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Nie wieder ist jetzt: Ansprache in der Chris­tus­kirche am 26. Januar 2025

Gábor Lengyel, Seniorrabbiner der Liberalen Jüdischen Gemeinde Hannover und Überlebender der Schoa, hielt in der Christuskirche in Hannover am 26. Januar 2025 im Rahmen der Matinée „Nie wieder ist jetzt – Gedenkveranstaltung, 80 Jahre Befreiung von Auschwitz“ die folgende hier abermals abgedruckte Ansprache über die heutige Bedeutung der Losung Nie wieder Auschwitz.

 

Sehr verehrter Herr Ministerpräsident Weil, lieber Stephan, sehr verehrte Frau Landesbischöfin a.D. Käßmann, liebe Margot, lieber Herr Brandt, liebe Freundinnen und Freunde. Besonders freue ich mich, dass Freunde aus Erfurt, Bochum, Frankfurt und Braunschweig gekommen sind!

Ich danke euch allen dafür, dass Ihr euch gegen Antisemitismus und Rassismus einsetzt, erlaubt mir bitte, dass ich als Jude und schoaüberlebendes Kind, hier nicht über Antisemitismus spreche!

Kann man zu Auschwitz etwas Neues, vielleicht Unbekanntes sagen? Und vor allem: Wem? Selbst wenn man etwas sagt, richtet sich die Rede doch an die Falschen, oder? Diejenigen, die aus Überzeugung zuhören, muss man kaum mahnen, sie sind ohnehin zugänglich.

Es gibt zu dem ganzen Komplex so viele Äußerungen, so viele Reden, aber seien wir ehrlich, was bleibt davon hängen? Abgesehen davon, dass die Zuhörenden in dem Augenblick bestätigen, dass der Redner neben interessanten Gedanken auch schöne und vielleicht bewegende Worte gefunden und das Thema angemessen historisch/gesellschaftlich/kulturell bearbeitet hat, ist es in den nächsten Tagen häufig schon wieder vergessen.

Es gibt aber Ausnahmen. Ich erwähne eine Sternstunde im Bundestag, als Marcel Reif in drei Worten sämtliche Informationen, die man über gestern, heute und morgen wissen muss, zusammengefasst hat: „Sei ein Mensch.“

Da wir in einer Kirche sind, möchte ich einen Satz zum 27. Januar von einem innigen christlichen Freund, Professor für Theologie zitieren: „die große Frage hinter allem Gedenken an diesen Tagen lautet auch, ob es überhaupt sinnvoll ist von G’tt zu reden. Hat G’tt den Massenmord an seinem Volk, an das er gebunden hat, überlebt?“

Ich kann dem nichts mehr Hinzufügen!

Meine lieben Freundinnen und Freunde!

Am 27. Januar sprechen wir Juden nicht nur vom „Holocaust-Tag“, sondern von einem Gedenktag, der etwa meist im April begannen wird und „Jom ha‘Sikaron la‘Schoa u‘La’Gwura“, „Tag des Gedenkens an Holocaust und Heldentum“ heißt. An diesem soll nicht nur der Opfer der Schoa gedacht werden, sondern auch an das Heldentum und den Widerstand der jüdischen Untergrundkämpfer. Und das möchte ich tun!

Am 31. Dezember 1941 verfasste der jüdische Dichter Abba Kowner einen Aufruf zum Widerstand, nach dessen Verlesung im Ghetto Wilna die „Vereinigte Partisanen-Organisation“ gegründet wurde.

Das Flugblatt beginnt mit den Worten „Lassen wir uns nicht wie die Schafe zur Schlachtbank führen“, einem Text bezogen auf einen Vers beim Propheten Jeremia (Kapitel 11, Vers 19). Mit diesem Jeremia-Vers wird das angeblich passive Verhalten der Juden in den Jahren des Holocaust beschrieben.

Die zentrale Frage für Kowner lautete daher: welche Möglichkeiten des Widerstandes blieben den Juden gegen eine Übermacht, die beschlossen hatte, sie zu vernichten?

