Regierungs-Bildung
Zum Koalitionsvertrag von CDU, CSU und FDP;
aus: vorgänge Nr. 188, Heft 4/2009, S. 123-127
„Bildung ist eine Bedingung für die innere und äußere Freiheit des Menschen. Sie schafft geistige Selbständigkeit, Urteilsvermögen und Wertebewusstsein. (…) Bildung ist Voraussetzung für umfassende Teilhabe des Einzelnen in der modernen Wissensgesellschaft. Bildung ist daher für uns Bürgerrecht.“ Die Sätze klingen wie ein Zitat aus den legendären „Freiburger Thesen“ der Liberalen um Karl-Hermann Flach und Werner Maihofer. Oder wie ein Ausschnitt aus Ralf Dahrendorfs Serie in der Hamburger Wochenzeitung „Die Zeit“ zum „Bürgerrecht auf Bildung“, geschrieben vor mehr als vierzig Jahren. Doch „für uns“, das sind CDU, CSU und FDP, die sich in ihrem Koalitionsvertrag vom Herbst 2009 auf diese Sätze verständigt haben. Mit ihnen sagen sie der „Bildungsarmut den Kampf an“ und rufen die „Bildungsrepublik Deutschland“ aus. Die drei großen Altliberalen, für die das Soziale zum Freiheitlichen gehörte, sind tot, ihre Spuren in der heutigen FDP verwischt. Und so bleibt es in dem Koalitionsvertrag bei den Anklängen aus längst vergangenen Zeiten. Es überwiegen die Töne aus dem Wahlkampf: Wohlstand für alle, mehr Netto vom Brutto, Bürgergeld, kein Mindestlohn, Leistung. Viel Wolkiges, wenig Eindeutiges. Das kleine Wörtchen Solidarität taucht in den 124 Seiten nicht auf, Chancengleichheit ebenso wenig.
Warum auch: Die Unionsparteien haben die Gleichheit längst durch die unverbindliche Gerechtigkeit ersetzt. Und den Auftrag zu erfüllen, Bildung als Bürgerrecht tatsächlich und wirksam in der „Bildungsrepublik Deutschland“ um- und durchzusetzen, das hat die schwarz-gelbe Regierung unter Helmut Kohl bereits vor fünfzehn Jahren aufgegeben. Damals stimmten CDU/CSU und FDP (nicht zu vergessen: mit Justizministerin Sabine Leutheuser-Schnarrenberger) einer einschneidenden Änderung des Grundgesetzes zu. Aus dem bis dahin breit auslegbaren Auftrag an den Bund, für „einheitliche Lebensverhältnisse“ zu sorgen, wurde ein stark beschnittener, vom Bundesverfassungsgericht stets (auch inhaltlich) überprüfbarer Auftrag, für „gleichwertige Lebensverhältnisse“, vorzugsweise im Bereich der Wirtschaft und des Arbeitsmarkts zu sorgen.
Die Bildungsrepublik geriet aus dem Blick und in den Strudel der Reform des deutschen Bundesstaats. Diese wurde massiv von der FDP- nahen Friedrich Naumann Stiftung, arbeitgebernahen Stiftungen und dem 2. Senat des Bundesverfassungsgerichts betrieben. Mit der so genannten Föderalismusreform I schließlich setzte die Große Koalition unter Bundeskanzlerin Angela Merkel 2006 der langen Ära des kooperativen Bundesstaats ein Ende. In der neuen Ära des föderalen Wettbewerbs und der Ungleichheit als Element des Bundesstaats (seit 2002 nennt es das Bundesverfassungsgericht „partikulare Differenz“) hat der Bund keinerlei Gestaltungsmöglichkeiten mehr in der Bildungspolitik. Auch die direkte Kooperation von Bund und Kommunen ist seither blockiert, was unmittelbare Auswirkungen auf die Um- und Durchsetzung der Sozial-, Familien-, Jugend- oder Arbeitsmarktpolitik hat. An den Ministerpräsidenten der Länder vorbei geht in diesen gesellschaftspolitischen Feldern nichts mehr. Umgehungsversuche, wie die Zusammenlegung von Sozial- und Arbeitslosenhilfe in einer Bundkommunalen Arbeitsgemeinschaft, straft das Verfassungsgericht ab.
