Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 188: Die ungebildete Republik

Editorial

aus: vorgänge Nr. 188, Heft 4/2009, S. 1-3

In den frühen neunziger Jahren, als das allgemeine Bildungsniveau noch wöchentlich beim Kreuzworträtsel ermittelt wurde und Pisa nichts mehr war als eine mittelitalienische Stadt mit vier Buchstaben, irritierte Heiner Müller die Nation mit der Erkenntnis, dass zehn Deutsche dümmer seien als fünf. Man kann in diesen Worten des Dramatikers eine geradezu hellseherische Vorwegnahme dessen erblicken, was Jahre später die PISA- und Folgestudien über den Wissensstand der Deutschen offenbaren sollten.

Seitdem bilden Bildungspolitiker über die Gründe unsere Meinung. Durch sie wissen wir, dass sechzehn Bundesländer dümmer sind als das ganze Land und drei Schulglieder dümmer machen als eins und dass, wer daraus Konsequenzen ziehen will, dumm dasteht. Arme Eltern sind dumm oder andersherum gesagt, dumme Eltern sind arm, auf jeden Fall haben dumme Eltern meist dumme Kinder und die sind immer arm dran.

So kurzsichtig der offizielle Blick auf die Ursachen, so kurzatmig waren die darauf aufbauenden Reformen. Von Pisa nach Bologna ist es kein weiter Weg, gepflastert mit Reduktion und Selektion, Standardisierung, Modulen und Prüfungen. Geschwindigkeit ist ein zentraler Baustein der neuen Bildungsprozesse. Vorbei die Zeit der abschweifenden Gründlichkeit humboldtschen Vorbilds. Der Bildungsbürger wurde zum Humankapital geschrumpft. Als solches wird er zur Ressource, auf der unsere Zukunft ruht, und genießt darob hohes Ansehen in der Politik. Die Bundeskanzlerin ruft die Bildungsrepublik aus, doch man fragt sich, welch republikanischer Geist aus dieser Bildung überhaupt erwachsen kann. Die Kanzlerin stürmt von Bildungsgipfel zu Bildungsgipfel und lässt die Mühen der mittellosen Ebene von den Ländern durchmessen. In kaum einem anderen Bereich wurden im letzten Jahrzehnt so viele Veränderungen angemahnt, ins Werk gesetzt, verworfen und wieder verändert, fallen Anforderung, Anspruch und Alltag so weit auseinander wie im Bildungssektor. Genug Grund, diese Ausgabe der vorgänge der ungebildeten Republik zu widmen.

Michael Th. Greven unterzieht das demokratische Potenzial der Bildung einer kritischen Prüfung. Die Erziehung zum mündigen Bürger, welche die unterschiedlichen sozialen Voraussetzung der Bildung ausgleichen will, unterschlägt in guter Absicht, dass das System der Bildung selbst auf Differenz angelegt ist und die normative Gleichheit der Staatsbürger sich an der real elitären Struktur politischer Repräsentanz reibt.

Für Katrin Toens leidet der Bologna-Prozess unter einem eklatanten Demokratiedefizit. Die Hochschulbildung hat nicht nur als Grundlage demokratischer Selbstbestimmung und Partizipation, sondern auch als Gegenstand demokratischer Willensbildungsprozesse ausgedient. Die aktuelle Hochschulreform falle hinter die Demokratisierungs- bestrebungen der sechziger und siebziger Jahre zurück.

Richard Münch erkennt in der Hochschule bolognese einen ausufernden Kontrollapparat, der die Freiheit von Forschung und Lehre zur Farce macht und jegliche Kreativität erstickt. Dabei zeigt ihm das Beispiel USA, dass sich ein starkes Universitätsmanagement durchaus mit der freien Entfaltung von Forschung und Lehre verbinden lässt.

