Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 249: Kontrolle der Polizei

Völkerrecht oder Recht des Stärkeren: Anmerkungen zu den Entwick­lungen im Gazakrieg seit dem 7. Oktober

Der brutale Terrorakt der Hamas am 7. Oktober, bei dem die Terroristen ein Massaker auf einem Musikfestival verübten, mehrere Kibbuzim überfielen, mehr als 200 Bewohner*innen entführten, folterten und ermordeten, forderte weit über tausend Tote. Es waren die höchsten Opferzahlen seit dem Holocaust, die Israel bis ins Mark getroffen und ein nationales Trauma ausgelöst haben. Dies geht zurück auf eine lange Chronik an gegenseitiger Gewalt zwischen Israel und den Palästinenser*innen und verschiedene politische Narrative. Zudem hat es zu zahlreichen Völkerrechtsverstößen, auch durch die israelische Regierung, geführt.

In seinem Beitrag versucht Manfred Pappenberger dies zu rekonstruieren und politisch einzuordnen. Dabei plädiert er weiterhin für eine Zwei-Staaten-Lösung und betont die Bedeutung eines humanitären Völkerrechts und Völkerstrafrechts ohne Doppelstandards, damit die internationale Weltordnung nicht endgültig zum Recht des Stärkeren verkommt.

Natürlich wäre es vermessen zu behaupten, man könnte den Nahost-Konflikt im Rahmen eines kurzen Artikels ausgewogen oder gar vollumfänglich beschreiben. Genauso problematisch ist es, willkürlich den 7. Oktober 2023 als Beginn einer Analyse zu setzen, hat dieser Konflikt doch eine lange Vorgeschichte. „Der 7. Oktober ist nicht der Beginn der Geschichte der Gewalt. […] Wenn wir aber verstehen wollen, wie es zu diesen Anschlägen kam, dann müssen wir viel früher mit der historischen Erklärung beginnen“ (Butler 2023).

Unter­schied­liche Narrative

Ein zentrales Datum innerhalb des palästinensischen Narrativs stellt die sogenannte Nakba (arabisch für Katastrophe) dar, als geschätzt 700.000 Palästinenser*innen nach der Gründung des Staates Israel im Mai 1948 im Zuge des arabisch-israelischen Krieges teilweise gewaltsam vertrieben wurden (siehe das Massaker von Deir Yassin).i Es erzählt weiterhin die Gewalt der Siedler*innen gegen palästinensische Dörfer, von Diskriminierungen und von flächendeckenden Bombardierungen im Gazastreifen mit vielen Toten unter der Zivilbevölkerung. Die israelische Vorgeschichte beginnt oftmals mit der Erfahrung eines gesteigerten Antisemitismus, der in der industriellen Tötung während der NS-Herrschaft gipfelte, den Selbstmord-Attentaten in Israel, dem andauernden Raketenbeschuss von Hisbollah und Hamas und nicht zuletzt dem brutalen Terrorakt des 7. Oktober 2023. Historisch zu verstehen, wie sich Gewalt und Gegengewalt immer wieder neu reproduzieren, ist nicht gleichbedeutend mit ihrer Billigung. Allerdings liegt, so meine Annahme, in der historischen Analyse der Schlüssel für die Lösung dieses Konflikts. Diese unterschiedlichen Narrative müssen allesamt – in Anlehnung an die südafrikanischen Wahrheitskommissionen – verstanden werden. Auch wenn es derzeit auf beiden Seiten extreme Gruppierungen mit gegenseitigen Vertreibungs- oder Vernichtungsphantasien gibt, nur so wird sich langfristig eine realistische Friedenschance für den Nahen Osten entwickeln können. Muriel Asseburg (2023: 52) schreibt dazu:

„Ein friedlicher Ausgleich kann nur gelingen, wenn die nationalen Ambitionen von jüdischen Israelis und Palästinenser*innen einbezogen, die geschichtlichen Erfahrungen und kollektiven Traumata beider Seiten anerkannt und vergangenes und gegenwärtiges Unrecht benannt werden. […] Das bedeutet ausdrücklich nicht, die beiden Katastrophen Shoah und Nakba gleichzusetzen oder das Leid einer Seite durch das der anderen zu relativieren. Es bedeutet aber, den Erfahrungen, Sichtweisen und Interessen beider Seiten Raum zu geben.“

Doch mit dem palästinensischen Narrativ tut sich die Bundesrepublik bis heute sehr schwer (vgl. Wiedemann 2023). Um nach dem Zweiten Weltkrieg wieder einen Platz unter den Völkern zu bekommen, hatte es für das Land der Täter oberste Priorität, dass ihnen das Land der Opfer vergibt (vgl. Marwecki 2024). In diesem Kontext schadet die palästinensische Erzählung nur.

