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Gustav Heinemann — Logik eines Lebens

aus: Vorgänge Nr. 169 (Heft 1/2005), S. 108-125

Rechtsanwalt wolle er werden. Das erklärte der Gymnasiast Gustav Heinemann seinen Lehrern sehr entschieden, wie es damals schon seine Art war. Sein Vater sei kein Anwalt, und er kenne auch keinen Anwalt. „Ich stelle mir aber vor, dass ich dann selbstständig sein werde, und dass ich dann auch etwas ausfechten kann.” Doch die Selbstständigkeit und den Kampf, den er suchte, fand er schließlich auf zwei anderen Gebieten, für die er sich als junger Mann nur peripher interessiert hatte: Kirche und Politik.

In seinem Elternhaus in Schwelm, wo er am 23. Juli 1899 geboren wurde, und später in Essen, wo sein Vater, Otto Heinemann, bei Krupp Karriere machte, pflegte man keine Beziehungen zur Kirche. Die Eltern legten auf den Besuch von Gottesdiensten und den Kontakt zu Gemeindepfarrern keinen Wert. Der Vater hielt es nicht einmal für nötig, bei der Konfirmation seines Erstgeborenen anwesend zu sein.

Diesem Geist entsprach es, dass Gustav Heinemann in seinen Studienjahren sogar dem Monistenbund beitrat, einer Vereinigung, die Ende des 19. Jahrhunderts Bedeutung gewann und der auch sein Vater angehört hatte. Grün-der war der Naturwissenschaftler Ernst Haekkel. Er setzte wissenschaftliche Prinzipien an die Stelle der Heilslehre. Die Mitglieder des Monistenbundes waren hauptsächlich Republikaner und Freidenker. Tatsächlich stand Gustav Heinemann in jenen Jahren dem Christentum uninteressiert gegenüber. Es bedeutete ihm einfach nichts. Dennoch versicherte er ohne Zögern seinem Schwiegervater, den diese Einstellung besorgt machte, dass er seine zukünftige Frau nicht am Kirchgang hindern werde.

Frühe politische Gesinnung

Ähnlich hielt es die Familie Heinemann mit der Politik, obwohl man bei diesem Thema doch wohl so eine Art Verpflichtung empfand. Nicht zufällig hatte man dem Sohn die Vornamen Gustav Walter gegeben. Es war gewiss Ausdruck der Verehrung für den Schwiegervater von Otto Heinemann. Gustav Walter war Dachdeckermeister in Barmen und Mitglied der Freisinnigen Demokraten gewesen, einer Partei mit liberalen und sozialreformerischen Ideen, die gegen den Einfluss der Kirche und für die Abschaffung der Monarchie kämpfte. Jener Großvater von Gustav Heinemann setzte damit eine Tradition fort. Sein Vater, Jakob Walter, war zusammen mit seinen Brüdern Carl und Friedrich für die Ideen der Revolution von 1848 auf die Barrikaden gestiegen. Carl erhielt im Gefecht einen Beinschuss und starb bald darauf. Friedrich konnte dem Erschießungskommando entkommen und floh als Schiffsjunge nach Amerika.

Otto Heinemann mag sich bei so viel Engagement der Vorfahren der Familie bemüßigt gefühlt haben, sich wenigstens in der praktischen Politik zu engagieren. Als Stadtverordneter von Essen-Rüttenscheid trat er für die Gleichberechtigung aller Menschen ein und forderte die Abschaffung der Monarchie. Doch er war lange nicht so fortschrittlich in seinen Forderungen wie sein Schwiegervater Gustav Walter. Dessen Enkel, Gustav Heinemann, sprach fast ein Jahrhundert später im Gedenken an seine revolutionären Vorfahren von „meiner 48er Gesinnung”. In seinem Tagebuch notierte er 1919: „Besonders gern beschäftige ich mich mit der 48er Revolution”. An seine Vorfahren gerichtet, schrieb er: „Für Frieden und Freiheit, für Republik und Demokratie – ich werde an Euch denken!”

Diese dem Studenten Gustav Heinemann sozusagen vererbte Gesinnung mag ihn der Deutschen Demokratischen Partei, die in den Tagen der Revolution von 1918 entstanden war, zugeführt haben, einer Partei, die in allen ihren Forderungen als linksliberal einzustufen war. Zu dieser Zeit hatte Heinemann seine politische Sturm- und Drangperiode längst hinter sich. Als Fünfzehnjähriger verherrlichte er den Ersten Weltkrieg und hätte nichts lieber getan, als dem Kaiser als Soldat zu dienen. Er drückte seine Gefühle in einem Gedicht aus: „Lasst auch mich zum Manne geraten. Vater! Warum darf ich nicht? Während meine Brüder streiten, tapfer Schmerz und Tod erleiden. Kaum lass‘ ich mich hier noch halten, möcht‘ auch ich den Feind zerspalten!” Dies war wohl die Folge der damaligen schulischen Erziehung, die Kinder zu gehorsamen Untertanen machen wollte und eigenes Denken nicht förderte. Mit 17 Jahren machte Heinemann sein Not-Abitur. Doch aus gesundheitlichen Grün-den taugte er nicht zum Richtkanonier, zu dem ihn das Heer hatte ausbilden lassen. Laz und Langeweile machten aus ihm eher ein passionierten Skatspieler fürs Leben.

In den Kämpfen der Weimarer Reput

Die politischen Ereignisse der unruhigen Nachkriegszeit verfolgte Heinemann doch er konzentrierte sich zu jener Zeit nehmlich auf seine Studien. Wie geplant,legte er Staats- und Rechtswissenschaften der Universität Münster und aus nicht kannten Gründen ein Kolleg über den Ko Da er in diesem Fach der einzige Stück  blieb, kam das Kolleg nicht über ein Seme hinaus. Schließlich fügte er seinen Stück noch Volkswirtschaft hinzu, die ihm ein schnelleren Zugang zu einem Beruf verspr, als Jura es konnte. Tatsächlich promoviert schon 1921 an der Universität Marburg Dr. rer. pol.

Trotz der Intensität seiner Studien entging ihm nicht, dass der jungen Demokratie Deutschland Gefahr von rechts drohte. Zeit des Putsches des Reaktionärs Wolfg Kapp im März 1920 bezog er Stellung, schloss sich der Deutschen Demokratische Studentengruppe an. In einer von ihnen gegründeten sogenannten Volkskompanie diente 1 nemann als Kurier. Bei einer Nachtfahrt Marburg nach Kassel fiel er Offizieren Putschisten Kapp in die Hände, die ihn einen Tag lang gefangen hielten. Den ihm gegebenen Geheimauftrag soll er trotzdem ausgeführt haben. Heinemann wechselte ab und zu Universitäten. So kam er wenige Monate nach dem gescheiterten Kapp-Putsch nach München. Am 19. Mai 1920 besuchte er eine \ Sammlung der NSDAP, in der Adolf Hitler Diskussionsredner auftrat. Voller Empörung notierte der junge Heinemann danach in seinem Tagebuch: „Ein nahezu uferloser Antisemitismus. An allem und jedem sind nur Juden schuld: Rathenaus Wirtschaftsplan, Friedensresolution des Reichstages stamme von einer jüdischen Großloge in Paris hat die Arbeiterbewegung nur deshalb entfesselt, um die jüdische Weltherrschaft des Börsenkapitals zu bringen. Die Arbeiterbewegung ist nur ein Vortrupp der Juden. Solche Dinge nimmt eine Versammlung gläubig und beifallsfreudig hin!! Ein trauriges Bild der Geistesverfassung und der politischen Unbildung unseres Volkes,“ kommentierte Heinemann. Als er versuchte, seinem Zorn durch einen Zwischenruf Luft zu machen, ergriffen ihn zwei Ordner und warfen ihn aus dem Saal. Das Erlebnis eines 21jährigen, das sicherlich seine spätere Einstellung zum Nationalsozialismus begründete. Er erklärte später, dass er bei den letzten Reichstagswahlen im März 1933 der Sozialdemokratischen Partei seine Stimme gegeben habe, „die allein als Gegenwehr gegen die braune Flut noch möglich erschien.” Die bürgerlichen Parteien seien schon ohne Widerstandskraft oder gar Komplizen der NSDAP gewesen. „Mir genügte schon, was ich 1920 in München mit Adolf Hitler erlebt hatte.” Im gleichen Jahr kommentierte er Arbeiterunruhen in Thüringen und lässt sozialistisches Gedankengut erkennen, das ihm erst dreißig Jahre später zur Selbstverständlichkeit wird. Er schrieb: „Die in der Tiefe der Arbeitermassen lebenden Forderungen und Ideale müssen noch ganz anders als bisher beachtet und soweit wie möglich erfüllt werden.” Und er nannte: „Demokratisierung der Verwaltungen und Sozialismus! Mit den Gedanken der Revolution muss jetzt Ernst gemacht werden.”

Von großer Bedeutung wurde das Jahr 1926 für Heinemanns berufliche Laufbahn wie auch für seine persönliche Zukunft. Er hatte gerade die große juristische Staatsprüfung bestanden, als er bereits zwei Angebote für seine berufliche Karriere in der Tasche hatte. Der damals in Essen bekannte Strafverteidiger Dr. Victor Niemeyer, der Heinemann während seiner Referendarzeit kennen gelernt hatte, bot ihm an, als Sozius in seine Kanzlei einzutreten. Die staatlichen Justizbehörden wollten ihn, der seine Prüfung mit Gut bestanden hatte, zum Richter oder zum Staatsanwalt ausbilden lassen. Doch Heinemann blieb seinem Entschluss, Anwalt zu werden, treu. 1929 promovierte er zum Dr, jur., sein zweiter Doktortitel. Den Rheinischen Stahlwerken war der begabte junge Mann nicht entgangen. Sie boten ihm den Posten eines Prokuristen und Justiziars ihrer Werke an. Heinemann nahm auch diese Aufgabe an, zusätzlich zu seiner Tätigkeit im Anwaltsbüro Niemeyer. Seine Karriere schien nunmehr nicht nur vorgezeichnet, sondern auch gesichert.

