Rezension: Chancen verpasst: Das Verhältnis des Westens zum postsowjetischen Russland.
Bluhm, Katharina: Russland und der Westen. Ideologie, Ökonomie und Politik seit dem Ende der Sowjetunion, 2. Aufl., Matthes & Seitz 2024, 490S., 34,00 €.
Katharina Bluhm, Professorin für Soziologie mit dem Schwerpunkt Osteuropa an der Freien Universität Berlin, war bei Aufnahme ihrer Arbeit am Buch eine Kritikerin der im Westen verbreiteten „Putinologie“. Diese sieht die Entwicklung Russlands wesentlich als Werk eines Mannes, der mit kleiner Gefolgschaft die Macht an sich gerissen habe. Ironisch-kritisch notiert Bluhm: „Jetzt tummeln sich auf dem Büchermarkt schlanke Schriften über die Imperiums- und Gewaltgeschichte Russlands von Iwan dem ‚Schrecklichen‘ bis Putin ‚dem Entrückten‘“ (S. 383) Diese „Putinologie“ habe den Blick auf Russland verengt.
Es sind allerdings nicht nur „schlanke Schriften“, die sich auf dem Buchmarkt „tummeln“. Hier seien erwähnt Gwendolyn Sasse, die eine Gesamtschau der Bedingungsfaktoren des Krieges gegen die Ukraine liefert. Zu nennen sind auch Michael Thumanns Revanche. Wie Putin das bedrohlichste Regime der Welt geschaffen hat (2023), Sabine Fischers Die chauvinistische Bedrohung. Russlands Kriege und Europas Antworten (2023) oder auch Gesine Dornblüths und Thomas Frankes Jenseits von Putin. Russlands toxische Gesellschaft (2023).
Bluhms Arbeit bewegt sich im Feld der historischen Soziologie. Das heißt, sie hat sich die Aufgabe gestellt,
„eine wichtige ideologische Strömung Rußlands nach 1989 im Kontext sozioökonomischer Entwicklung und politischer Ereignisse zu betrachten sowie deren Einfluss auf die schrittweise Herausbildung einer neuen Staatsideologie und eines oligarchischen Staatskapitalismus zu analysieren“ (S. 11).
Diese kritische Analyse sei wichtig, da man ohne sie weder die „direkte und indirekte Beteiligung des ‚Westens‘ an der neuerlichen Abkehr Russlands von ihm“ begreifen noch einen Zugang zu dem finden kann, was nach Putin kommen wird (S. 383).
Das Buch gliedert sich in vier Kapitel: Liberalismus in Jelzins hybridem Regime, die konservative Gegenbewegung, politische Motive, Ideen und Konzepte und Metamorphosen des russischen Staatskapitalismus. Unter dem Eindruck der russischen Großinvasion in die Ukraine hat die Autorin ein weiteres Kapitel angefügt, das klären will, „inwieweit der Kriegsführungsstaat eine neuerliche Metamorphose des russischen Staatskapitalismus bedeutet“ (S. 25). Das Verständnis von „Westen“ meint heute aus russischer Sicht „weder die Länder Europas noch die USA an sich, sondern die sie verknüpfende komplexe transnationale Struktur“, die es den USA erlaubt, als globaler Hegemon zu agieren (S. 8). Die Europäische Union wie die NATO gehören zu dieser Struktur.
Von der „Chaos-Dekade“ zum „illiberalen Konservatismus“
Beim Versuch, auf den Trümmern der sowjetischen Planwirtschaft eine leistungsfähigere marktregulierte Wirtschaft zu errichten, folgten Präsident Boris Jelzin und Ministerpräsident Egor Gaidar den neoliberalen Empfehlungen des Washington Consensus. Dieser bezieht sich auf die in Washington ansässigen Organisationen der internationalen Entwicklungspolitik, die Finanzhilfen an bestimmte Bedingungen geknüpft hatten (S. 35). Dementsprechend wurden in Russland Staatsbetriebe privatisiert, die Preise freigegeben, der Binnenmarkt und der Außenhandel liberalisiert. Die Politik der „Schocktherapie“ endete schließlich im russischen Staatsbankrott von 1998. Die Schocktherapie, so hat Jelzin später formuliert, sei eine „Notoperation ohne Narkose“ gewesen (S. 70).
Diese Liberalisierung der Wirtschaft und der Übergang zur Demokratie unter Jelzin waren in Russland mit Hyperinflation und dem sozialen Niedergang weiter Bevölkerungsteile verbunden – während Profiteure des Umbruchs als Oligarchen ungeheuren Reichtum anhäuften.