Eine lange Chronik gegen­sei­tiger Gewalt zwischen Israel und den Paläs­ti­nen­ser*innen

Wie immer bei lang andauernden Konflikten mit leidvollen, traumatischen Erfahrungen auf beiden Seiten über Generationen hinweg, haben sich die Positionen extrem verhärtet und polarisiert. Wenn es nur noch die bedingungslose Solidarität mit der einen oder anderen Seite gibt, ist die gegenseitige Kommunikation und Vermittlung unmöglich. Dies hat sich zuletzt wieder bei dem Eklat auf der Berlinale 2024 oder um die jüdische Fotokünstlerin Nan Goldin in Berlin gezeigt. Auch wenn sich dieser Konflikt mittlerweile zu einem Kreislauf ohne Anfang und Ende verselbständigt hat, dient jede Aktion der einen Seite als Rechtfertigung für die Reaktion der anderen Seite. Diese Konstruktion der Wirklichkeit hat Paul Watzlawick (1990: 57ff.) als Interpunktion von Ereignisfolgen beschrieben, bei der jede Partei einen willkürlichen Anfangspunkt setzt, um das eigene Handeln zu begründen und zu legitimieren. Verstärkt werden die bestehenden unterschiedlichen Narrative im digitalen Zeitalter durch die vielfältigen Möglichkeiten zur Herstellung von Fake News und Desinformation, insbesondere in den sozialen Medien. Die Flut an Desinformationen und die aufgeheizte Stimmung im Netz vergiften das Klima, und führen sukzessive zu einem Schwarz-Weiß-Denken.

Seit dem brutalen Terrorangriff der Hamas auf die israelische Zivilbevölkerung am 7. Oktober 2023 und der militärischen (Über-)Reaktion Israels darauf hat die Debatte um den Nahost-Konflikt und seine Bewertung in Deutschland an Schärfe und Unversöhnlichkeit zugenommen. Der Hamas wird vollkommen korrekt ein blutiges Massaker an der Zivilbevölkerung vorgehalten, das Vorgehen Israels im Gazastreifen hat aber mittlerweile mehr als 40.000 Menschenleben auf palästinensischer Seite gefordert, mehrheitlich davon Frauen und Kinder. Zudem wurden circa zwei Millionen palästinensische Menschen vertrieben. Die unzähligen Bilder aus Gaza im Netz und die teilweise bewusste Inszenierung des Terrorangriffs in den sozialen Medien tragen zu einer deutlichen Emotionalisierung und damit zu einer nicht unerheblichen Dynamisierung und Verhärtung des Konflikts bei (vgl. Paul 2009).

Der 7. Oktober 2023

Der brutale Terrorakt der Hamas am Sukkot-Fest, bei dem die Terroristen ein Massaker auf einem Musikfestival verübten, mehrere Kibbuzim überfielen, mehr als 200 Bewohner*innen entführten, folterten und ermordeten, forderte weit über tausend Tote. Es waren die höchsten Opferzahlen seit dem Holocaust, die Israel bis ins Mark getroffen und ein nationales Trauma ausgelöst haben – ähnlich 9/11 in den USA und ihrem „war on terror“. Der 7. Oktober war kein Akt des dekolonialen Widerstands. Das an der israelischen Zivilbevölkerung begangene Massaker war entsetzlich und kann weder toleriert noch rationalisiert werden. Es begründet das Recht Israels, sich gegen den barbarischen Terrorakt der Hamas zu verteidigen. Doch das legitime Selbstverteidigungsrecht Israels muss an das Völkerrecht gebunden sein. Dasselbe gilt für die Palästinenser*innen und ihr Recht auf Widerstand. Beide Seiten verstoßen auf unterschiedliche Weise massiv gegen das Völkerrecht.