Die Hinwendung zum Christentum

Im gleichen Jahr 1926 heiratete er. Er hatte Hilda Ordamann während seiner Studienzeit in Marburg kennen gelernt. Sie studierte dort unter anderem evangelische Theologie und war eine gläubige Protestantin, im Gegensatz zu ihrem Ehemann. Mag sein, dass sie ihres Mannes Ablehnung des Christentums nicht so ohne weiteres hatte hinnehmen wollen. So mögen Gespräche zwischen den jungen Eheleuten zu diesem Thema dazu beigetragen haben, dass schließlich aus dem ungläubigen Monisten ein gläubiger Christ wurde. Dennoch soll es noch einige Jahre gedauert haben, bis Heinemann seine Frau zur Kirche begleitete. Ob die Frage seiner ältesten Tochter „Gehen eigentlich nur Mütter in die Kirche?” das bewirkte, bleibt unbekannt.

Doch den wohl größten Einfluss auf Heinemanns Hinwendung zum Christentum hatte Pfarrer Dr. Friedrich Graeber, Pastor der evangelisch reformierten Gemeinde in Essen-Altstadt, zu der die Familie Heinemann gehörte. Dieser Pfarrer war nicht der übliche Sonntagsprediger oder nur ein religiöser Seelsorger, sondern ein Mann, der mit seiner Gemeinde lebte, ihre Mitglieder stützte, ihre Sorgen kannte, ihnen half. Er tat dies sachlich und, wenn er es nötig fand, auch mit energischer Deutlichkeit. „Graeber interpretierte das Christentum so realistisch, dass es seinen Zuhörern nicht schwerfiel, ihre eigene Situation darin zu erkennen,” so Heinemann über Graeber.

Nichts war dem Pfarrer zu schwer oder zu schmutzig, wenn es nötig war, die Ernte ein-zubringen oder beim Schweineschlachten zu helfen. Er kümmerte sich auch um Obdachlose, fand für sie eine Bleibe und Arbeit in einer Art Landkommune. Diese Art des Christentums, wie der Pfarrer es vorlebte, beeindruckte Heinemann. Er suchte die Freundschaft dieses Mannes, die bald sehr eng wurde. Durch ihn lernte Heinemann das Gemeindeleben kennen, des Pfarrers Arbeit zu verstehen und sah seine Möglichkeiten, in dieser Gemeinschaft mitzuwirken. Er beschloss, es dem Vorbild gleich-zutun, und ein solcher Christ in der weltlichen Bedeutung dieses Wortes zu werden. Das Christentum sollte fortan die Basis seines Denkens und Handelns sein. „Ich war damals allmählich dahintergekommen, dass das Evangelium Wahrheit und Realität ist”, so beschreibt Heinemann seine Wandlung.

Wendepunkt 1933

Was er damals noch nicht ahnte, war, dass sich ihm nun die Möglichkeit bieten würde, die er als Jugendlicher für sein Berufsleben ersehnt hatte – etwas auszufechten. Allerdings musste er in seinen ersten Berufsjahren nach der Regierungsübernahme durch die Nazis feststellen, dass die Interpretation des Rechts nicht mehr dem glich, was er gelernt hatte. Das Naziregime regierte mit diktatorischen Mitteln, bediente sich des Unrechts und der Gewalt, wenn es seinen Zwecken diente. Die Menschenrechte hatten keine Basis mehr in Deutschland.

So glitt er hinein in den Kampf, für den seine wissenschaftlichen Studien nur noch diesem Zweck dienten. Die Orientierung seines Lebens änderte sich mit dem Jahr 1933 drastisch und schlagartig. Kirche und Politik gewannen die Oberhand.

Wie das Vorspiel zu einer Tragödie, die die Menschen in Deutschland ihrer Rechte beraubte, empfand es Heinemann, mit welcher Schnelligkeit, ja Dringlichkeit sich Institutionen, Vereine, Menschen in verantwortungsvollen Positionen dem neuen Kurs anpasste Am 3. Mai 1933, also knapp drei Monate nach der Ernennung Adolf Hitlers zum Reich Kanzler, lud der Essener Anwaltsverein sein Mitglieder zu einer Versammlung ein mit de einzigen Tagesordnungspunkt: „Ausschluss; der Anwälte jüdischen Glaubens aus der Vereinigung.” 43 Anwälte stimmten für den Ausschluss, nur fünf dagegen, sieben enthielte sich der Stimme. Unter den fünf Neinsager war Gustav Heinemann. Obwohl es Heinemann nicht entgangen war, wie rigoros die Nazis in der Durchsetzung ihrer Politik vorgingen, mit welcher Grausamkeit und Härte sie ihre Gegner aus Politik und Kirche verfolgtet glaubte er offenbar Ende des Jahres 1933 noch an die Wirksamkeit geltenden Rechts. S schrieb er einen Brief an den „Sehr verehrte Herrn Reichskanzler”, um ihn auf Repressalie: gegen Geistliche der Bekennenden Kirche aufmerksam zu machen, und er drückte die Hoffnung aus, dass sie abgestellt würden.

Im Einsatz für die Bekennende Kirche

Die Nazis hatten erkannt, dass sie zur Festigung ihrer Macht die Kirche für sich gewinnen müssten. Mit den Katholiken hatten sie leichtes Spiel. Ein „Konkordat” regelte sehr bald die Beziehungen zwischen den deutschen Katholiken und dem Vatikan.

Eine vergleichbare Regelung mit den evangelischen Christen gestaltete sich schwieriger. Die Nazis hatten 1932 die Deutschen Christen gegründet, eine Vereinigung, deren Mitglieder das Hakenkreuz an ihrem Revers trugen. An ihrer Spitze stand der von den Nazis ernannte Reichsbischof Ludwig Müller. Seine Aufgabe war es, eine einheitliche Reichskirche evangelischer Christen zu schaffen. Als erstes wurde der 1922 gebildete evangelische Kirchenbund in eine zentral gelenkte evangelische Kirche, die „Deutsche Evangelische Kirche”, umgewandelt. Mit Hilfe der Deutschen Christen sollte die „Deutsche Evangelische Kirche” direkten Einfluss auf die einzelnen Kirchengemeinden nehmen. Die Bekennende Kirche widersetzte sich diesem Versuch, sie mundtot zu machen, und unter Berufung auf das Glaubensbekenntnis lehnte sie staatliche Eingriffe in das Gemeindeleben und damit eine Gleichschaltung mit dem Nationalsozialismus ab. Nun versuchten die Nazis den Widerstand der Mitglieder der Bekennenden Kirche zu brechen. Sie bedrängten einzelne Mitglieder, nahmen das bei ihnen übliche Spitzelsystem zu Hilfe, verfolgten aktive Mitglieder bis hin zur Verhaftung, hinderten protestantische Geistliche an der Ausübung ihres Amtes. „Diese ungeheuerlichen Übergriffe auf die Grundlagen des Christentums und der Evangelischen Kirche,” schrieb Heinemann an den Reichskanzler, „haben eine große Erregung in den hiesigen Kirchengemeinden hervorgerufen.” Diese Erregung steigere sich täglich. Er bezog sich außerdem auf eine Massenkundgebung der Deutschen Christen im Berliner Sportpalast am 13. November 1933. Dort war u.a. gefordert worden: „die Befreiung von allem Undeutschen im Gottesdienst und im Bekenntnis, besonders vom Alten Testament und seiner jüdischen Lohnmoral,” und es wurde „einer heldischen Jesusgestalt als Grundlage artmäßigen Christentums” das Wort geredet. Heinemann versuchte zu beweisen, dass nicht die Deutschen Christen, wie sie im Berliner Sportpalast aufgetreten waren, sondern die Gläubigen der Bekennenden Kirche Repräsentanten der evangelischen Kirche seien. Es wäre höchste Zeit, schreibt Heinemann, dass die eigentlichen Träger kirchlichen Lebens in unserer Gemeinde bei den amtlichen Stellen Gehör fänden, „wenn der neue Staat nach den erhebenden Wahlen nicht schwere Rückschläge auf die Herzen treuester Anhänger erleiden soll”. Die einzige Reaktion auf diesen Brief war die Bestätigung des Eingangs und der Hinweis dar-auf, dass er entsprechenden Stellen im Innenministerium zugeleitet worden sei.

Die erste Kraftprobe zwischen Deutschen Christen und Bekennender Kirche war schon

Mitte des Jahres 1933 ausgetragen worden. Wahlen hatten beweisen sollen, dass die Deutschen Christen die Mehrheit der evangelischen Christen hinter sich hatten. Dabei hatten die Deutschen Christen die volle und wortreiche Unterstützung der staatlichen Propaganda. Pfarrer Graeber als Vertreter der Liste Evangelium und Kirche konnte lediglich eine Kampfschrift herausbringen. Darin prangerte er die regimetreuen Widersacher im kirchlichen Lager an: diejenigen, die das Hakenkreuz als Symbol von zwei Autoritäten – von Partei und Gottes Wort – an ihrem Revers trugen. „Ungeheuerlich” nannte er dieses „Nebeneinander” und bezeichnete es als „Schmach”, dass die Kirche sich dies bieten ließe.

