Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 188: Die ungebildete Republik

Lerninseln in einem Meer der Bildungs­armut

Gute Schulen bestimmen ihr Konzept, ihr Personal und ihr Budget selbst,

aus: vorgänge Nr. 188, Heft 4/2009, S. 116-122

Der Junge versucht, Regeln zu erklären. Er schaut zerknirscht in eine Kamera, die ihn filmt. Er würde es einsehen, sagt er, man müsse das ja akzeptieren, dass es Regeln gäbe. Die einzuhalten sind. Er sträubt sich innerlich. Aber er kann nicht anders. Er schaut hinüber, neben die Fernsehkamera, wo seine Betreuerin steht und aufpasst. Damit hier kein Blödsinn erzählt wird über das Elitegymnasium St. Afra in Meißen. Der Junge hat einen Intelligenzquotienten von minimal 130. Sonst hätte man ihn am sächsischen Landesgymnasium Hochbegabtenförderung nicht angenommen.

Willkommen im 19. Jahrhundert. An diesem Internat für superhelle Köpfe müssen die Kinder ernsthaft um 7 Uhr frühstücken, um 7 Uhr 25 ins Frühkonzil, danach erwartet sie ein Intensivlehrplan mit Doppelstunden, der bis in den Abend hinein reicht. Der Lehrplan von St. Afra ist wie eine Kopie der bürokratischen Schule des vorindustriellen und des Industriezeitalters. Nur noch schneller, dichter, intensiver. Der Staat übernahm vor etwa 150 Jahren die Schule. Das war notwendig, weil die Untertanen „bisgen lesen und schreiben lernen“ mussten, wie es der Alte Fritz schon früher programmatisch ausgedrückt hatte. Der Staat organisierte Schule effektiv wie eine preußische Verwaltung: Mit Vorschriften, nach Befehl und Gehorsam, strenger Hierarchie. Regeln heißt das Zauberwort, Organisation. St. Afra eben.

Was hat das mit dem neuen Lernen, mit guter Schule zu tun? Nichts. Dennoch feiert es ein viel beklatschtes Weiter so. Die Schulleiterin des St. Afra Gymnasiums Ulrike Ostermaier stellt ihre Schule in Düsseldorf beim Kongress der Privatschulen vor. Und die Zuhörer erstarren in Ehrfurcht vor dieser gewiss hochinteressanten, aber steinalten Schule. Von Freiarbeit und Lernbüros, von Forscherwerkstätten und großen Projekten, kurz von individuellem Lernen – keine Spur in St. Afra. Die Privatschulgemeinde ist dennoch entzückt. „Es ist interessant zu sehen, dass hochbegabte Kinder Regeln nicht einfach schlucken, sondern wie es ihnen arbeitet“, kichert die Moderatorin des Podiums.

Wir schreiben das Jahr 2009. Draußen twittert und bloggt es. Die Industrie entdeckt den Begriff Schwarmintelligenz. Sie lässt den neuen Cinquecento auf einer kollaborativen Plattform im Internet von 250.000 Kunden vor-designen. Die Vordenker der Industrie und Gesellschaft des 21. Jahrhunderts predigen, dass Begriffe wie Fleiß, Disziplin und Regeln abgewirtschaft haben. Wer sein Produkt heute vermarkten will, braucht Einzigartigkeit – und Teams. Wissen muss geteilt werden. Die kreative Klasse übernimmt die Macht. Wenn die Besucher des Privatschulkongresses vor die Tür des Seminarraums treten, gehen sie durch einen Wald an Smart Boards. Das sind intelligente kreidelose Tafeln, auf denen man schreiben, surfen, mindmappen, Filme laufen lassen kann – und alles drahtlos auf den Tablet-PC des Schülers sendet oder von dort gesendet bekommt. Technologisch ist das 21. Jahrhundert längst da. Aber didaktisch stehen wir noch mit beiden Beinen im 19. Jahrhundert. So ist Schule heute. Immer noch.

