiasten bestmöglich zu fördern. Hinzu kommt, dass die Hauptschule belastete Schüler/-innen häuft. Gerade sie ist aber gegenüber einer kritischen Schülerzusammensetzung sehr instabil. Bei ihr hemmen Bildungsferne, Wiederholschüler/-innen, Fähigkeitsniveau und Familienbelastung der Mitschüler/-innen z.B. den Erwerb von Lesekompetenz stark. Im Gegensatz dazu steht das Gymnasium bei dem sich das Leistungsniveau durch belastete Schüler/-innen fast nicht verändert. [4]

Wahrscheinlich sind es weniger die bildungstheoretischen, curricularen und didaktischen Traditionen oder die Lehrerbildung, die die Differenzen zwischen den Schulformen bewirken. Es sind die unterschiedlichen Ansprüche und Erwartungen an Schule, Lehrer/-innen und Schüler/-innen sowie das jeweilige Image. Diese prägen die Einstellung der Öffentlichkeit, der Wirtschaft und der Verwaltung sowie der Eltern und der Lehrerinnen und Lehrer. Nicht zuletzt beeinflussen diese die Lernbereitschaft und die Lebensperspektiven der Jugendlichen je nach der besuchten Schulform.

2. Auch wenn sich die Leistungen in Ausbildungsstätten geringeren Images unterdurchschnittlich entwickeln, werden die Fähigkeiten dieser Jugendlichen zumeist unterschätzt. Lange Zeit konnten sie kaum zu höheren Abschlüssen und Berechtigungen aufsteigen. Inzwischen gibt es eine begrenzte Durchlässigkeit. Sie ist für Realschulabsolventinnen und -absolventen seit dem Ausbau beruflicher Gymnasien am größten in Baden-Württemberg. Dort kommen inzwischen 40 Prozent der Abiturientinnen und Abiturienten von beruflichen Gymnasien. Nach der Tosca-Studie schaffen so Realschul-Abgänger in bisher gleicher Zeit wie Gymnasiastinnen und Gymnasiasten und bei fast vergleichbaren Leistungen das Abitur.[5]

Unterschätzt werden gerade auch Jugendliche ohne bzw. mit schwachem Hauptschulabschluss, sie gelten im Allgemeinen als nicht mehr ausbildungsreif. Sie sind aber mit etwas höherem Personalaufwand zum größten Teil innerhalb der üblichen Ausbildungszeit zu einem normalen Berufsabschluss fähig. Bei dem Berliner Modell werden 85 Prozent dieser Jugendlichen erfolgreich zu einem anerkannten Berufsabschluss geführt.[6]

I.3. Die Bildungs­chancen sind ungleich

In den westlichen Gesellschaften gibt es Anzeichen sozialer Desintegration. Diese wird befördert durch hohe Arbeitslosigkeit, zunehmende prekäre Beschäftigung und wachsender Kluft zwischen Arm und Reich. Die große Gefahr ist, dass die soziale Benachteiligung an die nachfolgende Generation weitergegeben wird. Dann käme es zur Bildung sozialer Randgruppen. Dies zu verhindern, ist vor allem die Aufgabe von Bildung. Es geht um eine bestmögliche Chance für Benachteiligte sowie für Jugendliche mit Migrationshintergrund, sie sozial und beruflich zu integrieren.

Die Möglichkeiten dazu sind begrenzt. Dennoch schafft das Bildungssystem der meisten westlichen Staaten ein Mehr an Integration. Die durch den sozialen Status bedingte Leistungsstreuung in Mathematik ist in Deutschland extrem hoch. Sie ist die dritthöchste innerhalb der OECD. Fast ein Viertel der Streuung lässt sich in Deutschland auf den Sozialstatus zurückführen, in Island, Kanada und Finnland nicht einmal halb so viel.[7]

Auch Jugendliche mit Migrationshintergrund werden in Deutschland schlechter integriert als durchschnittlich innerhalb der OECD. Zwischen den Kindern ohne und mit Migrationshintergrund der ersten Generation liegen die Leistungsdifferenzen in Mathematik um fast 50 Prozent, bei denen der zweiten Generation sogar um gut 100 Prozent über dem OECD-Durchschnitt. Bitter ist, dass gegenüber dem OECD-Durchschnitt die Leistungsunterschiede bei der zweiten gegenüber der ersten Generation in Deutschland nicht etwa leicht zurückgehen, sondern deutlich ansteigen. Die Integrationsleistung ist nicht nur schwach, sie ist rückläufig.[8]