Politische Einordnung – Die Katastrophe nach der Katastrophe

Der Terrorangriff am 7. Oktober führte zur flächendeckenden Zerstörung Gazas mit unermesslichem Leid und zehntausenden zivilen Opfern. Das hat wiederum als Konsequenz, dass die anfängliche internationale Legitimation für Israels Gegenschlag sich mittlerweile in ihr Gegenteil verkehrt hat. Je länger der Krieg dauert und je höher die Zahl der Toten in der palästinensischen Zivilbevölkerung, desto größer wird die weltpolitische Isolation Israels. Selbst der engste Verbündete Israels, die USA, üben teilweise scharfe Kritik an Israels Militäraktionen. Nichtsdestotrotz hält Israels Premierminister Benjamin Netanjahu an der Utopie eines „vollständigen Sieges“ im Kampf gegen die Hamas fest. Demgegenüber legt die Inkaufnahme tausender ziviler Opfer die Saat für neuen, zukünftigen Hass und die nächste Generation von Terroristen. So wird selbst aus einem möglichen militärischen Sieg eine politische Niederlage, zumal es bislang auch keinerlei Pläne für eine politische Neuordnung im Gazastreifen gibt.

„Aus der israelischen Macht und dem Willen zur Vernichtung des Gegners resultiert so die eigene Ohnmacht, den Frieden zu gewinnen, und sogar umgekehrt die Stärkung des Gegners. Denn mit jedem getöteten Kind in Gaza wächst die Wahrscheinlichkeit einer neuen anti-israelischen und letztlich sogar antisemitischen Bewegung, wie die Reaktionen nicht nur in der arabischen Welt beweisen.“ (Lucke 2024: 39)

Einen Krieg ohne Rücksicht auf die Prinzipien des Völkerrechts und die Haltung der Weltgemeinschaft zu führen, darf nicht tatenlos hingenommen werden. Von daher sind die Haftbefehle des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) und die Verfahren vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH) zu begrüßen, da ihnen eine hohe normative Bedeutung zukommt. Kurzfristig geht es darum, einen längeren Waffenstillstand in Gaza zu erreichen, die israelischen Geiseln zu befreien und die humanitäre Versorgung der Bevölkerung in Gaza zu gewährleisten. Sinnvoll wäre ein Mandat der Vereinten Nationen zur Erhaltung der Sicherheit im Gazastreifen und zu einer Befriedung des Konflikts. Langfristige Perspektive für eine dauerhafte Befriedung des Konflikts bleibt aus meiner Sicht weiterhin die Zweistaatenlösung, auch wenn es für eine solche Lösung seit langem immer weniger Anhaltspunkte gibt.

Der Inter­na­ti­o­nale Gerichtshof (IGH)

In den Leitlinien der im Dezember 2022 neu gewählten israelischen Regierungskoalition, der neben dem Likud unter Netanjahu auch rechtsextreme und nationalistisch-religiöse Parteien angehören, wird unter anderem ausgeführt: „Das jüdische Volk hat ein exklusives und unbestreitbares Recht auf alle Teile des Landes Israel. Die Regierung wird die Besiedlung in allen Teilen des Landes, in Galiläa, dem Negev, dem Golan und Judäa und Samaria fördern und entwickeln“ (Poppe 2022). Damit verschärft die israelische Regierung den Konflikt, indem sie den Siedlungsausbau in Gebieten forciert, die Palästinenser*innen im Rahmen der Zwei-Staaten-Lösung für sich beanspruchen.

Daraufhin hatte die UN-Generalversammlung am 30. Dezember 2022 den IGH beauftragt, die israelische Besatzungspolitik in den Palästinensergebieten zu untersuchen.ii Der IGH mit Sitz im niederländischen Den Haag wurde 1945 gegründet und ist zuständig für Konflikte zwischen UN-Mitgliedstaaten. Dabei kommt der IGH in seinem nichtbindenden Gutachten vom 19. Juli 2024iii unter anderem zum Ergebnis, dass die Besetzung des Westjordanlands, Ostjerusalems sowie des Gazastreifens Merkmale aufweisen, die als illegal einzustufen sind. Demzufolge übe Israel eine derart massive und effektive Kontrolle in den besetzten Gebieten aus, dass das Recht des palästinensischen Volkes auf Selbstbestimmung beziehungsweise auf eine freie Entwicklung einer palästinensischen Kultur und Identität verhindere.