Vor diesem Hintergrund enthält der Koalitionsvertrag im Kapitel II (Bildungsrepublik Deutschland) neben den schönen Eingangssätzen nur Beschwörungsformeln. Und viel Nationales wie die „nationale Anstrengung“, die „gesamtstaatliche Aufgabe“ und die „enge Partnerschaft aller Verantwortlichen entlang der gesamten Bildungskette“. Die neue Bundesregierung strebt eine „Bildungspartnerschaft von Bund, Ländern und Kommunen“ an. Sie will „Bildungsbündnisse aller relevanten Akteure“ fördern und winkt diesen Bündnissen mit Geld: „Bildungsschecks zur Weitergabe an benachteiligte Kinder und Jugendliche“. Anstreben, fördern, unterstützen, unentwegt das Nationale bemühen – mehr kann der Bund zur Gestaltung der Bildungsrepublik „mit den besten Kindertagesstätten, den besten Schulen und Berufsschulen sowie den besten Hochschulen und Forschungseinrichtungen“ nicht beitragen. Das Hochschulrahmengesetz, eine Errungenschaft des kooperativen Bundesstaats aus dem Jahr 1969, soll endgültig aus dem Grundgesetz gestrichen werden. Einen verbindlichen Rahmen für die verkündete „Bildungspartnerschaft“ gibt es nicht mehr.
Die Verantwortung für alles „Beste“ liegt so bei den Ländern. Die im Koalitionsvertrag geforderten Sprachtests für die Vierjährigen fallen nicht in die Bundeskompetenz, die Qualifizierung und Weiterbildung der Erzieherinnen und Lehrer ebenso wenig. Die Projekte „Stipendien“, „Bildungssparen“ und „Betreuungsgeld für die unter Dreijährigen“ fördern die Privatisierung bei der Bildungsfinanzierung. Großspurig verkünden die Koalitionäre, den Anteil der Stipendiaten in den Hochschulen „mittelfristig“ von heute zwei auf zehn Prozent zu erhöhen. 300 Euro soll es unabhängig vom Einkommen der Eltern für begabte Studierende geben, aber keineswegs aus einem Bundesfonds, sondern aus einem „nationalen Stipendienprogramm“: Die Hälfte sollen die Hochschulen „bei Wirtschaft und Privaten“ einwerben, den reichlich schäbigen Rest sollen sich Bund und Länder teilen. Dieser „Wille zur Elite“ (so allen Ernstes die SZ am 2. November 2009, S. 11) fällt äußerst schwach aus. Mehr Markt, mehr Wettbewerb, mehr Privatisierung – die neoliberale Handschrift ist klar erkennbar.
Das gilt auch für das Anreizprogramm für die Banken, das sich hinter dem Projekt „Zukunftskonto“ verbirgt. Der Bund will „jedem neugeborenen Kind beispielsweise“ 150 Euro überweisen lassen. Einzahlungen von Eltern, Großeltern oder Paten sollen bis zur Volljährigkeit „mit einer Prämie“ unterstützt werden. Von einer verlässlichen Ausbildungsversicherung für alle, besonders aber für die bildungsfernen und armen Kinder, die in der „Bildungsrepublik“ aufwachsen, ist dieses Vorhaben weit entfernt. Es unterstützt im Gegenteil diejenigen Schichten, die den Wert von Bildung und Ausbildung kennen. Spätestens bei diesem Projekt hat sich der angekündigte Kampf gegen die Bildungsarmut im Koalitionsvertrag verflüchtigt.
Die merkwürdigste Schenkaktion der Schwarz-Gelben ist aber das „Betreuungsgeld“ ab 2013, dem Jahr der nächsten Bundestagswahl. Das „Betreuungsgeld“ für die unter Dreijährigen ist keine „Herdprämie“ nach CSU-Wünschen, sondern die 150 Euro (monatlich?) – „gegebenenfalls als Gutschein“ – sollen dazu dienen, „Wahlfreiheit zu anderen öffentlichen Angeboten und Leistungen zu ermöglichen“. Baby-Turnen und frühkindliches Englisch statt Tagesmutter oder Kindertagesstätte? Grotesk, wie die Koalition dem Konflikt mit den Christsozialen aus dem Weg zu gehen versucht.
Überhaupt bleibt alles ausgeklammert, was die Entwicklung zur Bildungsrepublik Deutschland blockiert. Über die gesellschaftliche Spaltung, die Ausgrenzung von Kindern und Jugendlichen durch das hoch selektive und damit undemokratische Bildungswesen verlieren die neuen Koalitionäre kein Wort. Zur nichtakademischen beruflichen Bildung, die immer noch für die Mehrheit der Jugendlichen der wichtigste Zugang zum Arbeitsmarkt, aber auch zum Erwachsenwerden ist, steht im Vertrag nur Altbekanntes. Das duale System von Betrieb und Berufsschule und das deutsche „Berufsprinzip“ bleiben das unangetastete „Herzstück“, allen in den Nationalen Bildungsberichten breit dokumentierten Problemen und Schwierigkeiten im europäischen Raum zum Trotz. Bildungsministerin Annette Schavan macht einfach weiter wie bisher, lockt mit Forschungsprogrammen und internationalen Vergleichen. Die halbe Million Jugendliche im unübersichtlichen „Übergangssystem“ ohne verwertbare Berufsqualifikation sind der Koalition zwei Sätze wert. Das System soll (mal wieder) neu strukturiert und effizienter werden.
