Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 188: Die ungebildete Republik

Zwischen Stillstand und Wettbewerb

Der Bildungsföderalismus in Deutschland*

aus: vorgänge Nr. 188, Heft 4/2009, S. 53-62

Föderalismus als Aufbauprinzip von Staaten oder gesellschaftlichen Organisationen soll es bekanntlich kleineren Einheiten ermöglichen,

  • ihre Angelegenheiten im Überschaubaren und Verstehbaren zu halten,
  • sie unter Berücksichtigung historischer und regionaler Besonderheiten weitgehend eigenverantwortlich zu gestalten,
  • bei bewusster Anteilnahme und Mitbestimmung der Betroffenen

und er soll ihnen gleichwohl ermöglichen, eine größere handlungsfähige Einheit zu bilden.

Von Anfang an schwingen im föderalen Prinzip zwei gegensätzliche Stoßrichtungen mit: Einerseits die Absicht weitgehend eigenständiger Einheiten, eine umfassendere Gemeinschaft zu bilden und zu festigen, und andererseits das Anliegen, in einer umfassenderen Gemeinschaft differenzierte Organisationsformen für weitgehend getrennt agierende Einheiten zu schaffen, in Angelegenheiten, für deren Lösung eine gemeinsame Basis nicht oder nicht mehr besteht.

Ermöglichung des Verbindenden und Gemeinsamen und Ermöglichung des Trennenden und Unterscheidenden stehen bei föderalen Organisationen immer schon in einem unauflösbaren Spannungsverhältnis. Dass die damit für die Teile und für das Ganze gewonnenen Freiheiten ihren Preis haben, liegt auf der Hand:

Er besteht in einem erhöhten Aufwand und fühlbaren Hindernissen für die rasche und effiziente Wahrnehmung wichtiger gemeinsamer Aufgaben, namentlich auch für die Durchführung umfassender Reformen, die alle betreffen. Ein hohes Maß an föderaler Freiheit erfordert daher ein ebenso hohes Maß an föderaler Verantwortung.

In Kenntnis dieser Risiken und Nebenwirkungen haben wir uns in Deutschland nach den Erfahrungen des Nationalsozialismus für eine föderale Organisation insbesondere des Bildungswesens entschieden. Nur vergessen wir inzwischen offenbar zu oft, uns zu befragen, wie wir die damit einhergehenden Risiken und Nebenwirkungen möglichst vermeiden oder jedenfalls minimieren können.

Eine sehr prinzipielle Sicht jedenfalls, die vor allem auf Entflechtung von Aufgaben- und Ausgabenzuständigkeiten und auf die Sicherung jeweils eigenverantwortlicher Aufgabenwahrnehmung abhebt, hilft hier nicht wirklich weiter, der gesamtstaatlichen Verantwortung für zentrale Zukunftsprobleme unserer Gesellschaft gerecht zu werden – das ist jedenfalls meine Überzeugung.

Ein Blick zurück auf die ja erst knapp drei Jahre zurückliegende Föderalismusreform I zeigt, dass gerade für den Bildungsbereich die Debatten in der Kommission, im Bundestag, im Bundesrat und in der KMK sehr kontrovers waren. Die Stimmen, die davor warnten, dem Bund weitere Kompetenzen zu entziehen und die Zusammenarbeit zwischen Bund und Ländern weiter einzuschränken, waren zahlreich. Durchgesetzt haben sich schließlich im Wege der Paketbildung und im Tauschhandel gegen Zugeständnisse an den Bund auf anderen Feldern diejenigen, die sich nicht länger von den Schwächeren und Langsameren oder auch nur Andersdenkenden aufhalten lassen wollten. Die Annahme war dabei, dass der föderale Wettbewerb am ehesten die Gewähr dafür biete, dass sich tragfähige Problemlösungen im Bildungsbereich im Wettbewerb unter 16 Ländern besonders erfolgreich herausstellen.

Unter der Prämisse, die Beziehungen zwischen Bund und Ländern zu entflechten und die Gesetzgebungsverfahren zu vereinfachen, wurden deshalb mit der Föderalismusreform nach drei Jahre währenden Beratungen am 1.9.2006 die im Grundgesetz festgelegten Verantwortlichkeiten im Bildungsbereich noch einmal geschärft. Schleswig-Holstein gehörte mit Mecklenburg-Vorpommern zu den wenigen Ländern, die ihre Bedenken gegen zentrale Passagen der vorgesehenen Änderungen, insbesondere die Folgen für finanzschwache Länder offen geäußert haben. Mecklenburg-Vorpommern hat im Bundesrat die Grundgesetzänderung schließlich sogar abgelehnt, Schleswig- Holstein hat sich enthalten. Zu groß waren aus unserer Sicht die Probleme, die aus diesen Veränderungen für finanzschwache Länder – vor allem im Norden und Osten der Republik – erwachsen würden.