Der IGH kommt zum Schluss, dass Israel seine widerrechtliche Präsenz in den besetzten palästinensischen Gebieten beenden und seine unrechtmäßige Siedlungspolitik einstellen müsse. Des Weiteren verfügt der IGH das Prinzip der Restitution, das heißt die Evakuierung israelischer Siedler aus den besetzten Gebieten, die Rückführung der umgesiedelten respektive vertriebenen palästinensischen Bevölkerung in ihre ursprüngliche Heimat sowie die Rückgabe beziehungsweise Entschädigung der enteigneten Ländereien und Güter. Der UN-Sicherheitsrat und die UN-Vollversammlung werden aufgefordert, die Modalitäten auszuarbeiten, die für diesen Prozess erforderlich sind. Die internationale Staatengemeinschaft wird angehalten, die widerrechtlichen Praktiken Israels nicht als legal anzuerkennen. (Vgl. Feest 2024)

Die Unverhältnismäßigkeit der israelischen Militäraktionen auf den 7. Oktober – mit einer vollständigen Zerstörung des Gazastreifens, die völlige Zerstörung der Infrastruktur zur humanen Versorgung und die exorbitant hohe Zahl von verletzten und getöteten Menschen aus der Zivilbevölkerung – waren Anlass dafür, dass Südafrika im Dezember 2023 eine Klage vor dem IGH gegen Israel anstrengte. Bereits im Januar 2024 verhängte der IGH „vorläufige Maßnahmen“ zum Schutz der Zivilbevölkerung. Inwieweit sich der in der Klage gegen Israel erhobene Vorwurf eines Genozids im Gazastreifen erhärtet, wird Gegenstand umfangreicher Ermittlungen des IGH sein.

Der Inter­na­ti­o­nale Straf­ge­richtshof (IStGH)

Zurückgehend auf den Geist von Nürnberg, als das Internationale Militärtribunal zum ersten Mal in der Geschichte führende Repräsentanten eines verbrecherischen Regimes angeklagt und verurteilt hat, verfolgt der IStGH (im Gegensatz zum IGH) Personen, denen Straftaten wie Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Verbrechen der Aggression und Kriegsverbrechen, insbesondere gegen die Zivilbevölkerung vorgeworfen werden (Gössner 2024). Alle Personen, die Kriegsverbrechen begehen, müssen mit einer Anklage rechnen, auch wenn sie die Taten als Mitglieder eines Staatsapparates verüben, der sie hierzu bevollmächtigt hat. Der Chef-Ankläger des IStGH, Karim Khan, beantragte im Mai 2024 Haftbefehle gegen drei Anführer der Hamasiv sowie Israels Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu und Ex-Verteidigungsminister Yoav Galant. Im November 2024 folgten die Richter*innen des IStGH dem Antrag und erließen Haftbefehle gegen Netanjahu, Galant und Mohammed Deif, der von Israel für tot erklärt wurde. Israel ist kein Vertragsstaat des Gerichts. Da der IStGH keine Polizeivollzugsmacht besitzt, um die Haftbefehle zu vollstrecken, sind alle Staaten gefragt, die den völkerrechtlichen Vertrag, das „Römische Statut“, ratifiziert haben. Sollte eine gesuchte Person das Staatsgebiet eines Mitgliedslandes betreten, müsste sie festgenommen und dem Gericht überstellt werden. Der IStGH hat aktuell 125 Mitgliedstaaten (Stand Januar 2025). Allerdings haben wichtige und mächtige Staaten wie die USA, Russland, China und Israel das Römische Statut bezeichnenderweise nicht ratifiziert.

Zur Rolle Deutsch­lands

Die Bundesrepublik Deutschland hat 2002 das Weltrechtsprinzip übernommen. Mit der Errichtung des Völkerstrafgesetzbuchs wurde sichergestellt, dass die deutsche Justiz gegen die Kernverbrechen des Völkerstrafrechts ermitteln kann. Danach können Völkerstraftaten unabhängig vom Tatort und von der Staatsangehörigkeit des*r Täter*in vor nationalen Gerichten verfolgt werden. In diesem Kontext hat die Bundesanwaltschaft unter anderem mehrere Verfahren gegen Mitglieder des syrischen Staatsapparates wegen systematischer Menschenrechtsverletzungen und Foltervorwürfen durchgeführt. Die Umsetzung des Weltrechtsprinzips ist umso bedeutsamer, weil Syrien das Römische Statut nicht ratifiziert und der UN-Sicherheitsrat aufgrund des russischen Vetos kein Verfahren an den IStGH, der eigentlichen Instanz zur Verfolgung von Völkerstraftaten, überwiesen hat.