Alles, was sich geändert hat, um Einwänden vorzubeugen, ist, dass es keinen Rohrstock mehr gibt, die Bänke nicht mehr festgeschraubt sind und der Lehrer nicht mehr auf einem Podest steht. Ansonsten ist Schule in Deutschland ein Industriemuseum. Sie steht unter Denkmalschutz. Wenn man Schule ändern will, muss man an der Kultusministerkonferenz, dem Philologenverband und 180.000 Hamburger Volksbegehrern vorbei. Gar nicht so einfach. Wer sich bei einem Abendessen wagen würde, einen Opel Kadett als ein modernes Auto zu bezeichnen, bekäme keinen Hauptgang mehr. Wer einen Commodore 64 einen Computer nennt, wird mit I-Phones beworfen. Wer einen Holzofen den letzten Schrei nennt, wird auf das Ceranfeld eines Induktionsherdes gesetzt oder im Mega-Eisschrank schockgekühlt. Wer aber bei dem gleichen Abendessen sagt: „Ach was, Freiarbeit, Wochenplan und Lernbüro, dieses neumodische Zeugs! Frontalunterricht hat uns allen nicht geschadet. Wir sind alle irgendwie durchgekommen!“ Wer das sagt, bekommt offenen Applaus und eine Flasche teuren Rotweins als Belohnung. Wir leben didaktisch im 19. Jahrhundert – und alle finden es super.

Alle? Nein, es gibt ein paar Inseln des modernen Lernens, die ganz wunderlich und faszinierend sind. Wo die Menschen ins Staunen kommen. Selbst die FAZ am Sonntag jüngst, als sie die Berliner Humboldt-Gemeinschaftsschule besuchte und völlig verdattert feststellte: Das Bürgertum rennt dieser Gesamtschule die Bude ein. Einer Gesamtschule! Noch vor kurzem und heute noch in manchen Gegenden denkt man sich: Igitt igitt. In der KMK liegt noch ein Beschluss aus dem Jahre 1983, der echte Gesamtschulen kategorisch verbietet. Aber die Eltern kennen den glücklicherweise nicht. Es gibt die ersten, die wollen, dass ihre Kinder selbständig, individuell lernen. Die kleinen Forscher aus den Kindergärten sind in der Schule angekommen. Man sagt nun nicht mehr überall, „in der Schule beginnt der Ernst des Lebens.“ Man treibt ihnen die Neugier nicht mehr mit Stundenplänen, Lehrplänen, Buchwissen, Frontalbeladungen und solchen Dingen aus. Sondern man lässt sie – kreativ sein und etwas ganz und gar Unheimliches erleben: Spaß am Lernen.

Es sind schätzungsweise 200 von 34.000 Schulen, die das schon richtig gut können. Es sind die Lerninseln des 21. Jahrhunderts. Sechs Promille der deutschen Schulen können neues Lernen. Seine Grundregeln heißen: Das Kind steht im Mittelpunkt, wirklich im Mittelpunkt mit seinen Interessen und auch mit seinen Problemen. Kein Kind bleibt zurück und sei es auch langsamer. Und: Das Prinzip Gotthilf Fischer „Einer-an-alle“ hat ausgedient. Hier gilt, wie es in den Web-Communities heißt, das Prinzip „Alle-an-alle“.
In den neuen Schulen geht es in etwa so: Alle mit allen, mal allein, mal im Team. Man muss sich diese Schulen ansehen, sonst glaubt man es nicht.

Die Waldhofschule in Templin (Brandenburg) zum Beispiel ist eine inklusive Schule seit dem Jahr 2002. Vorher war es eine Schule für geistig Behinderte, ein GB-Schule. Heute kann sie zeigen, dass man tatsächlich so genannte Behinderte mit „normalen“ Schülern gemeinsam lernen lassen kann. In der Waldhofschule gilt das Prinzip individuelles Lernen, ohne diese Form geht hier gar nichts mehr. Denn dort lernt Jessie, die Trisomie 21 hat, zusammen mit Sarah, die ohne Mühe in St. Afra einen Platz bekommen würde. Jessie und Sarah lernen nicht immer sklavisch zusammen in einem Raum. Aber sie und alle Zwischenstufen zwischen den Polen hochbegabt und tiefbegabt (Andreas Steinhöfel) gehören selbstverständlich zu einer Lerngruppe. Die Zeiten sind vorbei, da man an der Waldhofschule am Schulhaus vorbeilief, um einen Blick von den Irren zu erhaschen. Heute steht man im Klassenzimmer und fragt sich: Wer oder was ist hier eigentlich behindert? Manche der Kids – oder meine Vorstellung vom Lernen?