Die Zuständigkeiten für den schulischen Bildungsbereich wurden durch die Föderalismusreform vollständig auf die Länder übertragen. Im Hochschulbereich ist insbesondere die Kompetenz für Besoldungsregelungen auf die Länder übergegangen und das Hochschulrahmengesetz (HRG) entfallen.

Durch das Kooperationsverbot in Art 104 b GG wird dem Bund sogar ausdrücklich untersagt, sich in Bereichen der ausschließlichen Gesetzgebungszuständigkeit der Länder finanziell und inhaltlich zu engagieren. Bund und Länder können seither gemäß Art. 91 b Grundgesetz nur noch auf Grund von Vereinbarungen in Fällen überregionaler Bedeutung zusammenwirken bei der Förderung von:

  • Einrichtungen und Vorhaben der wissenschaftlichen Forschung außerhalb von Hochschulen;
  • Vorhaben der Wissenschaft und Forschung an Hochschulen;
  • Forschungsbauten an Hochschulen einschließlich Großgeräten

und bei der „Feststellung der Leistungsfähigkeit des Bildungswesens im internationalen Vergleich“, in den Bereichen

  • der nationalen Bildungsberichterstattung,
  • der Feststellung der Leistungsfähigkeit des Bildungssystems im internationalen Vergleich und
  • der Formulierung gemeinsamer Empfehlungen.

Wesentliche Vorhaben im Bereich dieser neuen Gemeinschaftsaufgabe sollen in regelmäßigen Zusammenkünften auf Ministerebene erörtert werden. Die zur Begleitung der neuen Gemeinschaftsaufgabe notwendige Infrastruktur besteht aus einer gemeinsame Steuerungsgruppe auf Staatssekretärsebene, die von einem wissenschaftlichen Beirat aus unabhängigen Wissenschaftlern unterstützt wird. Die Gemeinschaftsaufgabe Forschungsförderung wird fortgeführt in einer neuen, eigenständigen Organisationseinheit, der Gemeinsamen Wissenschaftskonferenz (GWK). Grundlage für die Errichtung der GWK bildet ein Verwaltungsabkommen zwischen Bund und Ländern, das das bisherige BLK-Abkommen ersetzt.

I. Erfahrungen

Was haben wir seither aus der Föderalismusreform im Bildungsbereich gemacht – wie sieht der Alltag aus? Vor dem Hintergrund im Wesentlichen gleichartiger gesellschaftlicher Herausforderungen, wie z. B. der demografischen Entwicklung, den zunehmenden sozialen und regionalen Disparitäten, den wachsenden Qualifizierungsanforderungen der Arbeitswelt und nicht zuletzt der Knappheit der öffentlichen Finanzen laborieren alle Länder und der Bund an ebenso gleichartigen – sich häufig nur graduell unterscheidenden – Problemen im Bildungsbereich, wie z.B. der Verbesserung der Bildungschancen Bildungsbenachteiligter, der besseren Erschließung der Bildungspotenziale, der Verbesserung der Bildungsergebnisse, der Sicherung differenzierter und qualitätsvoller Bildungsangebote und der Gewährleistung der Versorgung mit qualifiziertem Fachpersonal für die Bildungseinrichtungen.

Betrachtet man das Ergebnis dieser vielfältigen Aktivitäten der einzelnen Länder und des Bundes muss man zu einer ernüchternden Gesamtbeurteilung kommen:

Die Föderalismusreform hat die Länder in ihren originären Kompetenzen und in ihrer Aufgaben- und Finanzverantwortung zwar jeweils einzeln gestärkt. In der Bewältigung der aktuellen zentralen Problemlagen zeigen sie sich als einzelne aber häufig überfordert. Und als Gesamtheit stehen sie meist schwächer da denn je zuvor.

