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Rezension: Die Mär von der Gemein­wohl­dien­lich­keit der Kirchen

Schüller, Thomas: Unheilige Allianz. Warum sich Staat und Kirche trennen müssen, Hanser 2023, 207 S., 22,00 €.

Obwohl das Grundgesetz seit 1949 eine weitgehende Trennung von Staat und Kirchen vorschreibt, ist der Staat mit der evangelischen und katholischen Kirche weiterhin eng verbunden. Dabei verlieren die Kirchen sowohl an Mitgliedern – 2023 waren nur noch 47 Prozent der Bevölkerung Mitglied der römisch-katholischen oder evangelischen Kirche (Forschungsgruppe Weltanschauungen in Deutschland 2024) – als auch an Vertrauen in der Bevölkerung.

Über dieses Missverhältnis schreibt Thomas Schüller in seinem 2023 erschienenen Buch Unheilige Allianz. Warum sich Staat und Kirche trennen müssen ebenso lebendig wie kritisch. Schüller ist selbst Mitglied in der katholischen Kirche und Professor für kanonisches Recht an der Universität Münster. Es geht ihm um

„eine Bestandsaufnahme einer Allianz, die schon lange nicht mehr heilig ist, weil Politik und Kirchen immer weiter auseinanderdriften, gleichzeitig aber durch vielfältige institutionelle Verflechtungen auf Gedeih und Verderb aufeinander angewiesen sind“ (S. 11).

Sein Fokus liegt auf der katholischen Kirche. Seine Ausgangsthese lautet, dass trotz ihres Bedeutungs- und Vertrauensverlustes den beiden großen christlichen Kirchen in Deutschland vom Staat ein zu großer Spielraum bei der Ordnung ihrer inneren Angelegenheiten eingeräumt werde, insbesondere was das Arbeitsrecht und die Aufarbeitung von sexuellem Missbrauch angehe. In der Bildungs- und Sozialpolitik könnten die Kirchen immer noch erheblichen Einfluss auf den Staat ausüben. Die Politik fürchte den Tag, an dem sich die Kirchen aus Bildung und Pflege zurückzögen, da dann der Staat selbst oder andere freie Träger diese Aufgaben übernehmen müssten (S. 13/40).

Zunächst erläutert der Autor die verfassungsrechtliche Situation: Durch Art. 140 GG sind die kirchenbezogenen Artikel der Weimarer Reichsverfassung (Art. 136-141 WRV) Bestandteil des GG geworden. Den Kirchen blieb dadurch der Status einer Körperschaf des öffentlichen Rechts erhalten, und zugleich wurde er auch für andere Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften geöffnet. Mit diesem Status ist sowohl das Recht verbunden, Kirchensteuern zu erheben, als auch die eigenen Angelegenheiten innerhalb des für alle geltenden Gesetzes zu ordnen und zu verwalten. Dieses Privileg der Kirchen sei mit der Erwartung verknüpft gewesen, dass sie gemeinwohldienlich seien. Das habe 1949 ihrer damaligen gesellschaftspolitischen Rolle entsprochen: 90 Prozent der Bevölkerung war Mitglied in einer der beiden Kirchen. Angesichts des Mitgliederschwundes und der Missbrauchsskandale sei eine so weitreichende Autonomie aber nicht mehr akzeptabel. (S. 21-29)

Anschließend stellt Schüller dar, dass die Kirchen in nahezu allen gesellschaftlichen Bereichen staatliche Aufgaben übernehmen: Sie betreiben Schulen, Kindergärten, Krankenhäuser, Kinderhospize und versorgen Obdachlose. Die Fortführung dieses Engagements sei aber unter den katholischen Bischöfen umstritten: Während eine Minderheit nur noch Einrichtungen betreiben wolle, die einschließlich des Personals in Gänze katholisch ausgerichtet seien, wolle eine Mehrheit durch die kirchlichen Einrichtungen im Bildungs- und Fürsorgebereich den christlichen Geist in die Welt tragen (S. 31-36).