Gustav Heinemann wurde bei diesen Wahlen zum Presbyter gewählt. Und das war nicht zu-fällig. Voller Bewunderung hatte er die Standhaftigkeit der Mitglieder in der Verteidigung ihrer Kirche und ihre Solidarität zueinander in diesem Kampf beobachtet. Für Heinemann war es eine Selbstverständlichkeit, diese Haltung zu unterstützen. Zur weiteren Durchführung von Aktivitäten der Bekennenden Kirche eröffnete er ein Spendenkonto. Daraus wurde ein Flugblatt finanziert, in dem Pfarrer Graeber forderte: „Hinweg mit dem Terror! Wir werden ein Versailles der Kirche niemals unterschreiben, unter keine Drohung, unter kein Versprechen!” Nach der dritten Auflage beschlagnahmte die Gestapo das Flugblatt. Pfarrer Graeber wurde zwei Tage in Haft genommen und durfte sein Amt mehrere Wochen lang nicht ausüben. Repressalien gegen als aktiv bekannte Mitglieder der Bekennenden Kirche folgten, waren schließlich an der Tagesordnung. Es wurde eine der wichtigsten Aufgaben Heinemanns, Geistliche, die am Sonntag von der Kanzel weg verhaftet worden waren, zu verteidigen. „Meist holte er sie am Montag morgen vom Polizeipräsidium wieder ab,” so der Bericht von Dr. Posser, einem Sozius der Kanzlei Heinemann. Die Folge: Die Richter erließen nie einen Haftbefehl.

Die Mitglieder der Bekennenden Kirche kannten keine Feigheit, so sah es Gustav Heinemann. Sie lehnten sich auch gegen die Funktionäre der Kirche auf, die sich der Kirchenleitung unter dem Reichsbischof Müller anzupassen suchten.

Heinemann gehörte einer Abordnung von fünf Kirchenmännern an, die dem zuständigen Generalsuperintendenten in Koblenz ihre Empörung über die Bereitschaft der Kirchenleitung aussprechen wollte, die von Müller geforderte Unterordnung der kirchlichen Jugend unter die Hitler-Jugend zuzulassen. Als der Generalsuperintendent seine Hilflosigkeit in dieser Angelegenheit zu verstehen gab, schlug Heinemann ihm vor: „Wenn Sie für jeden Pfarrer, jedes Gemeindemitglied, welches in Haft gesetzt wird, das Geläut der Kirchenglocken in der Rheinprovinz anordnen, ist uns schon geholfen.”

Gustav Heinemann war nun aus dem Kampf der Bekennenden Kirche nicht mehr wegzudenken. Als Reichsbischof Müller die Bekennende Kirche unter seine Aufsicht zu stellen beabsichtigte, begegnete ihm energischer Widerstand. „Gott ist mehr zu gehorchen als dem Reichsbischof”, hieß es in einer Erklärung. Graeber und Heinemann beschlossen daraufhin den Austritt ihrer Gemeinde aus dem Kirchenverbund, um auf diese Weise als selbstständige Organisation die ständigen Verbote für oppositionelle Pfarrer, ihre Kirche zu betreten und Gottesdienste abzuhalten, zu umgehen. Heinemann pachtete von der Stadtverwaltung im Haus der Technik den Börsensaal. Das Gehalt für Pfarrer Graeber und seine Mitarbeiter sollte aus Spenden finanziert werden. 800 Stühle, eine Kanzel und ein Harmonium wurden angeschafft, um dem Gottesdienst eine würdige Atmosphäre zu geben.

Konspirativ gegen das Regime

Das Haus der Heinemanns in Essen, Schinkelstrasse 34, stand Mitarbeitern der Bekennenden Kirche und ihren Aktivitäten, den geheimen und den offiziellen, stets offen. Helmut Gollwitzer, einer der führenden Männer der Bekennenden Kirche, verbrachte einige Tage unter falschem Namen bei den Heinemanns, weil es Gründe dafür gab, ihn dem Blickfeld der Gestapo in Berlin für eine Weile zu entziehen. Eine Zeitlang wurden im Keller des Hauses Heinemann illegale Schriften vervielfältigt und versandfertig gemacht. Die Herstellung von Informationsschriften der Bekennenden Kirche war verboten werden. Diese Verordnung betraf aber nicht Mitteilungen für eingeschriebene Mitglieder.

Diese Briefe zur Lage, oder auch Grüne Blätter genannt, der Farbe ihres Papiers wegen, waren der Gestapo ein Dorn im Auge. Haussuchungen und Vernehmungen der Redakteure führten dazu, dass die Arbeit an den Grünen Blättern zu einer Art konspirativer Aufgabe wurde. Man war darum gezwungen, den Herstellungsort des öfteren zu wechseln. So landeten sie eines Tages im Keller des Hauses Heinemann. Diese Räume dienten tagsüber den Kindern als Spielzimmer. Einmal die Woche traf sich dort zum Spielen und Singen eine BDM-Gruppe, der eine der Töchter Heinemanns angehörte. Der Vervielfältigungsapparat war in einem Schrank versteckt, zu dem nur der Hausherr den Schlüssel hatte. Wollten die Hersteller der Blätter den Apparat benutzen, stellten sie am Telefon eine unverfängliche Frage, etwa, ob sie vielleicht am Abend bei Heinemanns ein bisschen Klavier-spielen dürften. Eine Zeit lang funktionierte dies reibungslos. Doch eines Tages fragte eines der Kinder, was sich eigentlich am Abend im Keller zutrüge. Eine Schulfreundin habe ihr erzählt, dass ihr Vater, ein Funktionär der NSDAP, im Begriff sei, herauszufinden, was im Hause Heinemann vor sich ginge. Der Vervielfältigungsapparat wurde schnellstens an einen anderen Ort gebracht.

Resignation 1938

Dann geschah etwas gänzlich Unerwartetes. Gustav Heinemann legte im Jahr 1938 alle seine Ämter in der Bekennenden Kirche nieder. Er habe lange über die Frage nachgedacht, „ob wir die Verteidigung der evangelischen Kirche seit 1933 recht geführt haben oder nicht. Und ich bin zu dem Ergebnis gekommen, dass dies nicht der Fall ist.” Der kirchliche Widerstand habe eine ständige Herausforderung für jeden einzelnen bedeutet. Alle Aktionen hätten viel Kraft gekostet und oft zu Verfolgungen und Verhaftungen geführt.

Während die Deutschen Christen aufgrund der politischen Konstellation gestärkt aus dem Kampf hervorgegangen sind, musste die Kirche eine Niederlage nach der anderen hinnehmen. Doch die Deutschen Christen seien nur eine Attrappe des Regimes und darum die falsche Front, analysierte Heinemann. Der Einsatz hätte nicht kirchlichem Dogma entsprechen, sondern politischer Natur sein müssen. „Solange der einzelne Pfarrer seinen Kampf nach dem bisherigen Schema führe, ohne eine unabhängige Gemeinde hinter sich zu haben, ist er für den Gegner wahrhaftig harmlos,” so Heinemann. Doch den Kurs der Widerstandsarbeit zu ändern, hätte nur dann einen Sinn, wenn die politische Lage Anzeichen für eine Veränderung erkennen ließe.

Dies sei im Deutschland des Jahres 1938, da die Nazis noch fest im Sattel sitzen und die westlichen Demokratien ihnen ihre Unterstützung nicht versagen, nicht anzunehmen. Er glaube jedoch an die Vorsehung Gottes, die Menschheit letztendlich zu einem rechten Ende zu führen. Doch zunächst, so sagte er voraus, würden die Verwirrungen der Menschheit noch verhängnisvollere Züge annehmen. Ein Kurswechsel sei seiner Meinung nach zur Zeit nicht zu bewirken. Darum würde er den weiteren Ablauf der Entwicklung nunmehr von außen beobachten. Er werde weiterhin für die Bekennende Kirche tätig sein , doch nicht in vorderster Front.

Derartige Überlegungen über den Sinn von Widerstandsarbeit sind oft Ursache von Gewissenskonflikten eines Widerstandskämpfers. Menschen wie Heinemann ohne frühere feste politische Bindung resignieren häufig, wenn ihnen der Preis für den Kampf zu hoch und der Erfolg zu unbedeutend erscheint. Auch die anderen, die sich aus langjähriger politischer Überzeugung dem Widerstand anschlossen, sind nicht frei von Zweifeln und Verzweiflungen über die Wirkungslosigkeit ihrer gefahrvollen Tätigkeit. Dennoch führen sie in der Regel den Kampf fort. Sie geben selten die Hoffnung auf, dass sie innerhalb der Organisation auf den Kurs der Widerstandsarbeit Einfluss nehmen könnten, dass es irgendwann Anzeichen für eine politische Änderung geben würde, die neue Möglichkeiten für ihre Arbeit zuließe. Dazu kam die Gemeinschaft, die dem einzelnen Widerstandskämpfer Halt gab. Ein Kämpfer, der aus einer solchen Gemeinschaft austrat, wurde nicht selten von dem Vorwurf des Verrats an den Kameraden geplagt und hatte Schwierigkeiten, vor sich selbst zu bestehen.

Heinemanns Entscheidung war klar und direkt und einzig und allein vom realistischen Denken diktiert. Es fehlte darin jeder Aus-druck von Hoffnung – außer dem Vertrauen auf Gott – und von Visionen, wie sie einem in der Politik geschulten Menschen eigen ist.

Hilfe für verfolgte Juden

Die Bekennende Kirche hat in den Jahren ihres Kampfes seit 1933 niemals eine Erklärung oder einen Protest herausgegeben, der sich gegen die Diskriminierung und Verfolgung von Juden wandte. Obgleich zwei führende Männer der Bekennenden Kirche als Antisemiten bekannt waren – Martin Niemöller und Otto Dibelius – hat es dem Vernehmen nach innerhalb der Organisation keine antisemitischen Strömungen oder Auslassungen gegeben.