Am eklatantesten ist die institutionelle Schwäche der Ländergesamtheit im Bildungsbereich auf nationaler Ebene. Die mit der Föderalismusreform eigentlich überfällige Stärkung der KMK und ihres Sekretariats ist weitgehend auf der Strecke geblieben. Mit jährlich wechselnder Präsidentschaft, mit dem Erfordernis der Einstimmigkeit bei wesentlichen Entscheidungen und andererseits jederzeitiger Aufkündbarkeit getroffener Vereinbarungen durch einzelne Länder und mit einem auseinander gerissenen Sekretariat mit unzureichender Ausstattung für die Wahrnehmung der gewachsenen Aufgaben lässt sich nicht wirklich Staat machen. Der Abstimmungsaufwand unter den Ländern ist im Vergleich zum Ertrag, der dabei erzielt wird, kaum noch zu rechtfertigen. Das fehlende Engagement in diesen institutionellen Fragen rührt von einem offenbar wachsenden Desinteresse der Länder an gemeinsamen Angelegenheiten – auch deshalb, weil die Probleme „zu Hause“ für alle Bildungsminister immer dringender geworden sind.

Wir können froh sein, dass einige grundlegende Verabredungen zwischen den Ländern bereits vor oder kurz nach der Föderalismusreform getroffen wurden. Einerseits mit Blick auf die Gefahren einer drohenden föderalen Zersplitterung, andererseits aber auch aufgrund des zunehmenden Drucks seitens des Bundes. Zu diesen Verabredungen gehören z.B. die Verabschiedung nationaler Bildungsstandards und ihre Überprüfung oder die Errichtung des Instituts für Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB), das in Fragen der Qualitätsentwicklung im Schulwesen eine nationale Perspektive sichert und die Länder auf europäischer und internationaler Ebene in Sachen Bildungsforschung und Assessments erstmals handlungsfähig macht.

Im Hinblick auf die vereinbarte Sicherung schulischer Qualitätsstandards fällt die Antwort zur Handlungsfähigkeit der Ländergemeinschaft deshalb m. E. höchst widersprüchlich, ja nahezu paradox aus. Auf der einen Seite ist es der Initiative der KMK zu verdanken, dass wir über die Probleme und Herausforderungen im Bildungsbereich so gut und vor allem so empirisch abgesichert wie nie zuvor Bescheid wissen. Und auf der anderen Seite ist genau mit Hilfe dieses Wissens evident, dass es den Ländern bisher nicht gelungen ist, diese Probleme gemeinsam zu lösen.

Ein fast schon historisch zu nennendes Verdienst der Länder liegt darin, dass mit den Konstanzer Beschlüssen 1997 der Weg zu einer an Ergebnissen orientierten Steuerung des Bildungssystems geebnet wurde. In allen Ländern haben TIMSS, PISA und IGLU inzwischen die viel beschworene „empirische Wende“ ausgelöst, die zu einer an den Ergebnissen von Bildungsprozessen ausgerichteten Steuerungsphilosophie geführt hat – bei gleichzeitiger Erweiterung der Handlungsspielräume für die einzelne Schule. Seitdem gilt für alle Länder, dass weder eine ernst zu nehmende Bildungspolitik noch eine erfolgreiche Schulgestaltung ohne empirisch abgesichertes, praxisrelevantes Steuerungswissen vorstellbar sind.

Die zentralen Elemente des dafür notwendigen länderübergreifenden nationalen Bildungsmonitoring wurden von der Ländergemeinschaft trotz mancher Konflikte in einem relativ knappen Zeitraum erfolgreich aufgebaut. Dazu gehören die Festlegung von Bildungsstandards und die Entwicklung von Testverfahren zu deren Überprüfung, nationale wie internationale Leistungsvergleiche und eine systematische, indikatorenbasierte Bildungsberichterstattung gemeinsam mit dem Bund.

Die Länder haben darüber hinaus erkannt, dass sie zur Umsetzung dieser umfassenden Aufgaben nicht nur mit den vorhandenen Forschungsinstituten eng zusammen arbeiten, sondern auch für eine eigene Serviceeinrichtung sorgen müssen. Mit der Gründung und – aktuell – der Auf-Dauer-Stellung des Instituts für Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) als An-Institut an der Humboldt-Universität in Berlin ist dieser Schritt erfolgreich gelungen.

Die Kultusministerkonferenz hat zudem im Juni 2006 eine Gesamtstrategie zum Monitoring des Bildungssystems vorgelegt, die dazu dient, die vordringlichen Felder der Bildungsforschung zu definieren, dem steigenden Bedarf an abgesichertem Steuerungswissen gerecht zu werden und die bisher fehlende systematische Verknüpfung der verschiedenen Evaluations- und Steuerungsebenen zu gewährleisten: nämlich die Internationalen Schulleistungsuntersuchungen, die zentrale Überprüfung der nationalen Bildungsstandards in einem Ländervergleich, Vergleichsarbeiten zur landesweiten Überprüfung der Leistungsfähigkeit einzelner Schulen und die gemeinsame Bildungsberichterstattung von Bund und Ländern.