Neue Strukturen und Effektivität sind überhaupt schwarz-gelbe Lieblingsvokabeln wie auch die Formel, „alles auf den Prüfstand“ stellen zu wollen. Nur: das Bildungssystem erreicht dieser Elan nicht. Der Föderalismus des Wettbewerbs und der Ungleichheit bleibt unangetastet. Das bedeutet in der Praxis: Weder wird es eine bitter notwendige Rahmenkompetenz des Bundes bei den Strukturen, Lehrplänen oder Standards geben, noch wird das Kooperationsverbot zwischen dem Bund und den Kommunen aufgehoben, obwohl letztere alle Steuerversprechungen dieser Koalition werden mitbezahlen müssen. Auch der Wildwuchs und Wirrwarr bei den Maßnahmen für die benachteiligten Jugendlichen bleibt bestehen: eine aktive und an tatsächlicher Partnerschaft orientierte Bildungspolitik für die Kinder und Jugendlichen des unteren Drittels müsste die unzähligen Bundes-, Landes- und EU-Programme miteinander verzahnen und die bisherigen Hürden zwischen Bildungspolitik, Sozialpolitik und Arbeitmarktpolitik überwinden.
Doch so wie die Dinge liegen, wird sich die „Bildungsrepublik Deutschland“ in der föderalen Unübersichtlichkeit einrichten: mit rund zwanzig verschiedenen Hauptschulabschlüssen, von Land zu Land unterschiedlichen Lehrerausbildungen und zwei bis sechs verschiedenen Schulformen, mögen sie Gymnasium, Stadtteilschule, Produktionsschule oder Werkrealschule heißen. Das gegliederte Schulsystem, das die soziale Herkunft der Kinder nicht ausgleicht, sondern verstärkt, zerfasert weiter und setzt sich im Übergang von der Schule in den Beruf fort – so genannten Königswegen, Nebenwegen, Umwegen oder eben Sackgassen. Von einer Chancengleichheit, die überall gilt, und einem Ausgleich sozialer Benachteiligungen entfernt sich Deutschland immer weiter.
Eine gesamtstaatliche Verantwortung, beschworen im neuen Koalitionsvertrag, gibt es in der Realität nicht. Auch Hoffnungen auf oder Erwartungen an europäische Angleichungsprozesse werden sich nicht erfüllen. Denn die derzeitige Entwicklung erfährt massive Unterstützung von einer Seite, die sich früher einmal für das Bürgerrecht auf Bildung und den offenen Zugang zu den Bildungsstätten für alle Kinder stark gemacht hat: dem Bundesverfassungsgericht. In dem Urteil zum Vertrag von Lissabon (BVerfG, 2 BvE 2/08 vom 30. Juni 2009) zog der 2. Senat, dem die Bundesrepublik bereits die „partikulare Differenz“ als Element des Bundesstaats verdankt, klare Grenzlinien und errichtete Schranken für die weitere europäische Integration. Zur „Selbstgestaltungsfähigkeit eines Verfassungsstaates“ gehören nach Meinung der Karlsruher Richter fünf Kernbereiche: das Strafrecht, die Verfügung über das Gewaltmonopol polizeilich nach innen und militärisch nach außen, die fiskalischen Grundentscheidungen über Einnahmen und Ausgaben, die sozialstaatliche Gestaltung von Lebensverhältnissen sowie „kulturell besonders bedeutsame Entscheidungen etwa im Familienrecht, Schul- und Bildungssystem oder über den Umgang mit religiösen Gemeinschaften“. Das, was die Verfassungsrechtler die „Ewigkeitsklauseln“ nennen, erläutern die Richter des 2. Senats in dem Urteil ausführlich und unmissverständlich. Da der Wortlaut bisher öffentlich weder zur Kenntnis genommen noch kommentiert worden ist, sei er ausführlich zitiert: „Demokratische Selbstbestimmung ist schließlich auf die Möglichkeit, sich im eigenen Kulturraum verwirklichen zu können, besonders angewiesen bei Entscheidungen, wie sie insbesondere im Schul- und Bildungssystem, im Familienrecht, bei der Sprache, in Teilbereichen der Medienordnung und zum Status von Kirchen, Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften getroffen werden.“ Die bereits wahrnehmbaren Aktivitäten der Europäischen Union, so fahren die Richter fort, griffen zu weit in die Gesellschaft ein. Daher: „Die Gestaltung von Lehrplänen und Bildungsinhalten sowie etwa die Struktur eines gegliederten Schulsystems sind politische Grundentscheidungen, die einen starken Bezug zu den kulturellen Wurzeln und Wertvorstellungen eines jeden Staates haben. Die Gestaltung von Schule und Bildung berührt (…) in besonderem Maße gewachsene Überzeugungen und Wertvorstellungen, die in spezifischen historischen Traditionen und Erfahrungen verwurzelt sind. Demokratische Selbstbestimmung erfordert hier, dass die jeweilige durch solche Tradition und Überzeugungen verbundene politische Gemeinschaft das Subjekt demokratischer Legitimation bleibt.“