Zentraler Grund für die soziale und ethnische Ungleichheit der Bildungschancen ist das Vertikalsystem, denn beim Übergang vollzieht sich eine soziale und ethnische Auslese. Dreifach sind Kinder aus bildungsfernen Milieus tendenziell beim Übergang in die höheren Schulen benachteiligt: sie werden im Milieu schwächer gefördert, ihre Leistungen werden von der Schule unterschätzt und die Eltern wagen selbst bei positivem Lehrerurteil seltener den Sprung zur empfohlenen höheren Schulform.[9]
Beim Übergang in die Sekundarstufe I sind vor allem Jugendliche mit Migrationshintergrund stark benachteiligt, sie besuchen fast doppelt so häufig, mit türkischem Hintergrund sogar fast dreimal so häufig die Hauptschule wie Jugendliche ohne ausländischen Hintergrund.[10]

Die soziale und ethnische Auslese dürfte sich beim Übergang in die Sekundarstufe II verschärfen, denn für die weiteren Bildungs- und Berufschancen ist entscheidend:

  • welche Ausbildung gewünscht,
  • wie intensiv gesucht wird,
  • welche Alternativen gewählt werden,
  • wie stark und breit das regionale Angebot ist und
  • welche Beziehungen bestehen und genutzt werden.

I.4. Die Sekun­dar­stufen I und II stehen inter­na­ti­onal im Abseits

Deutschlands Bildungswesen schneidet im internationalen Vergleich nicht nur bei der Qualifizierung, der individuelle Förderung und der Chancengleichheit unbefriedigend ab, sondern auch seine Strukturen in der Sekundarstufe I und II sind überholt. Nach Jahrhunderten einer bildungspolitischen Vorbildrolle ist Deutschland inzwischen im Rückstand gegenüber der westlichen Welt. In keiner Bildungsstufe ist Deutschland noch führend, in manchen – wie vor allem im Elementarbereich – ist es abgeschlagen. Abgehängt ist Deutschland vor allem bei der Struktur der Sekundarstufe I und II.

Sekundarstufe I
Historisch war das Schulwesen aller westlichen Länder vertikal gegliedert, diese Zersplitterung wurde überall – auch in Deutschland – im 19. und frühen 20. Jahrhundert reduziert. Im Ausland ist diese Entwicklung weitergegangen. Eine öffentliche gemeinsame Schule für alle in der Sekundarstufe I setzte sich zunächst in den USA, nach dem ersten Weltkrieg in der Sowjetunion und nach dem zweiten Weltkrieg in praktisch allen westliche Ländern durch. Ein Vertikalsystem ist innerhalb der westlichen Welt zum Anachronismus geworden, der praktisch nur noch im deutschsprachigen Raum besteht – in Österreich und in den deutschsprachigen Kantonen als Zweigliedrigkeit, in Deutschland überwiegend noch als Dreigliedrigkeit.

Sekundarstufe II
International im Abseits steht auch die Sekundarstufe II, was sowohl für die hochschulpropädeutischen wie für die berufsbezogenen Bildungsgänge gilt. Während die hochschulpropädeutischen Studiengänge in fast allen westlichen Staaten breit für Absolventinnen und Absolventen der Sekundarstufe I geöffnet wurden, steht die gymnasiale Oberstufe weitgehend nur für Gymnasiastinnen und Gymnasiasten offen. Nur mit mindestens einem qualifizierten mittleren Abschluss besteht die Chance, den Numerus Clausus an Fachoberschulen und beruflichen Gymnasien zu überwinden.

Eine Anomalie im internationalen Bildungsrecht stellt die deutsche duale Berufsausbildung dar. Sie verbessert schulrechtlich nicht das Abschlussniveau, wird im Laufbahnrecht des öffentlichen Dienstes nicht als weiterführend anerkannt und berechtigt erst recht nicht zum Hochschulstudium. Zwar versteht die EU eine duale Ausbildung als zukunftsweisend, sofern sie voll ins Bildungssystem integriert ist und den Zugang zu höheren Stufen allgemeiner und beruflicher Bildung erschließt. In Deutschland besteht dagegen die Dichotomie von Berufs- und Allgemeinbildung fort.