Ich möchte gerne über einige Länder sprechen.

Zunächst über Deutschland

Im Jahre 1933 lebten etwa 500.000 Juden in Deutschland. 200.000 Juden wurden ermordet. 15.000 Juden überlebten in sog. privilegierten Mischehen, 5.000 entkamen dem Tod im Untergrund.

Der erste Bericht über die jüdische kommunistische Widerstandsgruppe von Herbert Baum in Berlin, erschien 1961 in Warschau: „Bleter for geschichte“ in jiddischer Sprache.

Die ersten antifaschistischen Kampfschriften stammten noch von anderen Gruppen, so ein 19-seitiges Pamphlet, mit dem Titel: „Organisiert den revolutionären Massenkampf gegen Faschismus“. Viele Gruppenmitglieder, wie Heinz Rotholz, Heinz Birnbaum, Edith Frenkel und andere wurden schnell verhaftet. Nach einem Prozess wurden neun Todesurteile wegen „kommunistischen Hochverrats“ verhängt.

Nun einige Worte zum Geschehen in Polen

1939 lebten 3.350.000 Juden in Polen. 370.000 haben den Krieg überlebt, Fast drei Millionen wurden ermordet, das ist die Hälfte aller jüdischen Opfer.

Zunächst Warschau

Trotz der widrigen Bedingungen schufen jüdische Organisationen und Parteien Anfang 1941 eine illegale Infrastruktur mit Zeitungen und Schulungen. Im Laufe des Jahres 1942 schlossen sich alle jüdischen Parteien und Gruppierungen zum Zydowski Komitet Narodowy, dem Jüdischen Nationalkomitee zusammen. Das war der zivile Arm der Zydowska Organizacija Bojowa/ZOB, der Jüdischen Kampforganisation. Kommandant der ZOB wurde der zionistische Jugendführer Mordechai Anielewiecz.

Mordechai Anielewicz, der spätere Kommandant des Warschauer Ghettoaufstandes war zunächst Mitglied des rechtszionistischen Betar, später trat er in der linkssozialistischen Jugendorganisation Haschomer Ha’Zair bei.

Als die SS am 18. Januar 1943 das Warschauer Ghetto umstellte, um die verbliebenen Juden Warschaus in die Vernichtungslager zu transportieren, reagierten einige Kampfgruppen spontan mit bewaffnetem Widerstand.

In seinem letzten Brief schrieb Mordechai Anielewicz: „Unsere letzten Tage nahen. Aber solange wir noch Kugeln haben, so lange werden wir weiterkämpfen und uns verteidigen.“ Der Aufstand wurde am 8. Mai 1943, dem 15. Tag des Aufstandes niedergeschlagen. Der Kibbuz Jad Mordechai in Israel trägt seinen Namen.

Ich möchte auch den Namen einer Ghettokämpferin erwähnen, Zivia Lubetkin, Zivia gehörte zur Führung der linkssozialistischen Jugendorganisation Dror, der Freiheit.

Zivia Lubetkin organisierte nach dem Krieg die illegale Einwanderung nach Palästina, wohin sie selbst 1946 emigrierte. Sie gründete den Kibbuz der Ghettokämpfer/Lochamei Ha‘Gettaot in Galil im Norden Israels, sie starb 1976.

Bialystok

Die Juden Bialystoks stellten bei Kriegsausbruch mit 46.000 Menschen die Hälfte der Bevölkerung.

Am 1. Juli 1943 im Ghetto entstand eine vereinigte Widerstandsorganisation, an deren Spitze der Linkssozialist Mordechai Tenenbaum stand. Sein Stellvertreter war der Kommunist Daniel Moszkowicz.

Zu den Initiatoren des Widerstands gehörte auch Frau Chajke Grossman, sie war Mitglied der linkszionistischen Jugendbewegung Haschomer Ha’Zair und nahm am im August 1943 am bewaffneten Aufstand im Ghetto teil. Sie überlebte den Krieg und wanderte 1948 nach Israel aus. Sie wurde Kibbuzmitglied und ab 1969 langjährige Abgeordnete und Vizepräsidentin der Knesset. Sie starb am 26. Mai 1996.