Albert Scherr und Uwe H. Bittlingmayer sehen es als generell unzureichend und irreführend an, sich allein am Ziel der Herstellung von Chancengleichheit durch eine begabungsgerechte Bildung zu orientieren. An ihre Stelle müsse eine an der Befähigungsgerechtigkeit orientierte herkunftsunabhängige Bildung treten, die nicht nur die formellen, sondern die faktischen Möglichkeiten sozialer Gruppen in den Blick nimmt, dasjenige Leben zu führen, das sie mit guten Gründen anstreben.

Wolfgang Meyer-Hesemann diagnostiziert das Krankheitsbild des Bildungsföderalismus. Der Patient hat nicht unwesentlich zur Verschlimmerung seines Zustandes beigetragen, seine Bereitschaft, für den Heilungsprozess etwas zu tun, ist gering, doch ganz aufgeben will ihn der Autor nicht.

Tino Bargel porträtiert auf der Basis eines Surveys die heutige Generation der Studentinnen und Studenten. Sie stehen erheblich unter Leistungs- und Erfolgsdruck, haben Orientierungsschwierigkeiten und tendieren eher zum individuellen Durchboxen als zum solidarischen Helfen. Entsprechend gering ist ihr politisches Interesse ausgeprägt.

Ingo Richter unterzieht das Bildungssystem einer verfassungsrechtlichen Würdigung. Danach können das Recht auf das pädagogische Existenzminimum, das Recht auf Kompensation herkunftsbedingter Nachteile, das Recht auf die Integration in das allgemeine deutsche Bildungswesen für Migranten und Behinderte und das Recht auf einen Platz in der vorschulischen Bildung und in der beruflichen Ausbildung als legitime (Rechts-)Ansprüche an eine Bildungsreform formuliert werden.

Sibylle Volkholz stellt fest, dass durch den PISA-Prozess durchaus beachtliche Reformen angestoßen worden sind, die allerdings noch besser evaluiert, koordiniert und anschlussfähiger gestaltet werden müssen. So sollten sich Lerninhalte stärker an den altersgemäßen Kompetenzen der Schüler orientieren und die Lernprozesse mehr sozial eingebettet werden. Zugleich sollte die schulische Entwicklung durch hohe Leistungsanforderungen und ein lernfreudiges Umfeld gefördert werden.

Joachim Lohmann sieht das deutsche Bildungssystem im internationalen Vergleich vor allem in den Sekundarstufen I und II abgehängt. Das Vertikalsystem sei ein Anachronismus, das duale System konserviere die Dichotomie von Berufs- und Allgemeinbildung. Solche Sonderwege haben im globalen Wettbewerb keine Zukunft.  

In ihre synoptische Betrachtung der Bildungssituation von Jugendlichen mit Migrationshintergrund beziehen Irina Schröder-Ilina und Uwe Hunger sowohl deren individuelle Situation, ihre kulturelle und soziale Einbettung wie auch ihre institutionelle Einordnung mit ein. Alle drei Ebenen wirken sich kumulativ auf den Schulerfolg aus. Von daher müssen Fördermaßnahmen die drei Ebenen verzahnen.  

Christian Füller hat sich auf die Suche nach dem Erfolgsrezept guter Schulen gemacht. Sie alle eint, dass sie ihr Konzept selbst entwickelt haben und teilweise gegen die Verwaltung durchsetzen mussten, dass die an ihnen Lehrenden ein außergewöhnliches Engagement zeigen und sie ihr Personal und ihr Budget weitgehend selbst bestimmen. 

In ihrem Essay geht Jutta Roitsch mit der Bildungspolitik der Bundesregierung, wie sie im Koalitionsvertrag ihren Niederschlag gefunden hat, ins Gericht. Den großenteils leeren Worten werden kaum Taten folgen, denn mit der Förderalismusrefom hat der Bund seine Gestaltungsmöglichkeiten aus den Händen gegeben. Was der Entwicklung der Bildungsrepublik förderlich wäre, bleibt ausgeklammert. 

Dieter Wunders Rezension des neuen Buches von Ingo Richter schließt diese Ausgabe der vorgänge ab, zu der ich Ihnen wie immer eine anregende Lektüre wünsche.

Ihr

Dieter Rulff

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