Weiterhin gehört Deutschland zu den Unterzeichnerstaaten des Römischen Statuts, das am 1. Juli 2002 in Kraft getreten ist. Die (finanzielle) Stärkung und Weiterentwicklung des Völkerrechts sowie die Unterstützung der internationalen Strafjustiz sind seitdem Grundpfeiler deutscher (Außen-)Politik. Andererseits gilt die Unterstützung Israels als fundamentale politische Verpflichtung der Bundesrepublik. Der Terroranschlag der Hamas vom 7. Oktober hat das Existenzrecht Israels negiert.

Bundeskanzlerin Angela Merkel hatte 2008 vor dem israelischen Parlament betont, es sei deutsche Staatsräson, dass die Sicherheit und die Existenz Israels für Deutschland niemals verhandelbar sei. Insofern hat die Bundesregierung unmittelbar nach dem Attentat zurecht den israelischen Anspruch auf Selbstverteidigung unterstützt. Doch: Völkerrecht geht über Staatsräson. Die Universalität der Menschenrechte gebietet es, sich insbesondere für die Bedürfnisse der palästinensischen Zivilbevölkerung einzusetzen, die in extremer Weise von Zerstörung, Vertreibung, Hunger und Tod betroffen ist. Eine wirklich wertegeleitete, menschenrechtsbasierte deutsche Außenpolitik muss frei von Doppelstandards sein (vgl. Othman 2023).

Besonders problematisch in diesem Kontext sind deutsche Waffenlieferungen an Israel. Sowohl nach dem internationalen Waffenhandelsvertrag ATT (Arms Trade Treaty) als auch nach dem deutschen Kriegswaffenkontrollgesetz darf die Bundesregierung keine Rüstungsexporte genehmigen, wenn ein Risiko besteht, dass diese das humanitäre Völkerrecht oder die Menschenrechte gefährden. Mit dem Inkrafttreten des ATT im Dezember 2014 wurden erstmals international verbindliche Regeln für den Handel mit konventionellen Rüstungsgütern festgelegt. Er erstreckt sich auf Panzer, bewaffnete Fahrzeuge, schwere Artilleriesysteme, Kampfflugzeuge und -hubschrauber, Kriegsschiffe, Raketen und Raketenwerfer sowie auf kleine und leichte Waffen. Bis heute haben 135 Staaten den Vertrag unterzeichnet. Die Vertragsstaaten sind seitdem verpflichtet, vor einer Exportgenehmigung zu prüfen, ob mit den Waffen schwere Verletzungen der internationalen Menschenrechtsnormen begangen oder erleichtert werden können. In diesem Kontext hat das European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR) Klage gegen deutsche Waffenlieferungen an Israel eingereicht. Weiterhin hat Nicaragua im März 2024 Deutschland vor dem IGH verklagt. Der inhaltliche Kern der Klage besteht im Vorwurf, dass Deutschland zwar nicht selbst einen möglichen Genozid im Gazastreifen verübt, aber Beihilfe dazu leiste. Allerdings sollte ein Waffenexportverbot die Verteidigungsfähigkeit Israels gegen Bedrohungen wie durch Raketenbeschuss nicht einschränken.

„Deutschland hat eine historische Verantwortung, die sich in erster Linie aus den deutschen Menschheitsverbrechen des Holocaust und den deutschen Angriffskriegen des 20. Jahrhunderts ergibt. Aufgrund der historischen Verkettung der beiden Katastrophen – der Shoah und der Nakba – und ihrer Wurzeln im modernen Antisemitismus und europäischen Imperialismus gibt es auch eine deutsche (und europäische) Mitverantwortung für die Vertreibung und Enteignung der Palästinenser*innen.“ (Asseburg 2023: 52)

Die Bundesrepublik Deutschland steht auf der richtigen Seite der Geschichte, wenn sie sich für eine stärkere Achtung und Fortentwicklung des Völkerrechts einsetzt – auch und gerade gegenüber befreundeten Staaten.