Oder das Friedrich-Schiller-Gymnasium in Marbach (Baden-Württemberg). Die Schule hat ein Kunststück fertig gebracht. Marbach ist das erste und bislang einzige Gymnasium, das beim Deutschen Schulpreis der Bosch-Stiftung aufs Treppchen durfte. In Marbach gibt es 2.000 Schüler, aber nur noch 0,7 Prozent Sitzenbleiber. Dieses Gymnasium hat ernsthaft das Motto: Jeder kommt ans Ziel – und nicht etwa den Leitspruch, der bislang noch über jeder Penne hängt: „Wer hier nicht mitkommt, wird abgeschult.“ Das Schiller-Gymnasium ist didaktisch sicher noch keine Vorzeigeschule. Aber sein Rektor Günter Offermann hat ein Netz an so genannten Unterstützungssystemen ausgeworfen, durch das praktisch kein Schüler mehr hindurchrutschen kann. Es gibt Diagnose- und Therapielehrer, die sich frühzeitig um Schüler kümmern, bei denen Probleme auftreten. Die Schule organisierte Nachhilfe von Schülern durch Schüler (übrigens auch für die Schüler der nebenan gelegenen Haupt- und Sonderschule). Wenn es dennoch brenzlig wird, bittet Rektor Offermann den Schüler und seine Eltern ins Privatissime, allerdings nicht, um die Rote Karte zu zücken, sondern um deutlich zu machen: „Hier macht sich der Chef höchstpersönlich Sorgen.“ Das Prunkstück in der Schillerstadt Marbach ist freilich die Sommerschule. So heißt ein Intensivkurs für die akut gefährdeten Schüler – am Anfang oder Ende der Sommerferien. Diese gezielte Nachhilfe findet nur in den Risikofächern statt. Gegeben wird sie von Schülern, nachdem ein Lehrer einen Lehrplan ausgetüftelt hat. Die Sommerschule kostet 165 Euro, die jungen Nachhilfelehrer verdienen nämlich etwas dabei. Wer nach den Sommerferien den Test besteht, darf vorrücken.

Oder die Schule, die es eigentlich gar nicht geben kann: Die Grundschule an der Kleinen Kielstraße in Dortmund (NRW). 91 Prozent Zuwandererkinder, sozialer Brennpunkt. Diese Schule hat so viele herausragende Momente, dass man gar nicht fertig wird, wollte man sie alle aufzählen: Sie bietet ihren Kindern ein eng geknüpftes Netz an Sicherheiten – von der Frühdiagnose, den neuen Kinderstuben über spezielle Förderungen bis hin zum Café mit angeschlossenem Deutsch-Sprachlerntraining und Erziehungskursen für Mütter. Zugleich haben die Kinder in der Kielstraße die große Freiheit des individuellen Lernens. Die Schule praktiziert jahrgangsübergreifendes Lernen mit einem ausgeklügelten Wochenplan, Freiarbeit und einer Lernwerkstatt, wo sich Kinder selbst Fragestellungen erarbeiten. „Wir können im 21. Jahrhundert keinen fertigen Wissensrucksack mehr für unsere Schüler packen“, sagt Schulleiterin Gisela Schultebraucks-Burgkart. „Wir müssen ihnen zeigen, wie sie sich Themen selbst erschließen können.“ Das Paradebeispiel der Kielstraße ist aber wohl die Teamarbeit. Die Lehrer dort arbeiten in einer Schule, in der „professionelle Zusammenarbeit“ zum Leitbild gehört. Das heißt, dass die Lehrer den Unterricht stets im Team und arbeitsteilig vorbereiten. In der Schule gibt es zwei Räume mit Unterrichtsmaterialien „Wenn die Lehrer nach Hause kommen, dann sind sie wirklich fertig mit der Schule“, berichtete die stellvertretende Schulleiterin Brigitte Thiel auf dem Grundschulkongress. Um sich das praktisch vorzustellen: Wenn das Jahrgangsteam einen Wochenplan für drei Schulwochen vorbereitet, kann es sein, dass 18 (!) Lehrerinnen kooperieren. Dabei wird der Rahmen festgelegt. Wie die einzelnen Lehrer das im Klassenzimmer machen, entscheiden sie selbst.