Gustav Heinemann sah es als seine Pflicht an, sich um die in Essen verbliebenen Juden zu kümmern. Nach dem Pogrom vom 9. November 1938, so erzählt seine älteste Tochter, sei er mit ihr, der Zehnjährigen, zu zwei Lehrerinnen gegangen. Sie waren als getaufte Juden Mitglieder der Evangelischen Kirche, doch für die Nazis weiterhin Juden. Heinemann sorgte sich um ihre Sicherheit. Er gehörte auch zu den wenigen nichtjüdischen Freunden von Landgerichtsdirektor Dr. Hermann Ferse, der den Kontakt zu ihm aufrechterhielt. Als ehemaliger Frontsoldat durfte Ferse nach 1933 noch zwei Jahre seine richterliche Tätigkeit fortsetzen, wurde allerdings ans Amtsgericht Essen versetzt. Das Ehepaar Ferse konnte sich nicht dazu entschließen, Deutschland zu verlassen. Von einem Besuch in Israel im Jahr 1938 kehrten sie nach Essen zurück.

Anfang November 1941 erhielten sie den Bescheid über ihre bevorstehende Deportation. Ferse war Mitglied des Vorstands der Jüdischen Gemeinde Essen. Er hatte sich freiwillig zu diesem Transport gemeldet, da befohlen war, dass ein jeder Transport von einem Vorstandsmitglied begleitet werden musste. Ungeachtet der Gefahr suchte Heinemann das Ehepaar Ferse am Vorabend ihres Transportes im Judenhaus Pettenkoferstr. 38 auf. In einem Interview, das mir der Justizminister Heinemann im Jahr 1968 gab, sprach er das erste Mal über diese letzten Stunden bei seinem Freund Ferse. Dieser bat ihn, sich um seine ihm zustehenden Pensionszahlungen bis zu seiner Rückkehr, von der er fest überzeugt war, zu kümmern. Außerdem bat er Heinemann um eine Dynamo-Taschenlampe. Der Transport, in dem sich Herr und Frau Ferse befanden, ging in die weißrussische Hauptstadt Minsk. Es ist zu vermuten, dass das Ehepaar Ferse zu den Opfern einer der Massenerschießungen gehörte, wie sie deutsche und lettische SS-Männer dort mit größter Brutalität durchzuführen pflegten.

In dem gleichen Interview berichtete mir Gustav Heinemann von seiner Mithilfe bei der Rettung von 50 bis 60 Menschen jüdischer Abstammung. Auf die Bitte um nähere Einzelheiten sagte er nur, er habe sich hauptsächlich an der Beschaffung von Lebensmitteln für versteckte Juden beteiligt. Im April 1949 schrieb er an den Vorsitzenden der Jüdischen Gemein-de Essen, Siegfried Levy, er habe „in jenen bösen Jahren manchem Ihrer Gemeindemitglieder, insbesondere auch solchen, die an Schluss der Nazizeit unterirdisch und illegal hier in Essen gelebt haben, mannigfach geholfen.” Am 17. September 1944 sollte der letzte Transport von Menschen jüdischer Abstammung aus Essen abgehen. Es handelte sich irr wesentlichen um Juden, die mit Nichtjuden verheiratet waren und vielfach der christlicher. Kirche angehörten, Halbjuden und Juden, die zum Christentum übergetreten waren. An Sonntagmittag wurde ihnen mitgeteilt, dass sie sich am Abend zum Abtransport einzufinden hätten. Angeblich waren sie zu einem Kriegseinsatz in einem Lager im Weserbergland vorgesehen, zum Errichten von Abwehrstellungen und zur Waffenproduktion. Mitglieder der Bekennenden Kirche boten ihnen Zuflucht an, Heinemann schilderte das so: „Im September 1944 kam die Zeit, da man die letzten Mitbürger jüdischer Abstammung hier wegholte. Auch die Allerletzten. Damals sind etwa fünfzig bis sechzig von ihnen hier geblieben, und, wie es damals hieß, untergetaucht in Kellern ausgebombter Häuser.” Unter den Trümmern der Rüttenscheider Kirche und, als diese zerstört war, im Heizungskeller des Pfarrhauses ohne Licht und Wasser. Kurzum, „sie haben sich einfach dem Zugriff entzogen. Aber nun entstand die Frage: wer ernährt sie? Das war ja nicht eine Frage des Geldes, sondern der Lebensmittelkarten. Die Rationen waren ohnehin äußerst knapp am Ende des Krieges. Wie konnten nun fünfzig oder sechzig Menschen ernährt werden ohne jede Lebensmittelkarte?”

Berichten zufolge haben Pfarrer in der Kirche um Lebensmittelspenden gebeten „für bedürftige Gemeindemitglieder”. Mitglieder der
Bekennenden Kirche wurden aufgefordert, etwas von ihren Karten abzuzweigen. Sonderrationen, die nach schweren Luftangriffen aus-gegeben wurden, wurden wie selbstverständlich den versteckten Juden gespendet.

Im Dunkel der Nacht verteilten Pfarrer die gesammelten Lebensmittel. Keiner, weder die Helfer noch die Versteckten, hatte angenommen, dass sie sieben Monate auf die Befreiung würden warten müssen. Und dennoch gab es zu keiner Zeit, trotz der Parolen der Nazis über ihren Endsieg, bei keinem der Beteiligten Zweifel am Ausgang des Krieges und dem Ende ihrer Not. Von Gustav Heinemann ist bekannt, dass er einen Orden ablehnte, mit dem die Nazi-Dienststellen führende Mitarbeiter der Rheinischen Stahlwerke ehren wollten. Er tat dies mit den Worten „Den nehme ich erst nach dem Endsieg.” Aufgrund seiner Tätigkeit in den Rheinischen Stahlwerken wurde Heinemann nicht zum Dienst an der Front eingezogen. Seine Familie zog für die Zeit der Bombardierungen und der letzten Kriegswirren nach Winterberg im Sauerland. Er blieb allein in Essen zurück.

Neuanfang 1945

In einem Kriegstagebuch, in dem er das Ende der Kämpfe und den Einzug der Amerikaner in Essen beschrieb, notierte er am 18. April 1945: „Überall werden Persönlichkeiten gesucht, die ohne nationalsozialistische Vorbelastungen sind. Da ich in dieser Hinsicht ,sehr groß‘ dastehe, will man mich von vielen Seiten einspannen. Aber ich denke nicht daran, etwas anderes anzufassen, als was mit Gemeinde und Kirche zusammenhängt.”

Doch an diesem Grundsatz hielt Heinemann nicht lange fest. Sein Gefühl für Verpflichtung und Verantwortung, das seine Persönlichkeit geprägt hat, führte diese und ähnliche Entscheidungen herbei. Er konnte der Politik nicht mehr ausweichen. Die Britische Besatzungsmacht berief ihn u.a. in einen „beratenden Stadtrat”, der die Vorstufe war für die kommunale Selbstverwaltung, wie die Briten sie verstanden. An der Spitze sollte ein vom Parlament der Stadt gewählter Bürgermeister stehen. Schon im Oktober 1945 ernannten sie den Kommunisten Heinz Renner zum Oberbürgermeister von Essen und Gustav Heinemann zu seinem Stellvertreter. Ein Jahr später, im Oktober 1946, ging Gustav Heinemann als Sieger aus den Kommunalwahlen hervor und war bis Herbst 1949 Oberbürgermeister der Stadt.

In seinen Ansprachen und Reden hob er immer wieder die Notwendigkeit der Schaffung einer demokratischen Ordnung hervor. „Für die kommunale Arbeit […] sehe ich, dass wir eine demokratische Ordnung der Stadt und eine Heilung ihrer tausendfachen Wunden an-streben. Wir wollen eine vom Volk bestimmte und eine dem Volk dienende Stadtverwaltung sein.” Heinemann wusste aus der Geschichte der Weimarer Republik, dass die Basis einer Republik eine festgefügte Demokratie sein muss mit gleichen Rechten und Pflichten für alle Bürger. Die Erfahrung mit dem Nationalsozialismus, dem es gelungen war, die Demokratie zu demontieren und eine verbrecherische Diktatur an seine Stelle zu setzen, hatte dieses Denken in ihm noch gefestigt. Darum, so meinte er, müssten die demokratischen Kräfte zur Abwehr ähnlicher Entwicklungen zusammenstehen. Die Logik dieses Denkens war die Gründung politischer Parteien als Eckpfeiler dieser von ihm geforderten demokratischen Ordnung. Dieses Denken führte ihn unweigerlich in die Parteipolitik. Es fiel ihm nicht schwer, sich für eine der zwei großen Parteien zu entscheiden. Für ihn, den gläubigen Christen, kam nur die Christlich-Demokratische Union in Frage, an deren Gründung er sich in Essen beteiligte.

Engagement für die CDU und die evange­li­sche Kirche

Von dieser Partei erwartete er, dass sie in ihrer politischen Arbeit die kirchlichen Interessen nicht außer acht lassen würde. Das ,C` in ihrem Namen schien ihm dafür zu bürgen. Überdies war diese Union aus den Erkenntnissen des Dritten Reichs geboren worden. Sie wollte in ihrer politischen Arbeit die Trennung der christlichen Konfessionen beenden, wie sie in der Weimarer Zeit üblich und im politischen Sinne schädlich gewesen war. Er warnte aber auch: Die Bibel sei kein „politisches Rezeptbuch, keine Dienstanweisung für Politiker, und die Bergpredigt kann nicht einfach in die praktische Politik übersetzt werden.”

Für die Sozialdemokratische Partei hatte er zu der Zeit nicht viel übrig. Sie hatte ihr klassenkämpferisches Profil noch nicht abgelegt, meinte er, und verneine noch immer die Kirche und das Christentum. Im übrigen sei er für eine marktwirtschaftliche Ordnung, lehnte Planwirtschaft und Verstaatlichung von Grundstoffindustrien ab.