Zur Bedeutung des Völker­rechts

Die Weiterentwicklung des humanitären Völkerrechts ist häufig eine Folge von Kriegserfahrungen. So führten die Beobachtungen Henry Dunants, dem Mitbegründer des Internationalen Komitees des Roten Kreuz, bei der Schlacht von Solferino zum ersten Genfer Abkommen 1864 der Verbesserung des Schicksals der verwundeten Soldaten der Armeen im Felde. Es waren die systematischen Giftgaseinsätze im Ersten Weltkrieg, die 1925 zum Genfer Protokoll und zu einem Verbot des Einsatzes biologischer und chemischer Kampfmittel führten. Die unbeschreiblichen Grausamkeiten des Zweiten Weltkriegs mit weit über 60 Millionen Toten führten 1949 zur Verabschiedung der vier Genfer Konventionen, dem Kernbestand des heutigen humanitären Völkerrechts, verbunden mit der Schaffung einer neuen Kategorie zum Schutz der Zivilbevölkerung. Neuere Entwicklungen wie autonome (KI-basierte) Waffensysteme, asymmetrische, nichtstaatliche Kriege (vgl. Münkler 2004) oder Kriege im Cyber Space machen eine ständige Weiterentwicklung des humanitären Völkerrechts nötig. Von daher ist das Völkerrecht nicht das einzige und schon gar kein perfektes Instrument, um militärische Konflikte zu lösen, weil sie erst im Nachhinein greifen und keine große präventive Wirkung entfalten. Doch Krieg darf nicht im rechtsfreien Raum stattfinden. Eine juristische Aufarbeitung kann politische Lösungen nicht ersetzen, doch wenn Staaten und verantwortliche Personen damit rechnen müssen, für ihre Taten rechtlich belangt zu werden, könnte dadurch eine gewisse abschreckende Wirkung erzielt werden.

Das Völkerrecht als Säule einer regel­ba­sierten Weltordnung

Während im privaten Rechtsbereich die Selbstjustiz zugunsten einer richterlichen Rechtsprechung überwunden wurde, wird sie im zwischenstaatlichen Bereich noch wesentlich häufiger praktiziert. Solange es der Menschheit nicht gelingt, politisch Verantwortliche vor Gericht zu bringen, werden Akte der (militärischen) Selbstjustiz bestehen bleiben. Nur wenn das Recht auf einem starken, international legitimierten Rechtssystem basiert, wird es in der Lage sein, Racheakte und Selbstjustiz entschiedener zu verhindern. In diesem Kontext ist es von größter Bedeutung, dass die westlichen Staaten die Existenz von Doppelstandards nicht länger ignorieren. Die Instrumente des Völkerrechts dürfen nicht nur bei afrikanischen Militärs oder Putin angewendet werden, sondern auch bei Menschenrechtsverstößen befreundeter Staaten. Solange China auf Guantanamo verweisen kann, wird es keine universelle Gültigkeit von menschenrechtlichen (Mindest-)Standards geben, im Gegenteil: Das humanitäre Völkerrecht wird weiter ausgehöhlt, und es läuft Gefahr weiter zu erodieren, nach dem Motto: Beachtung menschenrechtlicher Standards nur solange sie den eigenen Interessen dienen. Nur wenn die westlichen Staaten im Hinblick auf den Gazakrieg viel stärker als bisher auf die Einhaltung völkerrechtlicher Prinzipien bestehen, wird deren Glaubwürdigkeit nicht noch weiter untergraben. Ansonsten könnten sich die Vorwürfe vieler Länder, insbesondere des Globalen Südens, der Westen würde die von ihm vertretenen außenpolitischen Werte lediglich selektiv anwenden, zu langfristigen Belastungen für die internationale Zusammenarbeit entwickeln. Die selektive Anwendung des Rechts durch den Westen ist eine Gefahr für die Glaubwürdigkeit des globalen Rechtssystems (vgl. Samour 2023; Kaleck 2012). Solange sich verschiedene Staaten in Hinblick auf ihre sicherheitspolitischen Interessen und staatlichen Souveränitätsansprüche nicht einschränken lassen wollen und dadurch eine supranationale Institution zur Rechtsetzung oder Rechtsdurchsetzung verhindern, werden sich Kriege nicht wirklich humanisieren oder verhindern lassen.