Die Kielstraße ist so gut, dass sie das Prinzip Einbahnstraße bei Bildungsreisen aufgehoben hat: In Dortmund war inzwischen eine Delegation aus Finnland zu Gast, um zu sehen, wie man gute Schule macht. Das ist ein Symbol dafür, dass die Trendumkehr nach dem PISA-Schock im Jahr 2001 geschafft ist – nicht durch das Weiter-so der alten Schule, sondern durch eine neue Schule.

Die alte Schule hat einen riesigen Vorteil: Alle wissen, wie sie funktioniert. Eigene Erfahrung und die Feuerzangenbowle machen es möglich. Schule, Lernen, das ist ein Lehrer, der vor seinen Schülern steht. Die Weisheiten und den Gewissheiten der Welt werden, überspitzt gesagt, frontal von vorne in die Kinder hineingeladen. Wer nicht schnell genug aufnimmt, wird in andere Verladestationen namens Realschule oder Hauptschule versetzt. Dort wird weniger, handlicher und langsamer verladen. Manche nennen das alte Lernen auch vornehm „fragend entwickelnden Unterricht“ oder, noch feiner, sokratischen Dialog. Allerdings disputierte Sokrates mit einer Handvoll Schülern. Ein Lehrer heute aber mit 25 bis 32 und mehr Kindern. Selbst konservative PISA-Forscher verhehlen daher nicht die Probleme des sokratischen Dialogs: er richtet sich in einer Klasse fast immer an den Durchschnittsschüler. Zwei Typen von Schülern meiden diesen Dialog: Die langsameren – weil sie keine Lust haben, sich zu blamieren. Die schnelleren – weil sie die Fragen des Lehrers als unter ihrer Würde empfinden.

Das neue Lernen ist komplexer angeordnet. Es unterscheidet nicht mehr nach Fächern wie die Lehrplanschule, sondern nach Lernformaten. Das heißt, auf dem „Stundenplan“ steht nicht mehr Mathe, Deutsch, Englisch und so weiter, sondern zum Beispiel Lernbüro, Lernwerkstatt, Projekt, Klassenstunde, Tutorengespräch oder Wahlpflicht. So heißen die Lernformate an der Evangelischen Schule Berlin Zentrum. An der Max-Brauer-Schule heißen manche Formate genauso, an der Bodenseeschule Friedrichshafen nennt man sie anders, an der Laborschule Bielefeld ebenfalls.

Das neue Lernen hat viele feine Unterschiede zwischen den Schulen, aber es hat eine große Gemeinsamkeit. Die Idee ist, dass den Kindern praktisch vom ersten Tag an die Gelegenheit zum selbständigen Lernen gegeben wird. Die kleine Mathunita etwa, eine Erstklässlerin, sitzt in der Grundschule Kleine Kielstraße vor einem Wimmelbild. Das ist ein Bild, auf dem ganz viel los ist, viele Sachen, Tiere, Personen gilt es zu entdecken. Die Erstklässler wie Mathunita, die erst seit vier Wochen die Schule besuchen, sollen nun die Anlaute der Dinge aufschreiben. Immer nur den ersten Buchstaben. Die älteren Kinder wie Janany hingegen schreiben schon das ganze Wort. Sie sind viel weiter – und das macht sie zu Vorbildern. Neugierig guckt die zarte Mahtunita zu ihrem Tischnachbarn hinüber und sieht sich an, wie er das Wort schreibt, von dem sie nur den ersten Buchstaben kennt. Später malt Mahtunita in dem Wimmelbild etwas aus. Janany, der neben ihr sitzt, ist das zu langweilig. Er hat auch gar keine Zeit, die Figuren und Dinge bunt auszumalen. Denn er muss seinen Wochenplan fertig machen. Das heißt, er hat ein Blatt mit Sätzen vor sich liegen und soll darin die Namenwörter markieren. Namenwörter, Tunwörter und Begleiter, diesen Wortarten können die Kinder gar nicht entkommen. Überall begegnen sie ihnen, sie hängen an der Wand, sie tauchen im Wochenplan auf, sie sind als Montessori-Symbole kenntlich gemacht.