Und nun Auschwitz

Den einzigen wirksamen Widerstand leisteten die meist aus Griechenland und Polen stammenden jüdische Häftlinge des „Sonderkommandos“. Geplant war ein Aufstand des „Sonderkommandos“ aller Krematorien, doch durch tragische Umstände konnte nur das Krematorium IV zerstört werden. Der Aufstand begann am 7. Oktober 1944. Bei der anschließenden Flucht wurden alle Aufständischen getötet.

Ich möchte kurz die Hymne der jüdischen Partisanen „Sog nit kejnmol“, geschrieben von Hirsch Glik, erwähnen. Es ist das berühmteste Lied des jüdischen Widerstandes im 2. Weltkrieg. Glik fiel mit der Waffe in der Hand 1944.

Abschließend möchte ich die berühmteste jüdisch – ungarische Fallschirmspringerin Chana Szenes erwähnen, deren Name Symbol für Mut, Idealismus und Opferbereitschaft steht. Ihr Gedicht „Der Span sei gepriesen“ kannte früher in Israel fast jedes israelische Schulkind.

Sie wurde am 7. Juli 1921 als Tochter einer wohlhabenden, assimilierten jüdischen Familie in Budapest geboren. Im Sommer 1939 wanderte sie als zionistische Idealistin nach Palästina in den Kibbuz Nahalal aus. Schon als Kind schrieb sie lyrische Gedichte.

1943 meldete sie sich freiwillig zur zionistischen Kampftruppe Palmach und ließ sich im Funken, Kodieren, Fotografieren und Fälschen von Dokumenten schulen.

In Kairo absolvierte sie erfolgreich einen Fallschirmspringerkurs und flog nach Jugoslawien. Als am 19. März 1944 Adolf Eichmann mit 300 Wehrmachtssoldaten in Ungarn einmarschierte, wollte sie so schnell wie möglich nach Budapest reisen, um der ungarisch-jüdischen Widerstandsgruppe zu helfen.

Chana marschierte mehr als zwei Wochen lang in Richtung Ungarn. Kurze Zeit darauf wurde die Gruppe gefasst und erschossen.

Am 15. Oktober 1944 übernahm in Ungarn die faschistische Partei der „Pfeilkreuzler“ die Macht. Chana Szenes wurde auch gefasst und von einem ungarischen Gericht zum Tode verurteilt und hingerichtet.

Meine lieben Freundinnen und Freunde,

nun Widerstand bedeutet häufig Töten!

Lasst mich bitte angesichts der Kriege in der Ukraine und um Israel einige Gedanken zu „Krieg und Pazifismus“ mit euch zu teilen.

„Auf drei Prinzipien beruht die Welt: auf Wahrheit, Recht und Frieden“, lesen wir in den Sprüchen der Väter aus der mündlichen Lehre, Mischna.

Das hebräische Wort für Frieden lautet Schalom. Es kommt von dem Verb schalem, was vollständig bedeutet. Die Tora verwendet den Begriff Schalom im zwischenmenschlichen, internationalen und religiösen Sinn.

Zusammengenommen lässt sich Schalom am besten mit „ein Zustand vollkommener Harmonie in jeder Beziehung“ übersetzen.

Dennoch ist das Judentum keine bedingungslos pazifistische Religion. Der Weltfrieden ist ein Ideal, dass erst in der Zeit des Messias für erreichbar gehalten wird. Der große jüdische Philosoph Maimonides schrieb im 12. Jahrhundert, dass das Judentum davon ausgeht, dass Krieg manchmal gerechtfertigt ist und dass es unterscheidet zwischen einem verpflichtenden Krieg und einem freiwilligen Krieg. Das Judentum ist eine Religion der Realität. Familienprobleme, Nachbarschaftsstreitigkeiten, religiöse Auseinandersetzungen, Bürgerkriege und internationale Konflikte sind bei uns an der Tagesordnung.