Danach erläutert der Autor, dass die Kirchen lange im Arbeitsrecht vom staatlichen Recht abweichen konnten, ohne dass staatliche Gerichte das beanstandeten. So konnten die kirchlichen Träger gemäß der katholischen Sexual- und Morallehre homosexuellen Arbeiternehmer*innen ebenso wie solchen, die sich scheiden ließen und wieder heirateten, kündigen. Dieser diskriminierende Umgang mit Arbeitnehmenden musste aber aufgrund von Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofes 2018 geändert werden. Der EuGH entschied in den Fällen der Kündigung eines Chefarztes nach dessen Wiederheirat (Urteil vom 9.11.2018, C-68/17) und der Nichtbeschäftigung einer konfessionslosen Bewerberin durch die Diakonie (Urteil vom 17.4.2018, C-414/16), dass der Arbeitgeber unzulässig diskriminiert hätte. Infolgedessen hätte die katholische Kirche 2023 eine neue Grundordnung verabschiedet, der zufolge zwar sexuelle Vielfalt akzeptiert werde, der Kirchenaustritt aber als kirchenfeindliches Verhalten weiterhin zur Kündigung führen könne. Dagegen fordert die Bundesbeauftragte für Antidiskriminierung, Ferda Ataman, dass auch ein Kirchenaustritt kein Kündigungsgrund sein dürfe und im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz das Kirchen-Privileg in § 9 gestrichen werde (S. 72-74).

Ebenso kritisiert Schüller das kollektive Arbeitsrecht der Kirchen. Auf diesem „dritten Weg“ werden die Arbeitsbedingungen nicht durch Tarifverträge, sondern durch paritätisch besetzte arbeitsrechtliche Kommissionen festgelegt, während außerhalb der Kirchen die Arbeitsbedingungen durch die Tarifparteien (zweiter Weg) und individuelle Arbeitsverträge (erster Weg) festgelegt werden. Kirchliche Beschäftigte haben deshalb kein Streikrecht. Das Bundesarbeitsgericht urteilte jedoch 2012, dass das Streikrecht nur ausgeschlossen werden dürfte, wenn die Gewerkschaften an den kirchlichen Kommissionen zur Aushandlung der Arbeitsbedingungen beteiligt würden (Urteil v. 20.11.2012, Az: 1 AZR 179/1; vgl. auch BVerfG, Beschluss v. 15.7.2015, 2 BvR 2292/13).

Der Gesetzgeber hat das kirchliche Sonderarbeitsarbeitsrecht bislang – entgegen der Ankündigung im alten Koalitionsvertrag von SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen – nicht geändert. Noch immer sind die Kirchen von der Geltung des für das kollektive Arbeitsrecht wesentlichen Betriebsverfassungsgesetzes ausgenommen (§ 118). Der Autor nimmt an, dass die Parteien am arbeitsrechtlichen Sonderstatus der Kirchen nicht rütteln, weil sie deren Rückzug vom Sozial- und Bildungsmarkt fürchten (S. 55).

Vehement kritisiert Schüller zudem die mangelhafte Aufklärung der Kirchen zum sexuellen Missbrauch. Über Jahrzehnte haben Priester und Pastoren, Ordensleute, Lehrer und Erzieher Kinder und Jugendliche sexuell missbraucht. Die zahlreichen Gräueltaten wurden der breiten Öffentlichkeit erst bekannt, nachdem der Jesuit Klaus Mertes als damaliger Leiter des Canisiuskollegs in Berlin die dortigen Missbrauchsfälle öffentlich machte und ehemalige Schüler*innen dazu aufrief, Missbrauchsfälle zu melden.

Schüller schreibt, dass die Kirchenoberen – einschließlich Papst Johannes Paul II und Benedikt XVI – lange die Täter durch Versetzung in andere Gemeinden geschützt hätten (S. 86/89). Obwohl der sexuelle Missbrauch in der katholischen Kirche nach kanonischem Strafrecht als Verstoß gegen das Zölibat strafbar sei, seien die Täter milde behandelt und selten verfolgt worden (S. 88f./96). Zwar zahlten die Kirchen Opfern Entschädigungen, deren Höhen seien aber eher niedrig, und sie erfolgten ohne Anerkennung einer Rechtspflicht (S. 112). Unverständlich bleibe, warum die staatlichen Strafverfolgungsbehörden nicht konsequenter den Missbrauch in kirchlichen Einrichtungen aufdeckten und verfolgten, obwohl Religionsgemeinschaften an das staatliche Strafrecht gebunden seien. Strafverfolgungsbehörden hätten Sexualstraftäter in den kirchlichen Reihen lange milde behandelt – im Vertrauen darauf, dass die Kirchen sich selbst um diese kümmern würden. Immer noch zögerten Staatsanwaltschaften, Akten der Kirchen zum sexuellen Missbrauch zur Tataufklärung zu beschlagnahmen (S. 100-102). Wünschenswert wäre in diesem Kapitel gewesen, dass der Autor die angedeutete Gewalt durch kirchliche Frauen – Ordensschwestern, Erzieherinnen etc. – gegenüber Schutzbefohlenen (S. 77) noch näher ausgeführt hätte. Zudem fehlen Informationen darüber, wie das kanonische Strafrecht sexuelle Handlungen von Nicht-Klerikern thematisiert.