Das ist die Grundidee: Gleiche Themenstellungen für verschiedene Schüler – an denen die Kinder aber in unterschiedlicher Tiefenschärfe arbeiten können. Am besten für sich selbst oder in kleinen Gruppen. Und obwohl die Kinder auch mal ganz unterschiedliche Fächer bearbeiten, wissen die Lehrer doch genau, wo sie stehen: Denn jedes Kind hat einen Wochenplan. Darauf ist eingetragen, möglichst individuell, welche Aufgaben die Kinder bearbeiten sollen. Der Lehrer steht nicht mehr vor 30 Kindern, sondern er geht von Schüler zu Schüler. Er kommt sehr nah ran an die Schüler, im Wortsinne. „Es geht darum, den Kindern das Selber-Lernen beizubringen“, sagt Lehrer Jan von der Gathen. Dazu gibt es täglich ein bis drei Stunden Wochenplan. In anderen Schulen heißt diese Phase Freiarbeit. Wenn man sie fragt, wie seid ihr geworden, wie ihr seid, dann geben sie an der Dortmunder Grundschule an der Kleinen Kielstraße ein lustige Antwort: Wir haben uns zusammen ins leere Schulhaus gesetzt, aus dem Fenster geguckt und gefragt: Welche Schule brauchen die Kinder aus diesem Viertel? Das war 1995. Das heißt in knapp 10 Jahren ist hier eine Schule völlig neu entstanden. Mit einem neuen Team, zusammengestellt von der Schulleiterin Gisela Schultenbraucks-Burchardt.

Aber wie ist das in den anderen Schulen? Wie hat sich die Templiner Waldhofschule entwickelt, wie die Wiesbadener Heinrich-von-Kleist-Schule, wie die Hamburger Max-Brauer-Schule, wie die Heinrich-von-Stephan-Schule in Berlin-Moabit, wie das Marbacher Gymnasium von Günter Offermann? Es gibt auf den ersten Blick scheinbar keine Gemeinsamkeiten, weil alle Schulen so unterschiedlich sind. Sie sind in Regionen und sozialen Umständen zu Hause, die nicht vergleichbar sind. Die einen wehren sich dagegen, dass sie zu einer Ghetto-Schule werden. Bei den anderen drängt ein progressives Kollegium. Und die Dritten bekommen einen neuen Rektor – der alles verändert.

Sieht man aber genauer hin, lässt sich ganz gut erkennen: Schulentwicklung birgt eine paar Paradoxien – und viele Gemeinsamkeiten: Gute Schulen entstehen oft nicht wegen, sondern trotz der Kultusbürokratien. Ja, oft ist der Anstoß für eine Entwicklung der Entschluss, eine Regel zu brechen. Man wird in keiner einzigen der Schulen noch einen 45-Minuten-Takt vorfinden. Aber der Regelbruch, die Grenzverletzung geht weit über die engen Zeitfenster beim Lernen hinaus. Es werden die Fächergrenzen gesprengt, oft auch die Jahrgangsschranken niedergerissen. Es werden die Lehr- und Stundenpläne nicht überwunden, aber doch untergeordnet. In den guten Schulen steht nicht der Stoff im Mittelpunkt, das Fach, sondern tatsächlich das Kind. „Wir unterrichten Kinder, nicht Fächer“, ist ein geflügeltes Wort in den Schulen. Das ist die wichtigste Gemeinsamkeit:

Der Respekt vor dem Kind, und zwar in doppelter Hinsicht. Respekt vor der Kreativität des Kindes – und Respekt vor den Schwierigkeiten, die es nicht allein bewältigen kann. Es gibt keine Lehrerin, die das schöner zu sagen weiß als die bayerische Lehrerin Sabine Czerny, die zu einer Schulrebellin wurde, weil sie etwas macht, das eigentlich selbstverständlich sein sollte. „Alles, was ich tue, ist, Kindern Sicherheit zu geben. Das ist das Allerwichtigste. Sie trauen sich dann schnell selbst etwas zu, wollen mehr wissen und lernen viel leichter.“ Czerny sagt: Jedes Kind ist neugierig und will etwas wissen; aber sie sagt auch, manche Kinder fühlen sich von innen heraus blockiert, andere werden durch ihre sozialen Umstände behindert. „Um das aufzufangen brauche ich Zeit. Zeit insbesondere auch um eine Beziehung zu jedem Kind aufzubauen, denn nur dann kann ich mit den Kindern erfolgreich arbeiten“, sagt Czerny. Das ist ein durchgehendes Prinzip guter Schulen: Dass sie Beziehungen möglich machen. Gute Schulen sind keine Paukanstalten, sondern Lebensorte. Wer Regeln brechen will, braucht einen starken Mann beziehungsweise eine starke Frau an der Spitze. Das ist die faszinierendste Gemeinsamkeit aller guten Schulen: Sie werden von Persönlichkeiten geleitet. Wenn es in Deutschland das Klischee gibt (das inzwischen freilich von mancher empirischen Untersuchung bestätigt wird), dass Lehrer oftmals unsichere, klagende Personen sind, dann wird es in den guten Schulen eindrucksvoll widerlegt. Die Leiter dieser Schulen treten als Unikate auf, und ganz oft sind es Frauen. Und alle unterschreiben sie diesen Satz: „Es geht alles über die Lehrer. Schulentwicklung ist zu 90 Prozent Personalentwicklung. Ein Schulleiter, der das nicht sieht und macht, der hat schon verloren“, sagt Erika Risse. „Wir müssen also Lehrer auswählen können. Aber wir müssen auch gute Lehrer ausbilden, und das geschieht bislang nicht. Deswegen wollen wir da selber mitmischen, sobald es geht.“

Das ist in etwa die Energie, die von den Schulleitern ausgeht, die selbstverständlich mit stark nicht komplett portraitiert sind. Sie haben ein Konzept, sie sind charismatisch, sie formen ein Team. Aber sie sind eben auch stark, sonst wären die Zumutungen nicht auszuhalten. Als Barbara Riekmann von der Hamburger Max-Brauer-Schule einst wieder zwei neue Lehrer zugeteilt bekam, ohne Einfluss darauf nehmen zu können, tat sie Folgendes: „Ich habe mich sofort ins Auto gesetzt und bin zur Schulbehörde gefahren. Denen habe ich gesagt: ‚Ab sofort bekomme ich keinen Lehrer mehr, den ich mir nicht selber ausgesucht habe.'“ Das große Geheimnis guter Schulen ist ihre Entwicklung. Es gibt kein Rezept dafür. Man kann in eine der Schulen gehen, alles aufschreiben, fotografieren und kopieren, was zu finden ist, man kann das alles mitnehmen – aber man kann allein daraus keine gute Schule machen. Gute Schulen lassen sich nicht klonen. Auf vertrackte Weise stehen sich die Schulentwicklung von oben und die von unten beinahe dialektisch gegenüber. „Lehrer sind ja manchmal schlimmer als Schüler“, sagte ein angehender Rektor bei einer der Recherchen. „Wenn man etwas von ihnen will, dann machen sie es erst recht nicht.“