Angesicht des brutalen Überfalls Russlands am 24. Februar 2022 an die Ukraine, nein, eigentlich bereits am 20. Februar 2014 an Krim und des Hamas-Massakers am 7. Oktober 2023 an israelischen Zivilisten und seitdem andauernden Krieges Israels auf sechs-sieben Fronten im Nahen-Osten, fühle mich gezwungen, als ehemaliger israelischer Soldat und Reservist auch einige persönliche Worte zu sagen.

Der Ruf nach Frieden ist nicht immer ein moralisches Argument. Müssen die Deutschen Pazifisten sein? Ich denke nicht mehr: Seit fast einem Jahrhundert wissen wir, dass der Ruf nach Pazifismus angesichts von aggressiven Diktaturen oft nichts anderes ist als Appeasement und Akzeptanz dieser Diktaturen.

Thomas Mann, entsetzt über die Situation in Deutschland und die Selbstgefälligkeit der freiheitlichen Demokratien, prangerte bereits 1938 aus dem Exil einen Pazifismus an, der „den Krieg herbeiführt, statt ihn zu bannen“.

Und in der Paulskirche, wandte sich Manès Sperber, der Friedenspreisträger des Jahres 1983, gegen die falsche Moral der Pazifisten jener Zeit, die Deutschland und Europa trotz der sowjetischen Bedrohung abrüsten wollten, Zitat: „Wer glaubt und glauben machen will, dass ein waffenloses, neutrales, kapitulierendes Europa für alle Zukunft des Friedens sicher sein kann, der irrt sich und führt andere in die Irre.“

Von Israel erwartet man mehr Moralität und Humanität als von anderen Staaten. Vielleicht wegen der jüdischen Religion? Oder weil Israel seine Existenz dem Wohlwollen der Welt verdankt, siehe den UN-Teilungsplan von 1947, nur zwei Jahre nach dem Holocaust?

Aber: Israel musste und muss bis heute mit unmoralischen Mitteln um seine Existenz kämpfen! Dieser Widerspruch begleitet das Empfinden von uns Juden und führt gerade bei mir zu einer inneren Zerrissenheit!

All das erzählte ich euch, obwohl ich ein Kämpfer für die Verständigung zwischen Palästinensern und Israelis und ein scharfer Kritiker der Entwicklung der politischen Landschaft in Israel seit dem sog. Sechstagekrieg von 1967 bin.

Dennoch erlaube ich mir als Rabbiner, aber vor allen Dingen als Mensch, einige Worte zum 7. Oktober 2023 und darüber hinaus zu sagen.

Mit dem 7. Oktober hat der Staat Israel seinen ungeschriebenen Pakt mit dem gesamten jüdischen Volk gebrochen: dafür zu sorgen, dass Juden nie wieder dasselbe erleiden und erdulden müssen, was sie in den zwei Jahrtausenden, in den sie keinen eigenen Staat hatten, erlitten haben.

Seit der Staatsgründung funktionierte Israel über Jahrzehnte auf der Basis einer liberalen Demokratie. War oder ist diese perfekt? Natürlich nicht. Gab es Rassismus oder andere Formen der Ungleichbehandlung der Bürger? Ja, leider, bis heute. Doch darin unterschied und unterscheidet sich Israel nicht grundsätzlich von anderen demokratischen Ländern.

Doch bereits mit dem Sechstagekrieg 1967, mit der Eroberung jenes Teils Palästinas, das heute als „besetzte Gebiete“ oder „befreite Gebiete“ bezeichnet wird, änderte sich in Teilen der israelischen Gesellschaft die politische Zielstellung.

Nach fast 2000 Jahren Diaspora das ganze Land Israel mit den heiligen jüdischen Stätten wieder in Besitz zu nehmen, wird in einigen Kreisen als göttliches Zeichen gesehen.

Diese messianisch-fundamentalistische Ideologie wird in der heutigen Regierungskoalition von vielen Abgeordneten und Ministern der Knesset vertreten.