Heinemanns Wunsch, sich auf ein politisches Amt konzentrieren zu können, ging nicht auf. Die CDU stellte ihn als Kandidaten für den Landtag von Nordrhein-Westfalen in einem Essener Bezirk für die Wahlen von 1947 auf. Das Resultat: er zog nun auch in den Landtag ein. Da der Posten des Justizministers aus formellen Gründen nicht mit dem dafür vorgesehenen Kandidaten besetzt werden konnte, musste Heinemann in die Bresche springen. Nach einem Jahr wurde er erlöst und erklärte, er werde kein anderes Ressort mehr übernehmen. In einem Brief an seine Mutter schrieb er: „Sicherlich ist die Arbeit sehr interessant. Aber ich möchte doch lieber in den Essener Bereich zurückkehren und nicht in der Politik untergehen.” Dann erteilte er auch Kanzler Adenauer eine Absage. Dieser hatte ihn dringend gebeten, bei den Wahlen von 1949 für den Bundestag zu kandidieren. Der Arbeit im Essener Rathaus hätte sein Aus-scheiden aus der Regierung von Nordrhein-Westfalen gegolten, erklärte Heinemann dem Kanzler. „Unsere hiesigen Freunde sind mit mir darin einig, dass ich es im Vergleich zu einem Bundestagsmandat als vordringliche Aufgabe anzusehen habe.”

Im Oktober 1945, knapp fünf Monate nach Kriegsende, gab die Evangelische Kirche, unter der aktiven Mitwirkung von Gustav Heinemann, die Stuttgarter Schulderklärung heraus. Darin hieß es u.a. „Mit großem Schmerz sagen wir, durch uns ist unendlich viel Leid über viele Länder und Völker gebracht worden […]. Wir klagen uns an, dass wir nicht mutiger bekannt, nicht treuer gebetet, nicht fröhlich geglaubt und nicht brennender geliebt hab [..,].” Es war dies die erste Selbstanklage, der eine große deutsche Institution sich  kannte. In einem Vortrag in der Johanneskirche in Bern im Jahr 1950 begründete dies Heinemann: „Diese Erklärung sollte die Grundlage für die Neuordnung unserer Kirche nach der nationalsozialistischen Zerstörung sein. S sollte der Schaffung einer neuen ökonomischen Gemeinschaft dienen und zugleich eine Stütze sein für die Besinnung des deutsch Volkes über seinen Weg in den vergangen zwölf Jahren.” Und dann gestand Heinemann mit der ihm eigenen Offenheit: „Unser Volk hat uns diese Erklärung nicht abgenommen Es war noch nicht bereit, sich mit seiner Vergangenheit auseinanderzusetzen. „Deshalb stehen wir im Grunde genommen heute noch vor der Aufgabe, unsern Weg durch die vergangenen Jahre und unsere Lage heute‘ er einmal im Lichte des Wortes Gottes zu sehe und zu begreifen, ehe wir weitergehen können.”

Innen­mi­nister im ersten Kabinett Adenauer 1949/50

Und dann verstieß er wieder gegen seine eigenen Prinzipien. 1949 gab er seinen Posten al Oberbürgermeister von Essen auf. Die erst Bundestagswahl von 1949 führte in Bonn z einer Koalitionsregierung von Christliche Demokraten, Freien Demokraten, und Deut scher Partei. In dieser Koalition saß nur : Protestant, Wirtschaftsminister Professor Ludwig Erhard. Dies entsprach nicht den Vorsatz der neu geschaffenen CDU, die Trennung der Konfessionen zu überwinden. Darum suchte und fand man den Oberbürgermeister von Essen, Gustav Heinemann, der als zweite Protestant und als Innenminister eingesetzt werden konnte. In seinen Aufzeichnungen schrieb Heinemann dazu: „Damit geriet ich  unter ungewöhnlichen Druck, mich aus Esser zu lösen” Sein Verantwortungsgefühl, den wir immer wieder begegnen, sagte ihm, dass er nicht ablehnen könne. Als „Innenminister wider Willen” bezeichnete ein Biograph den Innenminister dieser ersten Koalition. Wie Heinemann selbst später feststellte, begann mit seinem Eintritt in die Regierung Adenauer die wichtigste Phase seines Lebens. Sie legte die Grundlage für sein politisches Credo, dem er bis zu seinem Lebensende treu blieb.

Am 20. September 1949 wurde Heinemann als Innenminister vereidigt. Genau ein Jahr später, im Oktober 1950, trat er von diesem Posten zurück. „Das mache ich nicht mit!”: Mit diesen Worten protestierte Heinemann gegen die eilfertige Bereitschaft Adenauers, zur Zeit des Korea-Krieges Kontingente deutscher Soldaten für eine zu bildende westeuropäische Verteidigungsstreitmacht zur Verfügung zu stellen. Adenauer legte dies in einem Memorandum nieder, das er dem amerikanischen Hochkommissar McCloy zukommen ließ, ohne sein Kabinett zuvor zu informieren und sein Einverständnis einzuholen. Für Heinemann war der Gedanke an eine deutsche Wiederbewaffnung unerträglich. Sie werde eine Wiedervereinigung Deutschlands in weite Ferne rücken, warnte er. Denn eine solche Wiederbewaffnung im Westen würde den Osten Deutschlands noch fester in den kommunistischen Block einbinden.

Für Heinemann war dies auch eine Gewissensfrage, „Wir stehen auf einem tiefen Untergrund von Schuld, den wir nicht damit aus-räumen, dass wir ihn vergessen”, mahnte er. „Von ihm aus haben wir uns zu fragen, ob wir unser Vertrauen schon wieder auf Waffen setzen dürfen, nachdem sie uns um dessentwillen, was wir mit den Waffen angerichtet haben, uns zum zweiten Mal aus der Hand geschlagen wurden.” Heinemanns Schritt und seine Argumente fanden wenig Beachtung. Die wenigen, die im Kabinett Sympathien für seine Argumente hatten, schwiegen.

Die Mehrheit der Westdeutschen glaubte damals an die Unfehlbarkeit der amerikanischen Politik und fühlte sich von ihr behütet.
Doch auch wenn sie Zweifel hatten, wagten sie nicht, sie zu äußern. Schließlich wussten sie um die Abhängigkeit der jungen westdeutschen Republik von den Vereinigten Staaten. Überdies hatte Adenauer – die Person und der Politiker – ein solch hohes Ansehen im Volk, dass eine abweichende Meinung dem Versuch eines Meuchelmordes gleichkam.

Heinemann handelte so, wie es sein Gewissen ihm eingab. Und er handelte ähnlich wie 1938, als er plötzlich und ohne den Versuch zu machen, Zustimmung zu finden, von den führenden Positionen der Bekennenden Kirche zurücktrat. Was die Mehrheit der Deutschen 1950 über ihn und seine Argumente dachte, nahm er nicht zur Kenntnis – eben anders als die meisten Politiker, die in ihren Taten und Worten stets ihre Karriere im Blick behalten. Es mag auch sein, dass ihm das Gespür für die Gefühle und Gedanken des Volkes fehlte. In den Wochen nach Heinemanns Rücktritt gab es noch einige erfolglose Vermittlungsversuche. Heinemann selbst erklärte sich bereit, mit dem Aufbau einer Bundespolizei als Gegengewicht zur kasernierten Volkspolizei der DDR einverstanden zu sein, ein Vorschlag, den Adenauer nicht annehmen konnte, ohne sein Gesicht zu verlieren. Seine politische Linie war festgelegt. Sie hieß Wiederbewaffnung und Integration in die westliche Gemeinschaft. Er ließ Heinemanns Vorschlag, der an ihn adressiert war, unbeantwortet. Die Frage muss offen bleiben, ob Heinemann glaubte, Adenauer mit seinem Vorschlag irritieren und damit von seinen Plänen abbringen zu können, oder ob es der Heinemann war, der seine Gedanken und Meinungen stets ehrlich und offen aussprach, ohne über die Reaktion des anderen nachzudenken.

Nach dem Rücktritt der Weg in die Opposition

In seiner Partei, der CDU, war Heinemann nun gewissermaßen geächtet. Die Essener CDU bot ihm zwar noch ein Mandat für den Stadtrat an, allerdings mit der Auflage, sich jeder Kritik an Adenauer zu enthalten. Heinemann lehnte dankend ab. Den Kampf gegen die Wiederaufrüstung, der ihm Herzenssache war, gab er noch nicht auf. Er gründete mit einigen Gleichgesinnten im November 1951 die Notgemeinschaft für den Frieden Europas. Sie war überparteilich und zog Mitglieder aus allen Parteien an, unter ihnen auch viele ehemalige Mitglieder der Bekennenden Kirche. Auf der Gründungsversammlung wiederholte Heinemann, dass er die Außenpolitik der Regierung Adenauer für eine Gefährdung des Friedens halte und er darin keinen Weg zur Herstellung der deutschen Einheit sehen könne. Doch die Notgemeinschaft konnte den Kurs der Bundesregierung nicht ändern. Dennoch brachte es diese kleine außerparlamentarische Bewegung mit ihren Argumenten fertig, die Verfechter der Regierungspolitik zu deutlichen Aussagen zu zwingen. Jahre später nannte Heinemann diese Zeit seine „APO-Jahre”, in Anlehnung an die gleichnamige Studentenbewegung der 1960er und 1970er Jahre.

Im Anwaltsbüro in der Reichsbankstrasse 14, 3. Obergeschoss, das Heinemann 1951 mit seinem Sozius und Freund Diether Posser gegründet hatte, wurde mehr politisch gearbeitet, als Gerichtsverfahren eröffnet. Heinemann er-hielt viele Aufforderungen zu Vorträgen, auch ermutigende Briefe; größer aber war die Zahl der Beleidigungen, Verleumdungen und Diffamierungen. Heinemann sei ein verkappter Stalinist, er werde von Ost-Berlin finanziert oder er sei ein Spion von Moskaus Gnaden. Andere taten ihn als Spinner ab, Mahatma Gandhi vergleichbar. Dies alles bestärkte in ihm das Gefühl, dass er vielleicht mit einer eigenständigen Partei größeren Einfluss auf die Meinung der Menschen und die Politik im allgemeinen nehmen könnte.