Die Länder und der Bund sind sich aufgrund des von ihnen aufgebauten Bildungsmonitoring jetzt also immerhin einig darüber, welche Probleme zu lösen sind, was keineswegs selbstverständlich ist und nicht immer so war.

Der Bildungsföderalismus hatte sich durchaus auch im Hinblick auf die notwendigen Folgerungen, die aus diesen empirischen Problembeschreibungen und -analysen gezogen werden sollten, bewährt. Mit den von der KMK im Dezember 2001 als Folgerung aus PISA 2000 beschlossenen sieben Handlungsfeldern wurde eine tragfähige längerfristige Perspektive zur Lösung der Probleme vorgelegt. Auf dieser Grundlage wurden nach den aktuellen Ergebnissen der IGLU-, TIMSS- und PISA-Studien im vergangenen Jahr ein neuer Schwerpunkte „Förderung der leistungsschwächeren Schülerinnen und Schüler“ gesetzt, um wirksam etwas gegen die mangelnde Bildungsgerechtigkeit und unzureichende Bildungsqualität zu unternehmen.

Bis zu diesem Punkt – Bestandsaufnahme, Auswertung der empirischen Daten, Festlegung von Zielen – bewährt sich der Bildungsföderalismus mehr oder weniger; ab hier aber wird es schwierig. Es ist den Ländern bisher nicht gelungen, nach Abschaffung der gemeinsamen Bildungsplanung zwischen Bund und Ländern im schulischen Bereich etwas Besseres an die Stelle zusetzen, um für gemeinsame Vorhaben und die Vertretung von Länderpositionen gegenüber dem Bund, der EU oder der OECD eine tragfähige Infrastruktur zu schaffen. Und unter den Ländern herrscht bisher kein Konsens darüber, wie ein „kooperativer Bildungsföderalismus“ konkret aussehen könnte:

Wo finden die Interessen des eigenen Landes seine Grenzen, wo beginnen notwendige Gemeinsamkeiten?

In welchem Umfang sollen Wettbewerb und/oder Solidarität das Verhältnis unter den Ländern prägen?

Wie soll mit den zunehmend unterschiedlichen Lebensverhältnissen in den Ländern, die sich unmittelbar auf das Bildungssystem auswirken, umgegangen werden? Wie kann zwischen armen und reichen, kleinen und großen, alten und neuen Ländern ein sinnvoller Ausgleich geschaffen werden?

Wie sollen – um ganz konkret und aktuell zu werden – die Probleme mit dem sich abzeichnenden Lehrkräftemangel gelöst werden? Inwieweit sind die Probleme eines Landes auch die Probleme aller anderen Länder?

In der Folge dieser kontroversen Fragen ist eine deutliche Zunahme von Differenz – euphemistisch ausgedrückt: von Vielfalt – im Bildungsbereich zu beobachten. Die Unübersichtlichkeit wächst; die Anschlussfähigkeit geht immer weiter verloren, sehr zum Leidwesen derer, auf die es bei all diesen Reformen eigentlich ankommen sollte: der Schülerinnen und Schüler, der Eltern und der Lehrkräfte. Wir drohen m. E. immer stärker auf einen abschüssigen Pfad vom kooperativen Föderalismus zum Wettbewerbsföderalismus zu kommen, in dem jedes Land seine relativen Stärken und Besonderheiten ausspielt gegenüber den anderen, insbesondere den wirtschaftlich weniger leistungsfähigen und mit besonderen Problemlagen belasteten Ländern.

Die mit der Föderalismusreform neu gewonnen Möglichkeiten werden von einigen Ländern konsequent, andere sagen rücksichtslos, genutzt. Einige Beispiele:

Angesichts der von vielen gesehenen problematischen Entwicklungen im Besoldungs- und Laufbahnrecht nach der Übertragung der Verantwortung auf die Länder hat die KMK im Juni 2006 eine Arbeitsgruppe eingesetzt, die den Prüfauftrag hatte zu klären, ob (!) die Länder sich gegenseitig über beabsichtigte Veränderungen informieren sollten und ob und inwieweit vergleichbare beamtenrechtliche Regelungen für die Laufbahnen im Schulbereich und ländergemeinsame Regelungen zur Gewährleistung eines fairen Wettbewerbs auf dem Lehrerarbeitsmarkt erforderlich sind. Auf der 318. KMK vom 14.6.2007 konnte schließlich nur eine Verständigung über eine Informationspflicht verabschiedet werden. Rahmenregelungen wurden von einigen Ländern weder für erforderlich noch wünschenswert gehalten.