Doch schon früh warnten israelische Intellektuelle vor den Folgen der Besatzung und der Siedlungspolitik für die eigene Gesellschaft. Die wachsende Überzeugung unter religiös-messianischen Juden, das „von Gott verheißene Land“ nicht aufgeben zu können oder zu dürfen, stürzte den säkular-demokratischen Staat Israel in eine tiefe ideologische Krise.

Kurzum eine Antwort auf die Frage: „Welche Perspektiven sehe ich für die Zukunft?“

Erstens: Wir Juden trauern um die zahllosen gefallenen israelischen Soldaten und fühlen zugleich tiefes Mitgefühl und Empathie für die vielen unschuldigen Palästinenser in Gaza, im Libanon und in der Westbank.

Zweitens: Die westliche Welt muss alles tun, damit die Ideologie des schiitischen Islamismus geführt von Iran, von Hisbollah und die Jihadisten weltweit nicht die Oberhand gewinnt.

Aktuell: mit der allmählichen Rückkehr der Geiseln, für die Israel einen hohen Preis gezahlt hat und noch zahlen wird, gibt es vielleicht einen kleinen Funken Hoffnung auf einen dauerhaften Waffenstillstand im Nahen Osten. Nur Waffenstillstand, weil in der Westbank der „Fast-Krieg“ tobt und weil aktuell bei allen Beteiligten Angst, Misstrauen, Unsicherheit, Hass und Rachegefühle herrschen.

Gleichzeitig müssen die liberal-demokratischen Kräfte in Israel von der gesamten westlichen Welt unterstützt werden, damit diese rechtsnationale, ultraorthodoxe illiberale israelische Regierung abgelöst wird und die Palästinafrage endlich und dauerhaft gelöst wird.

Meine lieben Freundinnen und Freunde, nach den Kriegen kommt die Erinnerung …

Ich halte häufig Vorträge über die Erinnerungskultur in Deutschland. Dabei versuche ich, einzelne Mosaiksteinchen aufzugreifen, wohl wissend, dass ich vieles auslasse und vielleicht unbeabsichtigt einige Menschen verletze.

Die Erinnerung an die Vergangenheit ist seit jeher ein zentrales Element der Jüdischen Erfahrung. Das Wort Zachor/Erinnere dich erscheint 169-Mal in der Bibel. Aber wir fragen uns ständig: Wie viel Geschichte ist nötig? Woran sollten wir uns erinnern? Wie viel dürfen wir vergessen?

Erlaubt mir bitte, dass ich einige kritische Worte zur Erinnerungskultur in Deutschland, aus meiner rein persönlichen Sicht sage.

Mir geht es hier um die öffentlichen Gedenkfeiern von Politik und Kirche organisierten am 9. November und am 27. Januar.

Diese Veranstaltungen folgen häufig dem Muster: Juden tragen die Hauptlast des Erinnerns vor einem christlichen Publikum. Allzu oft lassen wir Juden für und mit den Christen gedenken. Das ist bewegend – aber was bewegen solche Veranstaltungen wirklich? Inwiefern berühren sie die Kirche und die Öffentlichkeit nachhaltig?

Die heutige Veranstaltung hier ist eine bisher einmalige positive Ausnahme, wegen Margot und wegen der besonderen Musik, lieber Herr Brandt, habe ich zugesagt.

Aktuell besteht eine weitere „Gefahr“, nämlich die Gefahr der Einebnung der Erinnerung. Wird der Holocaust in eine Reihe mit anderen Verbrechen gestellt – Stichwort Postkoloniale Debatte – droht seine spezifische Bedeutung als präzedenzloses Ereignis der Geschichte zu verwischen.

Auschwitz war nicht nur ein Genozid, sondern ein industriell durchorganisiertes Massenvernichtungsprojekt. Die Versuche, Auschwitz aus seinem singulären Erinnerungsrahmen in einem universellen zu überführen, verleiten heute dazu, dass die spezifischen ideologischen Grundlagen des nationalsozialistischen Antisemitismus aus dem Bewusstsein zu verdrängen, und Begriffe wie Genozid/Vernichtung auf Israel zu übertragen.