Dabei spielte zweifellos die Note aus Moskau im März 1952 eine Rolle, in der der Kreml die Wiedervereinigung in Aussicht stellt unter der Bedingung, dass das künftige Deutschland neutral bliebe. Diese Note blieb in Bonn unbeachtet und unbeantwortet. Adenauer ließ nicht prüfen, ob dies ein ernsthaftes Angebot oder nur der Versuch war, die deutsche Beteiligung an der geplanten Europäischen Verteidigung[5] Gemeinschaft zu verhindern, für die der Vertrag bereits unterschriftsreif war. Heinemann und seine Freunde hingegen hielten jede Möglichkeit eines Gesprächs mit Moskau, zu der die Note hätte führen können, für wichtig.

Aktiv für die Gesamt­deut­sche Volkspartei

Heinemann, den nun nichts mehr mit seine Partei verband, trat im Oktober 1952 aus de CDU aus. Einen Monat später gründete er mit einigen Freunden die Gesamtdeutsche Volkspartei. Helene Wessel, Vorsitzende Zentrumspartei, stand ihm zur Seite. Andere Politiker, die sich in späteren Jahren in  der Bundesrepublik einen Namen machten unter ihnen Erhard Eppler, Johannes Rat Adolf Scheu, Diether Posser, gesellten sich zu ihnen.

Die neue Partei hatte knapp ein Jahr Zeit um sich auf die Bundestagswahlen von 1958 vorzubereiten, viel zu wenig, um eine neue Partei einzuführen und Wählerstimmen für sie zu gewinnen. Heinemann muss wohl geglaubt haben, dass nach der in Bonn nicht beachtete Note aus Moskau mit den überraschende Vorschlägen zur Wiedervereinigung die Wähler nun für seine Ideen reif seien. Er fuhr lange auf, landab, sprach, schrieb, diskutierte. Doch die Hoffnung auf eine Wiedervereinigung wie viel zu vage und die Gefahr schien zu groß, die eine Absage an die westliche Gemeinschaft für Wohlstand und Sicherheit bedeuten könnten um die deutschen Wähler zu einer Änderung ihrer politischen Entscheidung zu überreden Und so folgte die Mehrheit der Deutsche wiederum der CDU, die mit dem Slogan Keine Experimente angetreten war.

Ihr gaben 45,97 Prozent der Wähler ihre Stimmen. Die SPD erreichte 28,8 Prozent, und die GVP bekam magere 1,2 Prozent der abgegebenen Stimmen. Dieses Ergebnis war eine klare Absage an die Parteien, für die die Forderung nach der Wiedervereinigung Vorrang vor einseitigen Bündnissen der Bundesrepublik hatte. Für die GVP war es eine vernichtende Niederlage. Heinemann und seine Freunde mussten zugeben, dass 1,2 Prozent der Wählerstimmen nicht ausreichten, um auch nur den geringsten Einfluss auf die Politik des Landes nehmen zu können. Eine realistische Einschätzung vorab hätte ein solches Ergebnis erwarten lassen.

Pfarrer Helmut Gollwitzer schilderte Heinemanns Lage nach der Niederlage seiner Partei mit den Worten: „Es nahm niemand mehr ein Stück Brot von ihm.” Aus dem bekannten Minister, dem angesehenen Direktor eines Industrieunternehmens, dem führenden Kirchenmann, war für viele ein politischer Störenfried geworden. Selbst die Kirche, mit der ihn so viel in den Jahren der Nazi-Diktatur verbunden hatte, wandte sich von ihm ab. Heinemann schrieb an seinen Freund Gollwitzer: „Hier ist es das erste Mal ekelhaft geworden. Ekelhaft um des willen, weil dieses Erlebnis tief in den Kreis derer hineingreift, die die Bruderschaft in Christo proklamieren und Kirchentage machen. Das stecke ich nicht in die Tasche wie das Benehmen von Bergbau, Stadtverwaltung und Christliche Demokraten.” Im Frühjahr des Jahres 1955 lief seine Amtsperiode als Präses der Synode der evangelischen Kirche in Deutschland aus. Die stetig wachsende Zahl seiner Gegner wartete nur auf eine Gelegenheit, ihn aus seinen Ämtern zu Jagen. Die ergab sich im Januar 1955, als die überparteiliche Paulskirchenbewegung mit Persönlichkeiten aus Staat und Kirche das Beharren der Bundesregierung auf Wiederbewaffnung und Integration in die westliche Welt in ihrem Deutschen Manifest verurteilte und Vorrang für die Wiedervereinigung forderte. Gustav Heinemann fügte in der Zeremonie in der Frankfurter Paulskirche hinzu: „Sieht man wirklich nicht, dass die dominierende Weltanschauung unter uns aus drei Sätzen besteht: ,viel verdienen, Soldaten, die das verteidigen, und die Kirche, die beides segnet. “ Dieser Ausspruch führte zu Empörung nicht nur in der Kirche. Er belegt die Bitterkeit, die Heinemann nach den diversen Niederlagen erfüllte. Zugleich beweist es, dass er sich trotz aller Erfahrungen nicht zu einem Politiker gewandelt hatte, der ausschließlich von kühlen Überlegungen geleitet wird. In all seinen Handlungen und Erklärungen blieb er der aufrechte, ehrliche Mensch, der meinte, was er sagte.

Anwalt im Kalten Krieg

Im Anwaltsbüro in der Reichsbankstrasse waltete in der Zeit, in der Heinemann im politischen Kampf stand, Diether Posser. Er wehrte Verleumdungskampagnen gegen die GVP, und Heinemann im besonderen, vor Gericht ab. Es folgten Prozesse politischer Natur, die sich aus dem Kalten Krieg ergaben. Der Disput zwischen Ost und West führte zu absurden Situationen. In der Bundesrepublik stand schon das Lesen des Neuen Deutschlands und anderer Publikationen der DDR unter Strafe. Gewählte Mandatsträger der KPD, die in der Bundesrepublik seit August 1956 verboten war, mussten sich vor Gericht dafür verantworten, dass sie der Wahl entsprechend ihr Mandat weiter ausübten. Reisende in die DDR, die sich nicht allein auf den Besuch von Familienangehörigen beschränkt hatten, wurden beobachtet und waren ebenso verdächtig wie ehemalige KPD-Mitglieder, die in der Bundesrepublik wohnhaft waren. Heinemann stand einem Anwalt zur Seite, der wegen seiner Tätigkeit für die KPD vor dem Verbot, also rückwirkend, vor Gericht gestellt werden sollte. Nach langwierigen Verhandlungen erklärte das Bundesverfassungsgericht die entsprechende Strafvorschrift für verfassungswidrig – ein Erfolg für das Büro Heinemann/Posser. Kein Wunder, dass das Essener Anwaltsbüro offiziellen Dienststellen der DDR als vertrauenswürdig erschien. Dies nutzten Heinemann und Posser, um Hunderte von Bürgern aus Zuchthäusern der DDR zu befreien. Verhaftungen erfolgten dort damals häufig aus nichtigen Gründen. Mal handelte es sich um das Überbringen von Druckschriften aus dem Westen, die in der DDR verboten waren, mal um finanzielle Hilfeleistungen, meist für Familienangehörige in der DDR. Unter denen, die das Büro Heinemann aus langjähriger Haft befreite, war der aus West-Berlin verschleppte Redakteur der Gewerkschaftszeitung Metall, Heinz Brandt, ein Fall, der großes Aufsehen erregt hatte. Die Anwälte Heinemann und Posser nahmen sich auch Marokkanern und Algeriern an, die von der französischen Kolonialmacht aus politischen Gründen verfolgt worden waren.

Der Weg in die SPD

Der Kampf der GVP gegen Adenauers Politik war zu Ende. Adenauer hatte alles erreicht, wogegen die GVP jahrelang gekämpft hatte. Die Teilung Deutschlands schien zementiert. Die GVP hatte keine Existenzberechtigung mehr. So sahen es die meisten ihrer Mitglieder. Einige erklärten Heinemann, dass sie in die SPD überwechseln würden. Heinemann drückte in Publikationen seine Zufriedenheit darüber aus, dass sich die SPD in einem Prozess der Wandlung befand und dabei war, ihre Haltung zu Kirche und Wirtschaft entscheidend zu ändern – zwei Themen, die Heinemanns Entschluss 1945, der CDU beizutreten, herbeigeführt hatten.

Den Sozialdemokraten entging das nicht. „Wir sind interessiert, daran, dass Sie bei uns mitmachen,” hieß es in einem Brief des Vorsitzenden Erich 011enhauer und seines Stellvertreters Wilhelm Mellies. Sie boten Heinemann den dritten Platz auf der Landesliste von Niedersachsen für die Bundestagswahlen von 1957 an. Als Bedingung dafür forderten sie die Auflösung der GVP. Diese wurde am 19. Mai 1957 auf einem außerordentlichen Parteitag beschlossen, nur fünf Jahre nach ihrer Gründung. Eine Woche danach übersandte der erste Vorsitzende Gustav Heinemann das Mitgliedsbuch der SPD.