Ein ähnliches Schicksal erlebte die ebenfalls im Juni 2006 eingesetzte Amtschefkommission „Qualitätssicherung in Hochschulen“, die mit der Prüfung beauftragt war, einen Beschluss der KMK vorzubereiten, ob und inwieweit ein unabdingbar notwendiger Kernbereich länderübergreifender Regelungsmaterien im Hochschulbereich zu beschreiben ist und wie dieser gegebenenfalls gewährleistet werden könnte. Der Bericht der Kommission für die 322. KMK vom 12.6.2008 hält im Ergebnis fest, dass von der Mehrheit der Länder kein weiterer Handlungsbedarf auf den Feldern gesehen wird, wo eine Abstimmung u. U. sinnvoll wäre, wie Hochschulzugang, Zulassung, Studiengangsstrukturen, Grundsätze der Qualifikation, Abschlüsse und Personal. Die Länder verpflichteten sich auch hier lediglich zu gegenseitiger Information über beabsichtigte Änderungen.

Als weiteres Beispiel sei der aktuelle Vorstoß einiger finanziell stärkerer Länder erwähnt, einen früheren Beschluss der KMK als für sie nicht mehr verbindlich anzusehen und seine Aufhebung zu verfolgen. In dem Beschluss geht es darum zu verhindern, dass bereits kurzfristig nach Berufungsentscheidungen bei Hochschulprofessoren diese von anderen Ländern wieder wegberufen und damit Investitionen in Personal und Ausstattung wertlos werden. Die letzte Lehrer-Abwerbeaktion aus Baden-Württemberg, die auf Intervention einiger Länder in der KMK lediglich zu einer wortreichen allgemeinen Erklärung, aber nicht zu einer Einstellung der Aktion führte, mag diese beispielhafte Auflistung abschließen.

Der KMK fällt es also immer schwerer, sich in zentralen gesamtstaatlichen Fragen auf gemeinsame Rahmenregelungen oder Projekte zu verständigen. Die Daseinsberechtigung der KMK beweist sich inzwischen auf diesen Feldern immer häufiger in unverbindlichen „Empfehlungen“, wohl austarierten „Stellungnahmen“ und „Handlungskonzepten“, die lediglich Kompilationen der ohnehin in den Ländern durchgeführten Maßnahmen oder Projekte darstellen. Das ist nicht in erster Linie ein A/B-, Ost/Westoder Nord/Süd-Problem. Auch diese jeweiligen Lager sind sich zunehmend uneinig. Häufig geht es nur noch um Stärke oder Schwäche. Eine Verständigung gelingt, wenn überhaupt, dann häufig nur auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner. Die Vereinbarungen zur Lehrerausbildung sind vielleicht exemplarisch dafür, zu welcher Unübersichtlichkeit und zu welchen waghalsigen Konstruktionen solche Lösungen führen.

Mit der unterschiedlichen Betroffenheit der Länder von Problemlagen und ihrer unterschiedlich ausgeprägten Fähigkeit zu ihrer Bewältigung – meist korrespondierend mit strukturellen Problemen einzelner Länder – nehmen die auseinander treibenden Kräfte also erkennbar zu und mit ihnen die länderspezifischen Gestaltungen auf vielen Feldern, nicht allein im Laufbahn- und Besoldungsrecht, sondern auch bei Finanzierungsstrukturen, Bildungsangeboten und Schulstrukturen, Zugangsfragen, Abschlussgestaltungen, Rahmenbedingungen der Arbeit in den Bildungsinstitutionen, der Qualifizierung des lehrenden Personals und so weiter. Zugleich bleiben die großen Unterschiede bei den Problemlagen der Länder und den Ergebnissen ihrer Bildungseinrichtungen im Wesentlichen bestehen, was wiederum zum Treibsatz für sich fortsetzende unterschiedliche Entwicklungen der Lebensverhältnisse zu werden droht.