Diese Debatte, die derzeit hitzig an den Universitäten und in den Feuilletons geführt wird, kann ich hier nicht auflösen.

Dieser Diskurs hat jedoch konkrete Auswirkungen auf die Erinnerungslandschaft der Bundesrepublik.

Hier ist die Erinnerung an den Holocaust eng mit nationalem Selbstverständnis und nationaler Verantwortung, Stichwort “Staatsräson“, verknüpft. Die Gleichsetzung der Schoa mit den Kolonialverbrechen, die erinnert und aufgearbeitet werden müssen, führt auf vielen Demonstrationen bereits zu einer Relativierung der deutschen Schuld.

Andererseits warnt Mosche Zimmermann, nicht ganz wort-wörtlich: „Israel hat eine Taktik übernommen, um die Schoa zum „Besitzwert“, damit in einen „Vorteil“ zu verwandeln und letztlich auch Israelkritik mit Antisemitismus gleichzusetzen“.

In der sog. MEMO-Jugendstudie 2023 berichtete nur jede zehnte Befragte von Täter*innen unter den eigenen Vorfahren!

Ich schlage deshalb vor, dass an den Gedenkveranstaltungen zum 27. Januar oder 9. November, Nachkommen der TäterInnen, die sich ernsthaft mit der Nazivergangenheit von Familienangehörigen auseinandersetzen, die „Festansprache“ im Bundestag, in Landtagen oder in Kirchen halten! Liebe Margot, ich danke dir vom Herzen, für deine persönliche Auseinandersetzung mit deiner Familiengeschichte! Gerade das habe ich mit der Bundestagspräsidentin Bärbel Bas in Berlin und mit der Landtagspräsidentin, Hanna Naber persönlich im Oktober 2024 besprochen.

Meine lieben Freundinnen und Freunde,

zur Erinnerung und zur Mahnung gehört der Slogan „Nie wieder ist jetzt“! Welche Assoziationen ruft er in mir wach?

Die Lehre aus der Schoa für uns Jüdinnen und Juden heißt: NIE WIEDER AUSCHWITZ!

Als meine Kinder (heute sind sie 54 und 50!) zur Schule gingen hat man die NS-Zeit in den sechsten und späteren Klassen durchgenommen, um die Schüler dafür zu sensibilisieren, wie es dazu kommen konnte, dass so viele Menschen einer menschenverachtenden Ideologie anschlossen. Die Schüler*innen konnten es nicht verstehen und waren alle der Überzeugung, dass man selbst immer wieder aufstehen und sich gegen Unrecht erheben solle.

Und schon damals hieß es: „Währet den Anfängen“. Jetzt sind wir in der Situation, genau dies zu tun. Deshalb kann man zu dem Schluss kommen, dass mit „Nie wieder ist jetzt“ eine treffende Antwort auf die Bedrohung von rechts gefunden ist.

Die andere Seite der Medaille ist aber, dass es sehr unterschiedliche Einschätzungen darüber gibt, ob wir wirklich in einer Situation sind, die die Aussage „nie wieder ist jetzt“ rechtfertigt. Meine persönliche Meinung ist, dass sich die meisten Experten in den vergangenen zwanzig Jahren geirrt haben. Noch vor ungefähr zehn Jahren wurde behauptet, dass wir trotz zahlreicher regionaler Kriege, trotz Sarrazin und AFD in einer der demokratischsten Epoche Deutschlands leben würden.

Ist die Situation heute mit der Endphase der Weimarer Republik vergleichbar? Ich weiß es nicht! Tatsache ist aber, dass sich die allgemeine Einschätzung „ein Vergleich mit Weimar ist nicht zulässig“ von Experten im Verlauf der vergangenen zehn Jahren deutlich gewandelt hat, hin zur Parole „die Demokratie ist gefährdet“.

Das Problem ist wie immer, dass viele Menschen im Land nicht direkt betroffen sind. Es ist doch so: Wenn morgen die AFD regiert, dann müssen sich viele Menschen kaum Sorgen machen, weil sie Weiße und Deutsche sind. Was für einen Grund sollte es für diese Leute geben, für ein „nie wieder ist jetzt“ einzutreten? Ich kenne zurzeit kaum weiße Menschen, die Deutschland aus politischen Gründen verlassen und auch die Frage stellen: aber wohin?