Gleich nach dem Übertritt stürzten sich die  neuen Mitglieder an der Seite ihrer SPD-Genossen in den Wahlkampf. Doch auch die Wahlen von 1957 führten keine Veränderungen herbei. Die CDU erreichte die absolute Mehrheit der Zweitstimmen und damit die breiten Unterstützung für Adenauers Politik. Heinemann wurde, dank seiner guten Platzierung bei der Landesliste Niedersachsens Mitglied des  Deutschen Bundestages. Dort bot sich Heinemann die Möglichkeit, von einer bedeutende Plattform aus mit Bundeskanzler Adenau~ abzurechnen. In einer der großen Debatten des Bundestages griff Heinemann Adenauer Deutschlandpolitik an, von der er sagte, er habe nichts erbracht. Die DDR habe durch seine Politik nur noch größere Anerkennung in der Welt erfahren. Ähnlich sei es mit der Sowjetunion, die durch die Zementierung die   Teilung Deutschlands ihren kommunistische Block noch habe stärken können. Einen Höhepunkt erreichte seine Rede, als er die Wortwahl der CDU-Propaganda anprangerte, in der man vom ,Untier im Osten‘ und vom ,Antichristen‘ sprach, den es aufzuhalten gelte. A die evangelischen Mitglieder der CDU appellierte er: „Sorgen Sie doch dafür, dass solch Klänge endlich verschwinden. Es geht nicht um Christentum gegen Marxismus.” „Sondern sondern?” tönte es von den Parlamentarier der CDU. Heinemann antwortete: „Es geht die Erkenntnis, dass Christus nicht gegen Karl Marx gestorben ist, sondern für uns alle.” Diese Rede machte ihn zu einem der herausragen den Sozialdemokraten, der in mancher Hinsicht eine bis dahin unbekannte Diktion in die politische Debatte eingeführt hatte.

Es ist verständlich, dass der SPD-Parteitag von 1958 Heinemann in den Parteivorstand wählte, obwohl er nur ein Jahr Mitglied de Partei war. Normalerweise muss sich bekanntlich ein Mitglied in der Partei ,hocharbeiten` bevor er zur Wahl für das höchste Gremium aufgestellt wird. Dieser rasche Aufstieg hatte natürlich mit der Neuorientierung der Partei zu tun, an der Heinemann schon maßgeblich mit-gewirkt hatte. Sie gipfelte in der Abfassung des Godesberger Programms von 1959, das der SPD den Charakter einer Volkspartei verlieh, Schluss machte mit der Idee des Klassenkampfes und der Ablehnung von Kirche und Christentum.

Wirken für die Sozial­de­mo­kratie

Heinemann war nun Mitglied einer Partei, die den anderen, denen er zuvor angehört hatte, nicht glich. Die CDU war von Adenauer geleitet und geprägt worden. Dabei war der Einfluss der katholischen Kirche erheblich gewesen. Adenauer hatte es auch geschehen lassen, dass alte Nazis neu geschaffene Staatsorgane leiteten, vielfach ungeachtet ihrer Anteile an Nazi-Verbrechen. Anders als in der SPD waren politische Diskussionen innerhalb der CDU weit weniger intensiv. Die von Heinemann gegründete GVP war eine Art politischer Klub gewesen, der sich aus Mitgliedern des protestantisch liberalen Bürgertums rekrutierte. Ihr politischer Kampf galt der Wiedervereinigung und einer darauf basierenden gesamtdeutschen Politik sowie einer Außenpolitik frei von jeder Blockbildung. Die SPD war eine Massenpartei mit unterschiedlichen politischen Flügeln, mit Menschen aus allen Schichten, von denen viele noch aus der Weimarer Zeit mit ihr verwachsen waren, darunter Verfolgte des Naziregimes, die für die Politik ihrer Partei gelitten hatten.

Für Heinemann war die Mitgliedschaft in der SPD eine neue Erfahrung. In politischer Hinsicht gab es keine Verständigungsschwierigkeiten. Anders war es mit den menschlichen Beziehungen. Die in der SPD übliche Anrede „Genosse” kam ihm nie über die Lippen. Sie war für ihn ein alter Zopf aus der Zeit des Klassenkampfes. Alte Sozialdemokraten erinnern sich noch heute, wie schwer es ihnen fiel, Heinemann, der so offensichtlich bürgerlicher Herkunft war, mit ,Du` anzureden. Und doch achteten sie diesen Mann, seine Haltung in der Nazizeit, seine strikte Ablehnung der Politik Adenauers, sein Eingreifen für politisch Verfolgte und seine uneigennützige Mitarbeit in der Partei. Dennoch: Er blieb ein Fremder für die meisten Genossen. Dem Anschein nach bemühte er sich, akzeptiert zu werden, dazuzugehören.

Er pflegte freie Abende in Bonn in der seiner Wohnung nahen Kneipe Rheinlust zu verbringen. Dort traf er mit Sozialdemokraten zusammen, die sich „Kanalarbeiter” nannten und die hauptsächlich dorthin kamen, um zu politisieren: Viele von ihnen waren Hinterbänkler im Parlament und standen meist auf der konservativen Seite der Partei. Sie waren eine ernstzunehmende Gruppe – zwischen 80 und 100 Personen –, die Entscheidungen in der Partei und auch im Parlament beeinflussen konnten. Heinemanns Anwesenheit bei den „Kanalarbeitern” galt wohl weniger einem Wunsch nach politischer Aussprache: Dort hatte er Gelegenheit, Skat zu spielen, eine Leidenschaft von Jugend an. Er pflegte auch an den von den „Kanalarbeitern” organisierten Dampferfahrten auf dem Rhein teilzunehmen, sehr zur Verwunderung der Genossen. Die ehemalige Abgeordnete Luise Herklotz konnte sich nicht daran erinnern, dass er sie jemals in ihrer politischen Entscheidung zu beeinflussen suchte. Nur einmal, 1968, als es um die umstrittenen und vornehmlich von der Studentenbewegung bekämpften Notstandsgesetze ging, riet er ihr, ihre Stimme ruhig für die Gesetze abzugeben: Diese seien doch nur eine stinken-de Leiche, nach der Abstimmung würde kein Mensch mehr über sie reden.

Gegen die Atombewaff­nung

Heinemann erwies sich als brillanter Redner im Parlament; vor allem, wenn es um Gewissensentscheidungen ging. An der Aufrichtigkeit seiner Argumente wagten selbst die politischen Gegner nicht zu zweifeln. Die CDU fürchtete ihn. Zu gut kannte er sie aus der gemeinsamen Vergangenheit, ihre Denkweise, ihre Argumente. Im März 1958 lag dem Parlament eine Entschließung vor, nach der „angesichts der Aufrüstung des möglichen Gegners” die Bundeswehr mit modernsten Waffen – sprich Atomwaffen – ausgerüstet werden sollte. Dies sollte im Rahmen der NATO geschehen. Für Heinemann gab es zu diesem Thema nur ein striktes Nein. In einer viel beachteten Rede stellte Heinemann die Frage an eine „sich christlich nennende Partei”, welcher Maßstab es ihr erlaube, den Einsatz von Massenvernichtungswaffen zu befürworten. Nie zuvor hatte es ein Politiker der Opposition im Parlament gewagt, Zweifel an der christlichen Verantwortung der führenden Regierungspartei auszusprechen.

Es war das Jahr 1961, Wahlen standen bevor. Das Thema „Atomwaffen für die Bundeswehr” spielte im Wahlkampf eine Rolle. In der SPD differierten die Ansichten. Willy Brandt, Vorsitzender der SPD und Regierender Bürgermeister von West-Berlin, gehörte zu denen, die sich in dieser Frage nicht festlegen wollten. Heinemann schlug vor, die unterschiedlichen Auffassungen zur Atompolitik sollten nebeneinander existieren. Keine der Gruppen dürfte die Partei im ganzen auf ihren Standpunkt festlegen. Und so geschah es auch. Als logische Konsequenz stimmte Heinemann dem Vorschlag zu, dass sein Name auf der Liste der Regierungsmannschaft, die die SPD dem Wahlvolk präsentieren wollte, nicht auf-geführt wurde. In diesem Falle erwies er sich zum ersten Mal als Parteipolitiker, der Verständnis dafür aufbrachte, dass sein Name die Partei in dieser Frage kompromittieren könnte.

Das Thema war bald vom Tisch, als John F. Kennedy zum Präsidenten der Vereinigten Staaten gewählt worden war. An Stelle der Konfrontation der Blöcke sollten nun Versuche der Kooperation stehen. Eine mit Atomwaffen gerüstete Bundeswehr passte nicht in diese Politik der Entspannung.

Justiz­mi­nister in der Großen Koalition

„Bist Du bereit”? Mit diesen Worten für Willy Brandt 1966 bei Heinemann an, ob den Posten des Justizministers übernehmen würde. Die SPD hatte der Bildung einer ( großen Koalition mit der CDU zugestimmt.

uns entfällt unter anderem das Justizministerium,“ erklärte Brandt, Vizekanzler und Außenminister in dieser Koalition, die nach Wahlen von 1965 zustande gekommen war diesen Wahlen hatte die CDU große Verluste hinnehmen müssen. Die Fortsetzung der Koalition mit der FDP hätte keine absolute Mehrheit zustande gebracht. Eine Koalition der S mit der FDP hätte ebenfalls nur mit einer  Mehrheit regieren können. In einer großen Koalition sahen die Sozialdemokraten erste Mal eine Möglichkeit, ihre Regierungsfähigkeit unter Beweis zu stellen. Sie nahm sogar einen Bundeskanzler Kiesinger in der Mitglied der NSDAP gewesen war. Es war klar, dass diese Regierung, der eine kleine Opposition gegenüberstand, nur eine Übergangsregierung sein würde.