Im Hochschul- und Forschungsbereich hat die Föderalismusreform naturgemäß eher noch deutlicher bewirkt, dass die einzelnen Länder ihre eigenen Interessen und Möglichkeiten stärker ausformen. Die Hochschullandschaft hat sich inzwischen massiv verändert. Der Wettbewerb zwischen den Hochschulen hat sich intensiviert. Der Wettbewerb um Personal hat sich verschärft. Das alles geht nachhaltig zulasten der kleinen Länder. Die Zusammenarbeit von Bund und Ländern in der GWK konzentriert sich vor allem auf die Umsetzung der großen, vom Bund initiierten Förderprogramme wie Hochschulpakt und Exzellenzinitiative, die eine enorme Bewegung in den Forschungswettbewerb zwischen den Hochschulen gebracht haben.

Ansonsten gilt viel zu häufig, dass für dasselbe Problem 16 Lösungen entwickelt werden, von vorschulischer Sprachstandsdiagnostik, über Verfahren der externen Evaluation bis zu Methoden der Leseförderung. Eine gewaltige Ressourcenvergeudung. Die wenigen gemeinsam verabredeten Projekte werden immer wieder unter den Vorbehalt landesspezifischer Abweichungen gestellt und unterliegen vor allem bei auftretenden Problemen der Gefahr, zu zerfasern oder gar auseinander zu fallen. Dies gilt für die Durchführung von Vergleichsarbeiten ebenso wie für gemeinsame Projekte zur Entwicklung des Unterrichts.

Besonders prekär ist es in diesem Zusammenhang, dass die Wirksamkeit der von den einzelnen Ländern ergriffenen Maßnahmen zur Lösung der gemeinsam festgestellten Probleme stark darunter leidet, dass sie in ihrer kleinteiligen Begrenztheit und Konkurrenz nicht die Durchschlagskraft entwickeln, die notwendig wäre, um die erforderliche gemeinsame Orientierung und Bündelung der Kräfte zur Bewältigung der im Kern gesamtstaatlichen Probleme zu erreichen. Das Zusammenspiel von Bund und Ländern funktioniert in dem verbliebenen engen Bereich der Gemeinschaftsaufgabe geräuschlos und unspektakulär, allerdings auch von der Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt.

Der Übermacht des eingespielten administrativen Apparates des BMBF und anderer Bundesressorts hat die KMK wenig entgegenzusetzen, ebenso wenig der finanziellen Potenz des Bundesetats. Obwohl das Verwaltungsabkommen vorsieht, dass Bund und Länder wesentliche Vorhaben der neuen Gemeinschaftsaufgabe in regelmäßigen Zusammenkünften auf Ministerebene erörtern, hat es seit Inkrafttreten der Föderalismusreform erst genau eine einzige Zusammenkunft gegeben. Eine weitere, bereits verabredete zur Veröffentlichung der Ergebnisse von IGLU/PISA im Jahr 2008 wurde vom BMBF kurzfristig abgesagt, wohl um eine Konkurrenz zum geplanten Dresdner Bildungsgipfel zu vermeiden. Die eigentliche Ursache für diese Entwicklung liegt m. E. darin, dass es außer der alle zwei Jahre stattfindenden Präsentation des Bildungsberichts keine weiteren Gemeinschaftsthemen von wirklicher Bedeutung gibt, die sich aus der eng geschnittenen neuen Gemeinschaftsaufgabe ableiten ließen. Stattdessen versucht das BMBF immer wieder, durch Interviews, Verlautbarungen oder sonstige Erklärungen fehlende Zuständigkeiten durch mehr oder weniger originelle Vorschläge zur Gestaltung von Schule und Unterricht wettzumachen. Da geht es ziemlich wahllos um den Einsatz von Managern im Unterricht, gleiche Schulbücher für alle oder die Einführung von bundesweit einheitlichen zentralen Prüfungen.

Die Öffentlichkeit hat vor dem Hintergrund des so erzeugten Eindrucks von Handlungsunfähigkeit und Zersplitterung der Länder ihr Urteil über den Bildungsföderalismus und über die KMK im Besonderen, bereits gefällt (Studie der Bertelsmann-Stiftung vom Februar 2008):

Jeder Vierte hält die Länder für überflüssig. Jede Zweite spricht sich für eine Reduzierung der Kleinteiligkeit und für Fusionen von Ländern aus. Der wichtigste Identifikationsfaktor für die Bürger ist die kommunale Ebene (39 Prozent), gefolgt von „Deutschland“ und – noch vor den Ländern (11 Prozent) – die EU (14 Prozent).

Wettbewerb unter den Ländern lehnen die Bürger mehrheitlich ab; Solidarität ziehen sie vor. Bundesweit vergleichbare Lebensverhältnisse haben einen hohen Stellenwert.