Dennoch ist das humanitäre Völkerrecht ein wesentlicher Grundpfeiler einer regelbasierten, wertegeleiteten Weltordnung, und es bleibt weiterhin eine wichtige politische Aufgabe, dem humanitären Völkerrecht zu mehr Gewicht und zu größerer Achtung zu verhelfen. Denn ohne das humanitäre Völkerrecht wäre die Welt noch viel grausamer. Wird das Völkerrecht jedoch weiter geschwächt und ausgehöhlt oder gar mit Sanktionen bedroht (wie durch US-Präsident Trump) ist der Versuch, die Weltordnung auf einem regelbasierten Fundament zu errichten, endgültig Geschichte. Es bedeutet den Beginn einer Epoche des Rechts des Stärkeren. Die Herrschenden dieser Welt werden sich in einem noch deutlich stärkeren Maße nach ihren Interessen und ohne Rücksichtnahme Gebiete oder gar Länder einverleiben und Rohstoffe weltweit ausbeuten.

 

Manfred Pappenberger Jahrgang 1958, Diplom-Pädagoge, studierte Erziehungswissenschaft, Soziologie, Psychologie und Kriminologie an der Otto-Friedrich-Universität Bamberg. Von 1990 bis bis zu seiner Rente im Jahr 2024 war er Dozent für politische Bildung am Bildungszentrum Bad Staffelstein.

 

Literatur

Asseburg, Muriel 2023: 75 Jahre nach der Nakba. Die Katastrophe dauert an, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, H. 18-19, S. 46-52.

Butler, Judith 2023: Die Gräueltaten waren entsetzlich, in: Frankfurter Rundschau vom 17.11.2023.

Feest, Johannes 2024: Zum Rechtsgutachten des Internationalen Gerichtshofs: Die Besetzung der palästinensischen Gebiete „so schnell wie möglich“ beenden, in: Humanistische Union vom 22.07.2024, https://www.humanistische-union.de/pressemeldungen/zum-rechtsgutachten-des-internationalen-gerichtshofs-die-besetzung-der-palaestinensischen-gebiete-so-schnell-wie-moeglich-beenden/.

Gössner, Rolf 2024: War and Justice oder die Ungleichheit vor dem Völkerrecht, in: vorgänge. Zeitschrift für Bürgerrechte und Gesellschaftspolitik, Nr. 247/248 = Jg. 63, H. 3-4, S. 227-233.

Kaleck, Wolfgang 2012: Mit zweierlei Maß. Der Westen und das Völkerstrafrecht, Berlin.

Lucke, Albrecht von 2024: Schicksalsjahr 2024. Putin, Hamas, Trump und die Logik der Zerstörung, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Jg. 69, H. 1, S. 35-42.

Marwecki, Daniel 2024: Absolution? Israel und die deutsche Staatsräson, Bonn.

Münkler, Herfried 2004: Die neuen Kriege, Reinbek.

Othman, Riad 2023: Doppelstandards, in: medico-Rundschreiben Nr. 2.

Paul, Gerhard 2009: Kriegsbilder – Bilderkriege, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, H. 31, S. 39-46.

Poppe, Judith 2022: Regierungsbildung in Israel: Regierung der Theokraten, in: taz vom 29.12.2022.

Samour, Nahed 2023: Zur postkolonialen Kritik der Menschenrechte, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, H. 49-50, S. 12-18.

Watzlawick, Paul/Beavin, Janet H./Jackson, Don D. 1990: Menschliche Kommunikation. Formen, Störungen, Paradoxien, 8. Aufl., Bern/Stuttgart/Toronto.

Wiedemann, Charlotte 2023: Über die Nakba sprechen lernen, in: Geschichte der Gegenwart vom 16.04.2023, https://geschichtedergegenwart.ch/ueber-die-nakba-sprechen-lernen/.

Anmerkungen:

i Die israelische Staatengründung resultierte aus dem Teilungsbeschluss der Vereinten Nationen des ehemaligen britischen Mandats Palästina von 1947 als völkerrechtlich bindendes Instrument.

ii Die Entscheidung der UN fiel mit 87 Ja- zu 26-Nein-Stimmen (darunter Israel, USA und Deutschland) bei 53 Enthaltungen aus. Der IGH berücksichtigt keine Ereignisse, die sich nach dem 30. Dezember 2022 ereignet haben.

iii Der vollständige Text des Gutachtens ist abrufbar unter: https://www.icj-cij.org/node/204160.

iv Yahya Sinwar, Chef der Hamas in Gaza, getötet am 16. Oktober 2024 in Rafah, Ismail Haniyeh, Chef des politischen Büros der Hamas, getötet am 31. Juli 2024 in Teheran, und Mohammed Deif, Chef des militärischen Flügels der Hamas, mutmaßlich getötet am 13. Juli 2024 in Chan Yunis.

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