Mit dieser Randziffer 260 werden die bildungspolitischen Verhältnisse in Deutschland unter den verfassungsrichterlichen Schutzschirm gestellt. Gleichzeitig öffnet das Gericht Tür und Tor den Gegnern einer europäischen Angleichung und Vergleichbarkeit, wie sie in Bologna für die akademischen und in Kopenhagen für die nichtakademisch-beruflichen Ausbildungswege beschlossen worden sind. Das deutsche Staatsexamen, das deutsche Diplom, das deutsche „Herzstück“ duales System sowie das Gymnasium oder die Hauptschule – all das gehört zu den spezifischen historischen Traditionen, sicher auch zu den kulturellen Wurzeln. Aber sind diese deutschen Sonderwege im Bildungs- und Ausbildungswesen deshalb im europäischen Integrationsprozess unantastbar? Wen die Furcht vor Veränderungen durch die Europäisierung umtreibt, wer die immer noch nicht eingelöste grundlegende Demokratisierung des deutschen Bildungssystems ablehnt und das gegliederte, hoch selektive deutsche Schulsystem als begabungsgerecht nach wie vor verteidigt, wird sich an den Sätzen der Verfassungshüter laben. Einer solchen Ausdehnung der „Ewigkeitsklauseln“ aber muss massiv widersprochen werden.
Und dieser Widerspruch liegt bereits auf dem Tisch, formuliert von einem professoralen Gremium, dem die Spaltung der Gesellschaft und die benachteiligten Kinder bisher kein Gutachten wert war. Kurz vor der Wahl, am 18. September, legte der Wissenschaftliche Beirat beim Bundeswirtschaftsministerium, in dem sich überwiegend Ökonomen und Wirtschaftswissenschaftler der herrschenden Lehre versammeln, eine Stellungnahme zur „Akzeptanz der Marktwirtschaft: Einkommensverteilung, Chancengleichheit und die Rolle des Staates“ vor, die verblüffend klar eine Revision der deutschen Bildungspolitik einfordert: „Zum einen geht es (…) darum, die Durchlässigkeit des Bildungssystems zu erhöhen und begabten Kindern aus bildungsfernen Schichten einen Zugang zum Abitur und Hochschulstudium zu ermöglichen. Dabei ist besonderes Augenmerk auf Kinder zu legen, die vom Elternhaus zu wenig gefördert werden können. Zum anderen ist es erforderlich, auch den weniger begabten Kindern durch intensive Betreuung eine Qualifikation zu ermöglichen, die sie von den Leistungen des Sozialstaats unabhängig macht“. Die Politik solle dafür sorgen, „dass möglichst alle jungen Menschen Qualifikationen erwerben, mit denen sie auf freien Märkten auskömmliche Löhne verdienen können. Denn die Chancen einer Person am Arbeitsmarkt hängen in erheblichem Maße von ihrem Bildungsstand und damit von den Bildungsinvestitionen ab, die dieser Person zugutegekommen sind.“ Konsequent fordern sie, die benachteiligten Kinder am stärksten zu fördern, die Bildungsgelder von oben nach unten umzuverteilen, längeres gemeinsames Lernen zu ermöglichen, mehr und besser ausgebildete wie bezahlte Lehrer in die Haupt- und Berufsschulen zu schicken. Bildung, so formuliert es die illustre Schar der Professoren, eröffnet „im Idealfall die Freiheit, dass alle Individuen beim Eintritt in den Arbeitsmarkt unabhängig von ihrer Herkunft mit gleichen Bedingungen und Startchancen in einen ergebnisoffenen Marktwettbewerb eintreten können“. Im Koalitionsvertrag von CDU, CSU und FDP findet sich kein Gedanke aus dieser Stellungnahme wieder. Was tun gegen diese Mischung aus Beratungsresistenz und Ignoranz? Sich massiver einmischen.