Eine große Mehrheit ist für einheitliche Bildungsstandards für Kita, Schule und Universität.

Der Wunsch nach Chancengleichheit ist der zentrale Aspekt in allen Reformüberlegungen zum Föderalismus.

Die KMK ist als harm- bis hilflose Problemverwalterin verschrien.

So verwundert es nicht, dass die Legitimationsprobleme des Bildungsföderalismus massiv zunehmen und der vorschnelle Ruf nach dem Bund als vermeintlichem Heilsbringer immer häufiger zu hören ist.

II. Perspek­tiven

Ein Ausblick auf die Zukunft des Bildungsföderalismus in Deutschland kann nach diesen ernüchternden Analysen nicht besonders rosig ausfallen. „Wettbewerb oder Stillstand?“, mit dieser Alternative lässt sich m. E. die Lage nicht ausreichend beschreiben. Wir erleben auf KMK-Ebene und zwischen Bund und Ländern gegenwärtig eine wenig befriedigende Mixtur von administrativer Bewältigung der negativen Folgeprobleme der Vielfalt länderspezifischer Regelungen, kleineren gemeinsamen Verabredungen für durchaus tragfähige neue Kooperationsstrukturen und gemeinsame Verfahrensweisen, Streitigkeiten über die Verteilung von Bundesmitteln und Beiträgen der Länder zu Bundesinitiativen, zu viel Stillstand, zum Teil sogar Rückschritt und einen problematischen, zentrifugale Wirkungen entfaltenden Wettbewerb.

Die stärksten Impulsgeber für nachhaltige Entwicklung im deutschen Bildungssystem sind inzwischen der nach wie vor funktionierende „goldene Zügel“ und übergreifende politische Initiativen des Bundes sowie supranationale Organisationen wie die OECD und zukünftig sicherlich verstärkt auch die EU im Zusammenspiel mit der international vernetzten Bildungsforschung und den Medien geworden. Diese Themen dominierten denn auch die KMK-Tagesordnungen der letzen Jahre.

Insbesondere die Dialektik von nationalem und internationalem Benchmarking und Ranking und ihrer Skandalisierung durch die Medien treibt die Länder im Schulbereich vor sich her. Es wächst die Gefahr, dass jeder unter dem dadurch ausgelösten politischen Druck in Alleingängen versucht, seine eigene Haut zu retten. Föderaler Wettbewerb steht eben nicht zwingend für vorwärtstreibenden Innovations- oder Qualitätswettbewerb und wirksame Problemlösungen. Ein mehr oder weniger rücksichtsloser Verdrängungswettbewerb, ein Wettbewerb der Länderegoismen kann für einzelne Länder und vor allem für die Gesamtheit der Länder zu Stillstand oder sogar Rückschritt führen. Dort wo kooperativer Föderalismus gelungen ist und die Zusammenarbeit mit dem Bund funktionierte, sind in den letzten Jahren zukunftsfähige Innovationen und Strukturen entstanden wie z.B. das IQB, die Bildungsstandards, ein gemeinsames Bildungsmonitoring. Für viele der in der Zukunft eher wachsenden Problemlagen brauchen wir daher keine Ablösung des kooperativen Föderalismus durch einen Wettbewerbsföderalismus, sondern eine Weiterentwicklung hin zu einem solidarischen Föderalismus verbunden mit einer Belebung der gesamtstaatlichen Verantwortung von Bund und Ländern im Bildungsbereich. Der Wissenschaftliche Beirat für die Gemeinschaftsaufgabe „Feststellung der Leistungsfähigkeit im internationalen Vergleich“ gemäß Artikel 94 b GG hat in einer Stellungnahme zu den Ergebnissen der letzten internationalen PISA- und PIRLS-Studien (2006) Anfang 2008 angesichts der Größe der Disparitäten bei der Realisierung von Bildungschancen folgerichtig die dringend politisch zu entscheidende Frage aufgeworfen „ob die Länder und der Bund die gravierendsten Probleme als gesamtstaatliche Herausforderung und Aufgabe definieren oder als Zuständigkeit einzelner, besonders betroffener Länder.“

Macht Bildungsföderalismus überhaupt noch Sinn? Ist der Bildungsföderalismus nur noch „praktizierte Bürgerferne, eine staatsrechtliche Spielform des Sadismus“, wie Heribert Prantl in der SZ feststellte? Sollte nicht eher der Bund das Heft in die Hand nehmen und den Ländern die wesentlichen Rahmenbedingungen vorgeben?