Dies gilt nur noch partiell für das Schulberufssystem. Wenigstens der Kernbereich – die Ausbildung für die Erziehungs-, Gesundheits- und Assistentenberufe – verleiht je nach Landesrecht auch die Studienberechtigung. Aber auch damit wird das deutsche Schulberufssystem internationalen Standards kaum gerecht. Denn die eben genannten Ausbildungsgänge werden in den anderen EU-Staaten an Hochschulen ausgebildet, so dass die Gleichwertigkeit der deutschen Zertifikate nur per Anhang zur EU-Berufsanerkennungsrichtlinie sichergestellt wird.

II. Quali­fi­zierte Abschlüsse für alle

Deutschland wird den vielfältigen Herausforderungen und den Ansprüchen auf individuelle Entfaltung der Jugendlichen und soziale und ethnische Chancengleichheit nur gerecht, wenn es sich an den bildungspolitisch führenden Staaten orientiert: Das Ziel „kein Jugendlicher ohne Hauptschulabschluss“ reicht nicht. Jeder Jugendliche sollte eine qualifizierte Ausbildung erhalten, welche grundsätzlich die Studienberechtigung beinhaltet, dabei sind die internationalen Leistungsstandards zu erreichen. Darüber hinaus müsste die Hochschule zur Ausbildungsstätte der Mehrheit werden, auch in Deutschland müsste mindestens die Hälfte eines Jahrganges einen akademischen Anschluss erhalten.

II.1. Die Verti­kal­sys­teme der Sekun­dar­stufe I und II überwinden

Eine optimale Förderung fast aller bis zur Studienberechtigung ist ohne Aufhebung der vertikalen Struktur der Sekundarstufe I und der Dichotomie der Sekundarstufe II unmöglich.

Sekundarstufe I
In der Sekundarstufe I ist die Überwindung der Versäulung erforderlich; denn mit der Hauptschule wird sowohl die Leistungsentwicklung ihrer Schülerinnen und Schülern gehemmt als auch deren Leistungsfähigkeit unterschätzt.

Eine gemeinsame Schule für alle ist in Deutschland nur langfristig erreichbar. Die Einführung der Gesamtschule seit den 70er Jahren hat zu einer einmaligen schulpolitischen Konfrontation geführt. Konservative Parteien nutzten rigide Begabungsvorstellungen, Nivellierungsängste und die Ablehnung kommunistischer Erziehung in der Bevölkerung politisch aus. Auch wurden illusionäre gesellschaftspolitische Zielsetzungen von Gesamtschulanhängern wie auch Schwächen und Unsicherheiten bei den entstehenden Gesamtschulen hochgespielt. Zudem waren die Ursprungskonzepte der Gesamtschulen – z. B. zur Leistungsdifferenzierung – weiterzuentwickeln und durchzusetzen, aber auch eine optimale Synthese von Fordern und Fördern sowie von Demokratisierung und Führung zu finden.

Trotz der Konfrontation haben sich die Gesamtschulen fast überall gehalten, sind überwiegend attraktiv, wurden in vielen Ländern ausgebaut und müssen trotzdem häufig Anmeldungen wegen Kapazitätsgrenzen abweisen. Sie haben erfolgreich die Quote der Jugendlichen ohne Hauptschulabschluss verringert, mehr Jugendliche zu qualifizierten Abschlüssen geführt und die soziale Auslese reduziert. Obwohl bundesweit nur 8 Prozent der Achtklässler Gesamtschulen besuchen, dominieren diese unter den Preisträgerschulen.

Inzwischen kommt es nach einer dreißigjährigen Konfrontation um die Gesamtschule in mehreren Ländern zu einem politischen Kompromiss zwischen rechts und links: Die überlieferte vertikale Struktur in der Sekundarstufe I wird reduziert:

  • In den neuen Ländern wurde die Hauptschule teilweise gar nicht erst eingeführt, in anderen wurde sie inzwischen wieder abgeschafft. Aufgehoben ist die Hauptschule auch im Saarland, in weiteren 5 Ländern ist ihre Auflösung gesetzlich beschlossen. In 6 dieser 11 Bundesländer gibt es stattdessen die zweigliedrige Mittelschullösung mit einer Mittelschule neben dem Gymnasium, die bis zum mittleren Abschluss führt. In den Stadtstaaten, in Schleswig-Holstein sowie eingeschränkt in Rheinland-Pfalz – und laut Koalitionsvertrag vorgesehen im Saarland – wird eine zweigliedrige Oberschul-Lösung realisiert. Bei dieser Lösung führt grundsätzlich auch die Oberschule wie das Gymnasium zum Abitur.
  • Daneben verkürzen Bundesländer die Sekundarstufe I, indem sie die gemeinsame Grundschulzeit verlängern. In Hamburg ist die sechsjährige Grundschule geplant, wie sie in Berlin und Brandenburg besteht, und der saarländische Koalitionsvertrag sieht die Verlängerung der Grundschule um ein Jahr vor. Das längere gemeinsame Lernen wird in beiden Ländern von einer CDU-geführten Regierung vorgesehen.

Die vertikale Struktur der Sekundarstufe I wird zurückgeführt, doch der Weg zur gemeinsamen Schule für alle ist noch weit.

Sekundarstufe II
Die Reform der Sekundarstufe I ist dringend, die der Sekundarstufe II ist unaufschiebbar. Das Übergangssystem ist unverantwortlich. Statt Jugendliche jahrelang Warteschleifen bis zum Beginn einer Berufsausbildung durchlaufen zu lassen, sollten sie qualifiziert werden. Sie brauchen keinen Umweg, um sich für eine Berufsausbildung zu befähigen. Vielmehr belegt das Berliner Modell, dass selbst Jugendliche ohne oder mit schwachem Hauptschulabschluss über intensive Förderung mit sozialpädagogischer Begleitung zu 85 Prozent zu einem anerkannten Kammer- oder staatlichen Abschluss geführt werden können.

Richtig wäre es, dass Schulberufssystem mindestens im Umfang der Nachfrage auszubauen: Jeder Jugendliche sollte direkt nach Schulabschluss eine qualifizierte Ausbildung erhalten. Wegen des erheblichen Widerstands der Wirtschaft ist damit nicht zu rechnen. Dann allerdings ist die Durchsetzung einer berufs- und hochschulpropädeutischen Oberstufe für alle erst recht unabdingbar. Diese sollte grundsätzlich allen Jugendlichen einen Abschluss vermitteln, der ihnen die Wahl zwischen einer dualen bzw. schulischen Berufsausbildung und einem Studium ermöglicht. Sie sollte berufsbezogene Profile anbieten, um Jugendliche zu motivieren und ihnen eine qualifizierte Studien- und Berufswahl zu ermöglichen.

Der Weg zu einer integrierten berufs- und hochschulpropädeutischen Sekundarstufe II ist weit, weiter als der zu einer gemeinsame Sekundarstufe I für alle, doch es gibt Schritte in diese Richtung. Die meisten Länder haben die Fachoberschulen und die beruflichen Gymnasien ausgebaut, ein Vorreiter ist Baden-Württemberg. Der Aufstieg aus dem Schulberufssystem zur Hochschule ist durchlässiger geworden, das gilt mit großen Länderdifferenzen für die Erzieher-, Gesundheits- und Assistentenberufe. Mit Aufstiegsstipendien will der Bund für beruflich besonders begabte Menschen – allerdings erst nach mindestens zweijähriger Berufstätigkeit – die Hochschule öffnen. Der größte Schritt auf den Weg zu einer integrierten Sekundarstufe II ist die Oberschul-Lösung. In den drei Stadtstaaten sowie in Schleswig-Holstein, Rheinland-Pfalz und geplant auch im Saarland soll grundsätzlich jede Schule der Sekundarstufe I eine gymnasiale Oberstufe erhalten.[11]

III. Singuläre Bildungs­struk­turen ohne Zukunft

Bildung ist neben Forschung und Innovation die wichtigste Ressource, um den Herausforderungen der Gesellschaft und der Welt zu genügen. Das deutsche Bildungs- und Ausbildungssystem wird diesen Herausforderungen nicht gerecht. Der innenpolitische Druck wird zunehmend von außen verstärkt. Die kulturpolitische Souveränität verliert ihre Absolutheit.

Im internationalen Vergleich haben besonders die Sekundarstufe I und II in Deutschland eine singuläre Struktur. Im globalen Wettbewerb, der sich keinesfalls nur auf die Wirtschaft beschränkt, haben Sonderwege keine Zukunft. Entweder sind ihre Ziele und Ergebnisse überzeugend, dann finden sie Nachfolger, oder aber ihre Ergebnisse bleiben hinter denen anderer Staaten zurück, dann wird sich ein Staat gegenüber Reformen nicht verschließen können.