Ich als Rabbiner, sage: das betrifft uns alle, unsere Gesellschaft, seien es Schwarze, Menschen mit anderer sexueller Orientierung, Sinti oder Roma oder Muslime, Juden und natürlich alle Christen – es geht immer um Menschen. Das Grundgesetz verspricht: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Das bedeutet: Wenn andere Menschen diskriminiert werden, geht es um uns alle.

Wenn wir uns erinnern und in die Geschichte schauen, dann sehen wir, dass das Böse, der Hass nicht allein von Diktatoren und Rassisten ausgeht, sondern dass der Verlust von Demokratie von den Schweigenden, von den Leisen, von den Gefühllosen ermöglicht wird. Hass und Ausgrenzung werden möglich durch jene, die zuschauen, die tatenlos danebenstehen.

Ich gehe noch einen Schritt weiter: wenn man diese Formel hört, könnte man spontan aber auch so reagieren: „Nie wieder ist jederzeit“ und für alle und an allen Orten.

Das „Nie wieder“ bezieht sich ja auf einen totalen Verlust oder genauer auf eine totale Verweigerung von Menschlichkeit. Um dem „Nie wieder“ eine positive Grundlage zu geben, müsste es also um universale ethische Grundsätze gehen. In diesem Sinne müsste auch die deutsche Erinnerungskultur stets die Jahre der Vorgeschichte von Verachtung und Entrechtung und Zerstörung mit einbeziehen, die zu „Auschwitz“ geführt haben.

Lasst mich bitte meine Ansprache mit einer persönlichen Botschaft schließen:

Vivian Silver, eine vierundsiebzigjährige Jüdin aus Kanada, die vor vielen Jahren nach Israel eingewandert und eine Aktivistin für Frauenrechte, für Verständigung zwischen Palästinensern und Israelis war, wurde am 7. Oktober von Hamas-Terroristen ermordet. Wie sollte die überlebende Familie reagieren? Palästinenser/Araber-Hasser werden oder trotzdem die Hand zur Versöhnung reichen?

Und wie sollte Gábor Lengyel reagieren? Ich, ein Kind, das die Schoa überlebt hat, dessen Mutter und viele Verwandte von den Nazis ermordet wurden. Sollte ich nur Nazi-Jäger oder Hetzer gegen Deutsche und Migranten sein? Nein, ich bin eher ein Brückenbauer und reiche meine Hand zur Versöhnung.

Vivian Silvers Familie hat eine Stiftung gegründet und ab November 2024 einen Preis von je 15.000 $ an jüdische und palästinensische Frauen vergibt, die sich für die Verständigung zwischen Palästinensern und Israelis einsetzen. Am 21. November 2024 wurde die israelische-palästinensische Christin Dr. Rula Hardal (eine gute Freundin von mir!) ausgezeichnet!

Wir müssen die Jugendlichen zum Denken anregen und ihnen die Komplexität der damaligen und heutigen Realität vermitteln. Sie sollten dabei nicht mit hohlen Werten belehrt werden! Vielmehr sollen sie untereinander diskutieren lernen, was für und gegen ein Mitmachen oder Helfen in bestimmten Situationen spricht! Erziehung müsse – so der jüdische Philosoph, Adorno – zur „kritischen Selbstreflexion“ führen!

Der „Nie wieder Gedanke“ beginnt in der KITA, in den Schulen und in den Familien. Meine persönliche Lehre aus der Schoa ist: mein Engagement in Israel, in Deutschland für die Demokratie. Deshalb gehe ich mit meinem TANDEM Projekt, mit einer jungen Muslima in Schulen und mache Workshops zur Demokratieförderung!

Vielen Dank!

 

Dr. Gábor Lengyel ist Seniorrabbiner der Liberalen Jüdischen Gemeinde Hannover.

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