Meine klare Antwort: Das ist nicht notwendig und auch nicht sinnvoll – vielleicht mit einigen kleinen Ausnahmen, wo eine Wiederherstellung der Bundeskompetenzen sinnvoll wäre, wie z.B. beim Hochschulzugang und beim Laufbahn- und Besoldungsrecht. Viele der schulpolitischen Initiativen des Bundes zeichneten sich in der Vergangenheit im Übrigen durch eine erstaunliche Praxisferne aus. Das Wichtigste aber bleibt, dass gerade die Qualität schulischer Bildung ganz wesentlich von der eigenverantwortlichen Gestaltung vor Ort und einer engen Verbindung mit der Region abhängen.

Auch habe ich die Hoffnung nicht aufgegeben, dass sich die Länder doch noch bereit finden werden, nicht nur Probleme gemeinsam zu identifizieren, sondern auch gemeinsam an deren Lösung zu arbeiten. Die auch in den kommenden Jahren in kurzen Abständen zur Veröffentlichung anstehenden Ergebnisse der IQB-Ländervergleiche zur Überprüfung der Bildungsstandards und weiterer Large Scale Assessments werden den Druck weiter erhöhen, dass dies geschieht. Hinzu kommt, dass, ausgelöst durch die Finanzkrise, alle Länder zukünftig vor nicht absehbaren Haushaltsproblemen stehen werden, die eine engere Zusammenarbeit mit einer effizienteren Nutzung immer knapper werdender Ressourcen erfordern. Sechs Dinge sind m. E. aber vordringlich:

  • Die sehr unterschiedlich leistungsfähigen Länder, die in ihren Handlungsmöglichkeiten und Entwicklungspotenzialen kaum noch vergleichbar sind, stellen ein zunehmendes Problem dar. Dies gilt vor dem Hintergrund des bevorstehenden Neuverschuldungsverbotes allemal. Finanzausgleichsinstrumente und Ergänzungszuweisung können die heutigen strukturellen Disparitäten nicht nachhaltig überwinden. Wenn wir das Ziel des Bildungsgipfels erreichen wollen, die Aufwendungen für Bildung und Forschung gesamtstaatlich auf 10 Prozent des Bruttoinlandsproduktes bis zum Jahr 2015 zu steigern, wird dieses bei den bestehenden Disparitäten zwischen den Ländern nicht gelingen. Hier besteht dringender Handlungsbedarf.
  • Wir brauchen eine Stärkung der KMK durch andere Führungs- und Entscheidungsstrukturen, ein handlungsfähiges Sekretariat und ein auch für bildungspolitische Maßnahmen im nationalen Maßstab auskömmliches Budget.
  • Wir brauchen in gesamtstaatlicher Verantwortung einen solidarischen Föderalismus, der Länderegoismen hinter der Bewältigung der Probleme der Ländergesamtheit zurückstellt.
  • Wir brauchen eine Öffnung des Grundgesetzes für eine allgemeine Kooperation von Bund und Ländern, die bei Einigkeit eine sinnvolle Zusammenarbeit auch im Schul- und Bildungsinfrastrukturbereich ermöglicht und für gesamtstaatliche Probleme auch eine gesamtstaatliche Verantwortungsübernahme möglich macht.
  • Wir brauchen schließlich eine Erweiterung der Möglichkeiten für dauerhafte Mischfinanzierungen von Bund und Ländern. Artikel 104 a GG in der geltenden Fassung nach der Föderalismusreform I verhindert sinnvolle und notwendige gemeinsame Anstrengungen von Bund und Ländern. Die in der Föderalismuskommmission II vorgesehene Öffnung reicht bei weitem aus. In den parlamentarischen Beratungen besteht jetzt die Chance, eine sachgerechte weitere Öffnung zu realisieren. Die Einschränkung auf zeitlich befristete Programme und die Sonderfälle von Naturkatastrophen oder außergewöhnliche Notsituationen erlaubt keine proaktive kooperative Gestaltung in gesamtstaatlicher Verantwortung.
  • In der Folge brauchen wir eine Weiterentwicklung der heutigen Gremien der Gemeinschaftsaufgabe zur Beratung und Verabschiedung wirklich durchgreifender gesamtstaatlicher Maßnahmen im Bildungsbereich.

* Der Beitrag basiert auf einem Vortrag, der am 30. März 2009 in der Friedrich-Ebert-Stiftung gehalten wurde.

nach oben