In zwei weiteren Kapiteln thematisiert Schüller die staatliche Förderung der Kirchen ebenso wie verschwenderische Ausgaben von Bischöfen wie Tebartz-van Elst, die vom Staat nur zögerlich als Untreue strafrechtlich verfolgt werden (S. 135ff.). Der Staat zahlte 2024 mehr als 618 Millionen Euro Dotationen ohne Gegenleistung an die beiden Kirchen (Haupt 2024). Der Grund für diese Staatsleistungen wurde 1803 durch den Reichsdeputationshauptschluss als Folge der Enteignung von circa 10.000 Quadratkilometern der Kirchen gelegt. Das Grundgesetz schreibt die Ablösung dieser Leistungen vor (S. 119). Aber auch in der 20. Legislaturperiode des Bundestags scheiterte ein Ablösegesetz am Widerstand der Bundesländer, die sich gegen die Ablösesummen wehren (S. 127). Hier übersieht Schüller die Forderung der Humanistischen Union (2011), dass die Staatsleistungen ablösefrei beendet werden könnten, weil die Enteignungen durch Gesamtzahlungen in Höhe von 21 Milliarden Euro (Stand: 2024) schon lange abgegolten sind.

Zudem treibt der Staat die Kirchensteuer ein. Zwar werde er dafür von den Kirchen bezahlt; dass Kirchensteuersystem sei europaweit aber einzigartig. Kirchen wie Staat begründeten dessen Erhalt mit der kirchlichen Beteiligung an staatlichen Aufgaben wie dem Betreiben von Schulen, Kitas, oder Pflegeheimen. Zugunsten der Kirchen argumentiert Schüller, dass die Kosten der Einrichtungen nicht vollständig vom Staat finanziert werden, sondern jeweils ein Eigenanteil zu erbringen sei (S. 130-133).

Hier liegt ein Schwachpunkt des Buches: Wenn die Allianz von Staat und Kirchen geändert werden soll, muss das Argument der Gemeinwohldienlichkeit (S. 175) ebenso wie die Trägerlandschaft im Bildungs- und Sozialsektor genauer untersucht werden: Wie werden Aufträge zur Erfüllung staatlicher Sozialaufgaben vergeben? Wie hoch sind Zuwendungen an die freien Träger? Wie hoch sind die Eigenanteile? Welche gesetzlichen Änderungen wären notwendig, um die privilegierte Stellung der Kirchen im sozialen Bereich zu ändern? Etwa sind kirchliche Träger per se anerkannte Träger der freien Jugendhilfe, während andere Träger erst ein Anerkennungsverfahren durchlaufen müssen (§ 75 SBG VIII). Durch einen genaueren Blick auf diese Aspekte ließe sich besser beurteilen, ob der Staat jenseits des verfassungsrechtlichen Auftrags zur Trennung von den Kirchen auch einen gesellschaftspolitischen oder finanziellen Nutzen von dieser Trennung hätte.

Wünschenswert wäre zuletzt eine vertiefte Befassung mit dem Kirchenasyl gewesen (siehe aber S. 187). Wenn die Sonderrechte der Kirchen konsequent beseitigt würden, müsste der Erhalt dieses kirchlichen Privilegs neu begründet werden; und zwar möglicherweise mit der menschenrechtlich notwendigen Korrektur der asylrechtlichen Verfahren.

Ein paar Literaturbelege mehr und ein paar Wiederholungen weniger hätten die Qualität des Buches noch gehoben. Aber auch so liefert Schüller einen ebenso umfassenden wie lebendigen Eindruck der aktuellen Kooperation von Staat und Kirchen.

Kirsten Wiese

Zusätzlich verwendete Literatur

Forschungsgruppe Weltanschauungen in Deutschland 2024: Entwicklung der Kirchenmitglieder 1992-2023, in: FOWID-Online vom 07.07.2024, https://fowid.de/meldung/entwicklung-kirchenmitglieder-1992-2023.

Haupt, Johann-Albrecht 2024: Staatsleistungen der Länder an die Kirchen (Stand: 2024), in: vorgänge. Zeitschrift für Bürgerrechte und Gesellschaftspolitik, Nr. 244 = Jg. 62, H. 4, S. 167-175.

Humanistische Union 2011: Entwurf eines „Gesetzes über die Grundsätze zur Ablösung der Staatsleistungen an die Kirche“, Berlin.

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