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Grundrechte weiter denken

Ingo Richter will soziale und Teilhaberechte ins Grundgesetz aufnehmen;

aus: vorgänge Nr. 188, Heft 4/2009, S. 128-129

Ingo Richters neues Buch „Das Grundgesetz – Eine gute Verfassung für Familie, Kultur und Bildung?“ ist für die deutsche Bürgerrechtsbewegung einen doppelte Herausforderung. In vielen Diskussionen ist es üblich, das Grundgesetz als heilige Grundordnung anzusehen, auf das sich Bürger und Bürgerinnen gegen staatliche und andere Übergriffe berufen. Richter gewinnt aus der Analyse internationaler Vereinbarungen Maßstäbe, die auf die Grundgesetzdeutung einwirken und dessen Menschenrechtsbegriff erweitern.

Ingo Richter, Das Grundgesetz – Eine gute Verfassung für Familie, Kultur und Bildung? (Recht der Jugend und Bildungswesens RdJB-Bücher Band 1), 344 S., Berliner Wissenschafts-Verlag 2009, 25 Euro

So kritisiert er, dass die „sog. sozialen Rechte oder Teilhaberechte …im nationalen Verfassungsrecht überhaupt keine Anerkennung gefunden“ haben, er meint „1. die Rechte auf Erziehung und Bildung, 2. das Recht auf Arbeit, 3. das Recht auf soziale Sicherheit, 4. das Recht auf einen angemessenen Lebensstandard, einschließlich des Rechts auf Wohnung, und 5. das Recht auf eine menschenwürdige Umwelt“ (S. 16f.). Diese Sicht untermauert er mit Martha Nussbaums Capabilities-Ansatz (Frontiers of Justice 2006), der auf die soziale Gerechtigkeit als sozialem Minimum (S. 13) zielt.

Die zweite Herausforderung Richters liegt darin, dass er dieses Denken auf die Bereiche „Familie“ (Erster Teil), „Kultur“ (Zweiter Teil) und „Bildung“ (Dritter Teil) anwendet, wobei in vielen Kapiteln das Kind und der Jugendliche im Mittelpunkt stehen. Allerdings zieht er auch bemerkenswerte Folgerungen aus anderen gesellschaftlichen Debatten. So fasst er die Gleichberechtigung der Frauen nach Art. 3 Abs. 2 Satz 1 GG als Gruppengrundrecht (S. 64), das Gender-mainstreaming zur „baren Selbstverständlichkeit“ mache (S. 78). Wie für einen Juristen nicht anders zulässig, beschränkt er sich auf den Rahmen des Grundgesetzes. Immerhin wird an der einen oder anderen Stelle deutlich, dass er auf die Wandelbarkeit der Ausdeutungen setzt. So diskutiert er die Möglichkeit eines einheitlichen Religionsunterricht für alle Konfessionen, der zugleich das Ziel hat, die Schüler in ihrer jeweiligen Glaubensrichtung zu stärken (S. 231) – ein solcher Versuch liege als Versuch auf Zeit im Rahmen einer sich wandelnden Verfassung, wenn die Religionsgemeinschaften selbst dies wollen (S. 241). Mehr sei derzeit nicht möglich.

Richters Buch transzendiert das Grundrechtsdenken der Bürgerbewegung also zweifach; was Richters Ansatz im Einzelnen bedeutet, wäre vor allem von Juristen und Philosophen herauszuarbeiten. Er könnte zu einer Neukonstituierung des Bürgerrechtsdenkens als Menschenrechtsdenken führen.

Im Einzelnen enthält das Buch eine Fülle von verfassungspolitischen Überlegungen, die keineswegs immer in klaren Positionen münden. Ich finde es sehr sympathisch, dass ein älterer Jurist in der Lage ist, seine Unentschiedenheit in bestimmten Punkten öffentlich zu begründen, auch auf Aporien hinzuweisen, die in jedem Fall nur durch unbequeme einseitige Entscheidungen gelöst werden können. „Die Schaffung eines „öffentlichen Schulwesens“ [statt eines staatlichen Schulwesens DW] im Sinne von „Drittem Sektor“ und „Education Mix“ (verspricht) die Effektivität der Schulwesens zu erhöhen, (vermindert jedoch eher) die soziale Gerechtigkeit. Es müsste also eine Wertentscheidung gefällt werden, wenn man dem ‚Umbau des Sozialstaates‘ näher treten will.“ (S. 286f.) Richter setzte sich schon in den 70er Jahren für die Schulautonomie ein; heute stellt er resigniert fest, dass weder eine „Demokratisierung der Gesamtgesellschaft und eine „Pluralisierung des Schulsystems“ „auf der Tagesordnung“ stehen, „weil es keine nennenswerten gesellschaftlichen Kräfte gibt, die sie tragen“. Stattdessen herrschten funktionelle Ansätze vor, „die die ökonomische, organisatorische und pädagogische Leistungssteigerung der Schule durch Autonomie versprechen.“ (S. 342) Resignation bestimmt auch seine Ausführungen zur Werteerziehung; er hält sie als Aufgabe der Schule in einer Demokratie für nötig, aber: „Für eine Schule, die die gesellschaftlichen und persönlichen Konflikte im Medium eines Curriculums analysiert, bewertet, gar löst, gibt es offensichtlich keinen Bedarf. Was nützt die schönste Verfassung, wenn sie die Menschen nicht mehr erreicht?“ (S. 209).

Wer angesichts dieser Beispiele glaubt, Richter fehle es an Engagement über das Grundsätzliche der internationalen Abkommen und Martha Nussbaum hinaus, der täuscht sich. Sehr engagiert setzt er sich mit der multikulturellen Gesellschaft auseinander und folgert: „Das Grundgesetzt zwingt nicht zur kulturellen Integration, es ermöglicht sie; das Grundgesetz erlaubt auch die kulturelle Parität, wenn die politische Integration gewährleistet bleibt.“ (S. 230) Richter sieht es als zentrale Frage der gesellschafts- und bildungspolitische Debatte der Gegenwart an, „ob es denkbar ist, der Sozialisation eine ‚gespaltene Gesellschaft‘ mit universalistischen und partikularistischen Elementen gleichzeitig vorzugeben“ (S. 225).

Richter hat ein zum Nachdenken anregendes Buch geschrieben. Er predigt nicht, gibt keine Rezepte, sondern wägt ab, scheut manchmal vor Festlegungen zurück, an anderer Stelle hingegen wird er sehr deutlich. Richter prüft, wie das Grundgesetz ein besseres soziales Minimum gewährleisten könnte; im Mittelpunkt stehen die Rechte von Kindern und Jugendlichen, allerdings gibt es durchaus Passagen, wo er sich von diesem Thema etwas entfernt, so wenn er sich mit der Rolle der Kultur im Verfassungsstaat beschäftigt. Solche Disparatheit hängt mit der Entstehung des Buches zusammen, es enthält 13 bereits in den letzten 15 Jahren an sehr unterschiedlichen Stellen in pädagogischen, juristischen und familienpolitischen Zusammenhängen veröffentlichte Texte, zu denen das Einleitungskapitel sowie weitere vier zuvor unveröffentlichte Texte gefügt wurden. Es wäre zu wünschen, dass Richters Besinnung auf Grundlagen des Verfassungsrechts produktiv beunruhigt.

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