Denn der globale Wettbewerb übt selbst Druck auf gesellschaftliche Teilsysteme wie das Bildungswesen aus. Er wird verstärkt durch verbesserte übernationale Statistiken und durch internationale Untersuchungen. Zusätzlich analysieren übernationale Organisationen nationale Bildungssysteme und drängen auf Reformen, so die UNO mit ihrem UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Bildung, die OECD mit den PISA-Untersuchungen und mit Veröffentlichungen wie „Bildung auf einen Blick“. Die EU ihrerseits treibt die Modernisierung und Vereinheitlichung des europäischen Bildungswesens z. B. über Bildungsprogramme und völkerrechtliche Abkommen wie den Bologna-Prozess oder den Europäischen Qualifikationsrahmen voran.

Diese internationalen Vorstöße finden ein lebhaftes Echo in den deutschen Medien. Sie werden ebenso von der Wissenschaft aufgegriffen und durch eigene Studien ergänzt. Die internationalen Analysen und Monita finden nicht zuletzt einen politischen wie gesellschaftlichen Widerhall: vor allem linke Parteien und Fraktionen greifen die Forderungen auf, berufsständische Organisationen sehen die Chance der beruflichen Aufwertung durch höhere Qualifikationen und Berechtigungen, Wirtschaftsverbände und Gewerkschaften sehen Möglichkeiten für Wachstum und Beschäftigung und werden auch durch Fachpolitiken wie Familien-, Gesundheit-, Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik gestützt.

Es ist so gut wie ausgeschlossen, dass sich die Bildungspolitik diesen Pressionen auf Dauer entziehen kann, auch wenn sie sich – in ihrem Föderalismusverständnis – manchmal noch im Elfenbeinturm wähnt.

* Die Ausführungen zur Sekundarstufe II basieren weitgehend auf dem Manuskript von J. Lo hmann/ F. Stooß, Neuordnung der Sekundarstufe II, Plädoyer für einen Neuanfang, 2009.

[1] OECD, Bildung auf einen Blick 2009, S. 55 ff.

[2] OECD, Bildung auf einen Blick 2009, S. 55 ff.

[3] J. Baumert, P. Stanat, R. Watermann, Herkunftsbedingte Disparitäten im Bildungswesen. Vertiefende Analysen im Rahmen von PISA 2000, Wiesbaden 2006, S. 174.

[4] J. Baumert, P. Stanat, R. Watermann, Herkunftsbedingte Disparitäten im Bildungswesen. Vertiefende Analysen im Rahmen von PISA 2000, Wiesbaden 2006, S. 174 ff.

[5] M. Neumann, U. Trautwein, Schulleistungen von Abiturienten und die Rolle der Wissenschaftspropädeutik in der gymnasialen Oberstufe; in: J. Keuffer, M. Kublitz-Kramer, Was braucht die Oberstufe, Weinheim 2008, S. 102 ff.

[6] H. Hartmann, SenBW, Neue Wege zur Förderung der Benachteiligten mit Qualifizierungsbausteinen in Berlin, 2006 sowie Pressemitteilung Senat 25.8.2009.

[7] OECD, Bildung auf einen Blick 2006, S.117.

[8] OECD 2006, Wo haben Schüler mit Migrationshintergrund die größten Erfolgschance: Eine vergleichende Analyse von Leistung und Engagement in PISA 2003, Kurzfassung. Die Leistungsunterschiede werden partiell günstiger, wenn man den Sozialstatus der Eltern berücksichtigt. Doch der relativ niedrige Sozialstatus der Migranten war ein Versäumnis der Einwanderungspolitik, ist jetzt aber ein Problem der deutschen Gesellschaft.

[9] K-J. Tillmann, Soziale Herkunft – Bildungserfolg – Lebenschancen, Bildung: Erforschen – Gestalten – Erlesen, Hrsg. H. Avenarius u.a., München 2005, sowie K-J. Tillmann, Sechsjährige Primarschule in Hamburg, o.O. 2009.

[10] Konsortium Bildungsberichterstattung, Bildung in Deutschland, Bielefeld 2006, S. 152.

[11] In Schleswig-Holstein gibt es daneben noch die Regionalschule, die nur bis zum mittleren Abschluss führt.

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