Ministerien und Schulräte können gute Schulen nicht züchten. Sie können ihre Entwicklung allerdings positiv beeinflussen. Zu den wichtigen Faktoren gehören drei Freiheiten: Das Schulkonzept bestimmen zu können, sich das Personal aussuchen zu dürfen und das Budget selbst zu verwalten. Die Frage ist, wie kann man diese Faktoren am idealsten arrangieren? Das gelingt nicht einfach so aus dem Handgelenk wie selbst Beispiele privater Schulgründungen zeigen. Auch solche gehören dazu, die ohne Geldsorgen arbeiten, wie etwa die Freie Schule Anne-Sophie in Künzelsau. Hinter ihr steht ein Milliardenkonzern, die Würth-Gruppe. Sie wird inspiriert und angetrieben von Bettina Würth, die ein sehr freies Konzept für die Schule vertritt. Die Lehrer erhalten eine sehr gute Bezahlung, mehr als im Staatsdienst, was es auf dem Privatsektor – im Gegensatz zu vielen bestehenden Vorurteilen – kaum gibt. Es befindet sich mit Peter Fratton einer der konzeptionell überzeugendsten Schulreformer an der Spitze – und dennoch flutscht es nicht wie von allein. Irgendwie müssen sich die Lehrer unter dem überwölbenden Dach eines konzeptionellen Rahmens das operative Feinkonzept immer erst selbst aneignen. „Ich bin ganz unbedarft an diese Branche Schule herangegangen“, sagt Bettina Würth. „In meiner Familie gibt es keine Lehrer. Ich dachte, wir entwerfen ein pädagogisches Konzept, wir holen uns einen guten Schulleiter und Lehrer, die Spaß haben – und dann geht es los. Aber das war nicht so. Es war verblüffend für mich, dass unter den Lehrern oft kein Einigungsprozess möglich war. Sie hatten die Möglichkeit, freie Schule zu machen – und sie nutzten sie gar nicht.“ Woran mag das liegen? Bettina Würth überlegt eine Zeit. Dann sagt sie: „Es liegt nicht am Konzept und nicht an den Lehrern, sondern an dem staatlichen Schulsystem. Wir müssen uns die Frage stellen: Was macht dieses System aus unseren Lehrern? Die Menschen, die in ein Unternehmen kommen, die sollen Spaß haben, Kreativität, Freude am Ausprobieren. Aber da muss doch irgendwas passieren, dass diese Freude in der Schule oft nicht mehr da ist. Da muss ja irgendein Prozess ablaufen, den wir noch nicht verstehen.“ Gisela Gravelaar aus Münster und Gisela John aus Jena sind der Überzeugung. „Ich kann mit dem Begriff Privatschule überhaupt nichts anfangen“, sagt Gravelaar. John sagt: „Politiker haben die Pflicht, das staatliche Schulsystem zu entwickeln. Vielfalt heißt nicht, Privatschulen zu haben.“ Aber die Ablehnung geht nicht so weit, private Schulen abzulehnen. Beide Schulleiterinnen empfinden es als eine Zumutung, wenn sie Lehrer zugewiesen bekommen, die mit dem Konzept ihrer Schulen nichts anzufangen wissen. Das heißt, sie sind emphatisch gegen Privatschulen eingestellt – aber sie klagen mit umso mehr Nachdruck die Freiheitsrechte dieser Schulen ein. Für sich, die staatliche Schule.

Das deutsche Schulsystem leidet an drei Kardinalproblemen. Er herrscht erstens bittere Bildungsarmut, vor allem in den unteren Schulformen, wo bis zu 80 Prozent Schulverlierer gezüchtet werden; die Schulforscher nennen diese Schulen mit Verweis auf die berühmte Lazarsfeld-Studie mittlerweile Marienthal-Schulen, Schulen der Hoffnungslosigkeit. Zweitens leiden wir unter einer ernst zu nehmenden pädagogischen Armut. Vor allem in den höheren Schulformen ist der Friss-oder-Geh-Lernstil des Gymnasiums weit verbreitet. Drittens stehen wir, bedingt durch den Föderalismus, vor einer Modernisierungsblockade. Schulentwicklung von oben scheint so gut wie nicht möglich zu sein. Gute Schulen können ein Mittel sein, mit best practice-Modellen die depressive Bildungsdiskussion aufzubrechen. Der furiose Erfolg der Schulpreisträgerschulen der Bosch-Stiftung hat das gezeigt. Will der Staat die Gelingensbedingungen für gute Schulen positiv beeinflussen, so hat er zwei Möglichkeiten. Die freien und Privatschulen, die oftmals Reforminseln sind, finanziell endlich gleichwertig ausstatten. Und den staatlichen Schulen gleichzeitig jene Personal- und Budgetfreiheiten geben, die sie sich so sehnlich wünschen – um gute Schule machen zu können.

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