Am 1. Dezember 1966 überreichte Bundespräsident Heinrich Lübke Gustav Heinemann die Ernennungsurkunde. Dieser bemerkte zu: „Bei diesem Regierungswechsel verlief Professor Erhard und Hans Christoph S -ohm als letzte der noch aus der Adenauer Regierung von 1949 verbliebenen Mitglied die Regierungsbank. Ich, der ich die Adenauers Regierung als erster verließ, nehme wieder darauf Platz.”
„Darf ich mich vorstellen, ich bin Gustav‘ der Neunte,” so führte sich Gustav Heinemann auf seiner ersten Pressekonferenz als neuer Amtsinhaber ein. Er bewies sofort, dass er seinen Vorgängern nicht glich. Er begann mit Reformen der Rechtsprechung, die seiner Meinung nach überfällig waren. „Er war nur Monate im Amt, eine kurze Zeitspanne, aber die reichte aus, um die rechtspolitische Szene in der Bundesrepublik von Grund auf zu verändern.” So Rudolf Wassermann, sein Presssprecher zu jener Zeit. Der Eifer, mit dem er ans Werk ging, zeigte, dass er in seinem Element war. Er war selbstständig und konnte et-was ausfechten — so wie er es sich als junger Mensch für seinen Beruf ausgemalt hatte. Seine juristischen Kenntnisse und Erfahrungen bildeten die Grundlage für sein Ziel, den Menschen ein Leben mit mehr Rechten und mehr Gerechtigkeit zu schaffen. Die Hauptaufgabe sah Heinemann in der Reform des Strafgesetzbuches, dessen Bestimmungen zu einem großen Teil noch auf das Jahr 1871 zurückgingen. Das politische Strafrecht, das 1951 unter dem Eindruck des Kalten Krieges verschärft worden war, wurde wesentlich eingeschränkt. Die Unrechtmäßigkeiten dieser Strafen waren Heinemann aus seiner Anwaltspraxis bekannt. Eine Amnestie für jene, die unter dieser Gesetzgebung verurteilt worden waren, folgte. Für die Aufhebung der Verjährung von NS-Verbrechen, um die seit 1965 im Parlament gerungen worden war, setzte sich Heinemann mit besonderem Nachdruck ein, wohl in Erinnerung an die Juden von Essen, denen Heinemann und seine Freunde in ihrer Not zur Seite gestanden hatten. Strafvorschriften für Gotteslästerung, Ehebruch, Homosexualität unter Erwachsenen und Sodomie wurden ab-geschafft. Es blieb nicht aus, dass er angegriffen wurde, gerade von jenen, mit denen er religiöse Ansichten, was Ehebruch oder Sexualität betraf, teilte. Seine Reaktion darauf wurde zu einem Standardsatz von großer Akzeptanz: „Nicht alles, was sittlich unerlaubt ist, muss in der freiheitlichen Demokratie bestraft werden.” Insgesamt legte er dem Parlament 37 Gesetzesvorlagen vor, die drastische Veränderungen des Strafrechts bewirken sollten. Zwanzig davon sind bis zu seinem Rücktritt in Kraft getreten. Einige Reformen scheiterten am Widerstand des Koalitionspartners, der CDU. Gustav Heinemann war der bisher erfolgreichste Justizminister der Bundesrepublik. „Bundesjustizminister bin ich wirklich gern gewesen” — so lautete Heinemanns Kommentar.
Krönung eines Lebenswegs: Bundespräsident 1969-1974

Zweifellos haben die drastischen Reformen, die Heinemann in der Rechtsprechung ein-führte, mitgeholfen, die Atmosphäre in Deutschland von einer streng konservativen Ausrichtung zu einer fortschrittlicheren, lockeren Gesellschaft zu wandeln. In seine Zeit fielen die Studentenunruhen, die von der Mehrheit der Bevölkerung mit Empörung beobachtet wurden. Als es schließlich zum Attentat auf den Anführer der Studenten, Rudi Dutschke, im April 1968 kam, war es Heinemann, der in einer Fernsehansprache auf die Ursachen des Unmuts der Studenten hinwies: „Wer mit dem Zeigefinger [..,] auf den oder die vermeintlichen Anstifter oder Drahtzieher zeigt, sollte daran denken, dass in der Hand mit dem aus-gestreckten Zeigefinger zugleich drei andere Finger auf ihn selber zurückweisen.” Und er fragte die ältere Generation, ob sie nicht längst den Kontakt zu den Jungen verloren habe. Er bat sie um Selbstbeherrschung. Den Studenten wiederum sollten verstehen, dass Ausschreitungen und Gewalttaten nur das Gegenteil von dem erreichen, was sie erreichen wollten.

Auch die Frage, die Willy Brandt nur zwei Jahre nach Heinemanns Ernennung zum Justizminister an ihn richtete, verneinte er nicht. Er sagte unumwunden „Ja” zur Kandidatur für das Amt des Bundespräsidenten. Er war zu dieser Zeit siebzig Jahre alt. Ob er wohl bei seiner Zustimmung seinen Lebenslauf überdacht hatte und zu der Erkenntnis kam, dass die Position des Bundespräsidenten der logische Schlusspunkt seines Lebens würde? Ein Bundespräsident hat kein Recht, sich in die Politik einzumischen, wohl aber seine persönliche Meinung zu sagen, zu mahnen und zu warnen. Heinemann war eigentlich kein Politiker, der sich dieser Zunft verschrieben hatte. Eher war er ein politischer Mensch, für den Politik christliche Verantwortung war im Sinne von ethischer Moral, zu der er sich Zeit seines Lebens bekannt hatte. Dazu gehörte, dass er am öffentlichen Leben Anteil nahm und dabei sein Wissen über die Wirtschaft, die Wissenschaft, die Kirche und die Politik und sein breites Allgemeinwissen einbrachte. Seine Eignung zum Bundespräsidenten könnte nicht vollkommener gewesen sein.

Doch bevor es dazu kommen konnte, er-lebte Heinemann die damalige deutsche Wirklichkeit. Die CDU, aus der er vor 17 Jahren ausgetreten war, versuchte alles, um ihn als Kandidaten für den Bundespräsidenten zu disqualifizieren: Er habe zu oft das „politische Hemd” gewechselt, um ein Vorbild zu sein. Erst 1945 habe er die deutsche Staatsangehörigkeit wieder angenommen (was eine faustdicke Lüge war). Sein Eintreten für eine Neutralitätspolitik, sein Kampf gegen einen Wehrbeitrag der Bundesrepublik und ihren Eintritt in die Europäische Gemeinschaft empfehlten ihn nicht zum ersten Mann des Staates, so die CDU. Die SPD hätte allen Grund gehabt, den Kandidaten der CDU für den Posten des Bundespräsidenten anzugreifen: Gerhard Schröder war Mitglied der SA gewesen. Über-dies wollte die CDU seine Kandidatur mit den 22 Stimmen der neonazistischen NPD durch-bringen. Ohne sie und einige Stimmen der FDP, die in ihrer Mehrheit Heinemann wählen wollte, hätte Schröder keine Chance gehabt. Am 5. März 1969 waren drei Wahlgänge zur Entscheidung nötig: Gustav Heinemann wurde schließlich zum Bundespräsidenten gewählt — der zweite Sozialdemokrat in Deutschland nach Friedrich Ebert.

Am 1. Juli 1969 sprach Heinemann zum ersten Mal zu seinem Volk. „Ich sehe es als erste Verpflichtung, dem Frieden zu dienen. Nicht der Krieg ist der Ernstfall, in dem der Mensch sich zu bewähren habe, wie meine Generation in der kaiserlichen Zeit auf den Schulbänken lernte, sondern der Frieden ist der Ernstfall, in dem wir alle uns zu bewähren haben.” Erklärend fügte er hinzu: „Es gibt schwierige Vaterländer. Eines davon ist Deutschland. Aber es ist unser Vaterland. Hier leben und arbeiten wir. Darum sollen wir unseren Beitrag für die eine Menschheit mit diesem und durch die; unser Land leisten.”

Die Mehrheit der Deutschen nahm ihn bewunderte ihn, achtete ihn, verehrte ihn — c menschliche Wärme, die  trotz seiner spröden, herben Erscheinung, d Ungekünstelte seiner Sprache und vor alle auch seinen trocknen Humor. Als Umfrage 1970 ergaben, 92 Prozent der Deutschen waren der Meinung, Heinemann mache seine Sache sehr gut, reagierte er mit seinem unsichtbaren Schmunzeln: „Ich stehe jetzt vor der peinlichen Frage, wie ich die restlichen acht Prozent schaffen soll.”

Auch das Ausland akzeptierte ihn, wie noch keinen deutschen Bundespräsidenten vor ihm angenommen hatte. Er war der erste Bundespräsident, der nach dem Zweiten Weltkrieg in die skandinavischen Länder, nach Belgien Holland und Luxemburg eingeladen wurde Als er mit dem dänischen König einen Bauernhof besuchte, beschmutzte ihn eine Kuh] „Ein antideutsches Rindvieh”, lachte er; ein Wort, das in Dänemark lange unvergessen blieb. Der damalige Kronprinz von Spanische Juan Carlos, bat ihn einmal um den Rat „einweisen Mannes”. Dieser Rat bezog sich auf die Frage, wie er zur Festigung der Demokratie beitragen könne. Heinemann antwortete „Höre Sie auf die Arbeiterschaft, auf die Gewerkschaften und nicht so sehr auf die Adligen Ihre Landes und schon gar nicht auf die Faschisten.‘

Eine zweite Amtsperiode lehnte Heinemann ab. Er wolle nicht während seiner Präsidentschaft sterben. Die Verwechslung zweier Städtenamen anlässlich eines Staatsbesuch bestätigten ihm, dass es Zeit war zu gehen 1974 trat er ab. Zwei Jahre später starb er. Eine Nierentransplantation, die ihm das Lebe] vielleicht verlängert hätte, lehnte er ab. De Satz, der ihn charakterisierte, seine Offenheit seinen Humor und vor allem seine Menschlichkeit, ist bei vielen Deutschen in Erinnerung; geblieben: Auf die Frage eines Reporters, ob er den Staat liebe, antwortete er: „Ach was, ich liebe keinen Staat, ich liebe meine Frau.”

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