Die 1990er Jahre prägten in Russland somit die Erfahrungen mit Liberalismus und Demokratie. Sie waren
„das Laboratorium für die illiberal-konservative Gegenbewegung zu Liberalismus und Westintegration. Diese Bewegung, beginnend in den 2000er Jahren, nahm sukzessive Gestalt an und war eine breite gesellschaftlich-politische Bewegung, die nicht einfach von oben, einer Person oder einem kleinen Kreis von Leuten mit ein paar Spindoktoren ausging“ (S. 12).
Der neue russische Konservatismus
Der neue russische Konservatismus lebte von einem Zerrbild des Liberalismus und der Globalisierung. Dies war aber nicht nur Ergebnis dieser Erfahrungen, sondern hat mit einer Dominanz eines spezifischen (Neo-)Liberalismus zu tun, der durch Antikommunismus und Antietatismus geprägt war. Die „Überrumpelung“ der Gesellschaft im Zuge der Transformation von der Plan- zur Marktwirtschaft suggerierte Zeitknappheit und Alternativlosigkeit, die wichtige langsamere Wege und Schritte des Umbaus der Wirtschaft verhinderten und die neu geschaffenen demokratischen Institutionen beschädigten (S. 384).
Es ist verdienstvoll, dass Bluhm eine Darstellung all jener Strömungen und deren Träger leistet, die zeitgenössisch um die Haltung zur nationalen Frage, um die angemessene Wirtschaftspolitik und die „geopolitische Identität Russlands“ miteinander rangen (S. 121). Dazu gehörten sogenannte Neo-Eurasier*innen, großrussische Nationalist*innen, russische Ethnonationalist*innen, orthodoxe Imperialist*innen, Monarchist*innen, Nationalbolschewist*innen oder auch patriotische Kommunist*innen. Dazu kam die russisch-orthodoxe Kirche, die die Universalität der Menschenrechte ablehnte und sich stattdessen für die Verteidigung „traditioneller Werte“ stark machte. Für diese Strömungen war klar, dass Jelzin und die Reformer ausgedient hatten, liberale Vorstellungen für Russland schädlich waren und Russland Großmacht sein und bleiben müsse.
Das Werben um den Westen
Putin galt anfangs als Pragmatiker und nicht als Antiwestler. Er war an einer Annäherung an die USA und einer Zusammenarbeit mit der EU interessiert. Die Idee des Freihandels von Lissabon bis Wladiwostok – das Konzept von Großeuropa – war in seiner ersten Amtszeit (2000-2004) präsent und wurde in Russland intensiv diskutiert, im Westen dagegen kaum, so Bluhm.
Im Aufsatz Russland an der Jahrtausendwende von 1999 kündigte Putin an, die „ideologische Spaltung des Landes“ überwinden zu wollen (S. 171). Damit hat er, so Bluhm, eine ideologische Neuausrichtung der russischen Eliten formuliert. Er betont, dass Russland seinen eigenen Weg finden müsse, um mit den USA und China mithalten zu können. Das setze einen „starken Staat“ als „Haupttriebkraft jeder Veränderung“ voraus. Der russische Weg sollte „keine Alternative zur liberalen Marktwirtschaft und keine Abkopplung vom Westen bedeuten“ (S. 171). Putin lehnte kategorisch eine „Staatsideologie“ ab. Er galt als „liberaler Konservativer“ mit Interesse am US-amerikanischen Konservatismus.
Nach dem 11. September 2001 bot sich Putin „als gleichberechtigter Partner im Kampf gegen den globalen Terrorismus an der Seite der USA an“ (S. 174). In seiner Rede vor dem Deutschen Bundestag, 14 Tage nach dem 11. September, bezeichnete Putin Russland als europäisches Land und warb für eine enge Zusammenarbeit:
„Niemand bezweifelt den großen Wert der Beziehungen Europas zu den Vereinigten Staaten. Aber ich bin der Meinung, dass Europa seinen Ruf als mächtiger und selbständiger Mittelpunkt der Weltpolitik langfristig nur festigen wird, wenn es seine eigenen Möglichkeiten mit den russischen menschlichen, territorialen und Naturressourcen sowie mit den Wirtschafts-, Kultur- und Verteidigungspotentialen Russlands vereinigen wird.“ (S. 174)
In der Rückschau ist es erklärungsbedürftig, was sich zwischen Putins Positionen 2001 und dem Angriff auf die Ukraine 2022 ereignet hat.
Die Abwendung vom Westen
Die Annäherung an die USA und die Zusammenarbeit mit der EU sind von einer in Stufen erfolgenden Eskalationsdynamik abgelöst worden, die mit innen- und außenpolitischen Ereignissen verbunden war. Die Orangene Revolution in der Ukraine 2004, die einsetzende Westorientierung der Ukraine und die Ausweitung von NATO und EU, verbunden mit dem nur zögerlichen Eingehen des Westens auf das Projekt Großeuropa, führten zur Enttäuschung und Entfremdung der russischen Eliten und auch Putins gegenüber dem Westen.
Auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2007 ging Putin mit der US-amerikanischen unilateralen Außenpolitik ins Gericht, die souveräne Außenpolitik Russlands betonend. Die Open-Door-Politik der USA und Großbritanniens gegenüber Georgien und der Ukraine auf dem NATO-Gipfel in Bukarest 2008, der mit einer prinzipiellen Beitrittszusage ohne Datum endete, führte mehr noch als die Position auf der Münchener Sicherheitskonferenz zu einer „strategischen Neubewertung der Beziehung Russlands zum Westen und war somit ein entscheidender Schritt in dieser Eskalationsgeschichte“ (S. 187).
Die konservative Wende wird Staatsprojekt
„Zum Machtpolitiker gesellte sich nun der Ideologe“, schreibt Bluhm (S. 181) und kennzeichnet damit den Übergang zur „konservativen Wende“ seit 2012, in der eine konservative Bewegung in ein Staatsprojekt transformiert wird. Dieser Staatskonservatismus wird von Putin im Rahmen seiner Kampagne zur Wiederwahl nach Medwedews Interregnum als Präsident (2008-2012) in einer Serie von Artikeln dargelegt.
Der neue Konservatismus erhält somit den „Zulassungsstempel von der höchsten russischen Regierungsspitze und mutiert zu einem Staatsprojekt, das sich klar gegen den Liberalismus positioniert“. Das findet seinen Niederschlag in einem staatlich sanktionierten Kanon „traditioneller Werte“, im Eingang in die Bildungs- und Kulturpolitik, in Gesetzestexten, Strategiepapieren und in die russische Verfassung von 2020. (S. 191f.) Putins offenes Bekenntnis zum russischen Konservatismus ist im Zusammenhang und unter dem Einfluss der konservativen Gegenbewegung zu verstehen, „die nun zu einer wichtigen Stütze seiner Herrschaft wurde“ (S. 192). Die Machtressourcen des russischen Regimes, so Bluhm, beschränken sich nicht auf den Staats- und Sicherheitsapparat sowie die Propagandamaschinerie. Vielmehr nutze das Regime dafür auch „die neue Staatsideologie und den oligarchischen Staatskapitalismus, der den Apparat finanziert“ (S. 387).
Das Echo bei den Rechtspopulist*innen in Europa und bei den amerikanischen Konservativen war entsprechend. Der US-Republikaner Patrick J. Buchanan fragte: „Ist Putin nicht einer von uns?“, und William S. Lind, Trump-Unterstützer, meinte: „Amerikas Konservative sollten die Rückkehr eines konservativen Russlands begrüßen“ (S. 193).
Putin hat die Anti-Maidan-Proteste in Odessa und im Donbass zum Anlass genommen, die Halbinsel Krim 2014 zu besetzen und die ukrainischen Separatist*-innen in der Süd- und Ostukraine zu unterstützen. Sehr früh schon, schreibt Bluhm, habe die Abwendung der Ukraine von Russland zu den zentralen Themen gehört, „an denen sich die ideologische Radikalisierung der illiberal-konservativen Gegenbewegung vollzog“ (S. 385).
Die Nationale Frage und die ökonomische Fundierung des Konservatismus
In der erwähnten Artikelserie von 1999 räumt Putin der russischen Nation eine Sonderstellung in der multinationalen Föderation ein. Sie sei die staatsbildende Nation: „Das heißt, die russische [Nation] ist der Staatsgründer, um dann im Staatsverband als eine Art Primus inter Pares zu fungieren“ (S. 190). Er bezieht sich dabei auf die „russische Kultur“ und das „russische Volk“, die die einzigartige russländische „Zivilisation“ ausmachen. Unausgesprochen zähle Putin die Ukraine und Belarus zur „staatsbildenden“ russischen Nation dazu, meint Bluhm, und zitiert den Präsidenten: „Es ist dieser Kern, den verschiedene Provokateure und unsere Gegner mit aller Macht versuchen, Russland zu entreißen“ (S. 190).
Die konservativen Ideologen waren der Ansicht, dass Russlands Großmachtstatus die Existenz eines eigenen Wirtschaftsraumes im Sinne eines regional erweiterten Binnenmarktes voraussetzen. Russland könne auf Dauer nur souverän bleiben, wenn es ein eigenes Wirtschaftszentrum mit einer starken Peripherie aus Anrainerstaaten aufbaue. Das Wirtschaftszentrum müsse alle Bereiche koordinieren: Ökonomie, Handel, Finanzen, Recht, Politik sowie Diplomatie und Ideologie. Versuche des Westens, das „nahe Ausland“ aus dem Orbit Russlands herauszulösen, begreifen daher die Ideologen „als Leugnung des Existenzrechts Russlands und damit im wahrsten Sinne des Wortes als Kriegserklärung“ (S. 280).
Wer in Bluhms höchst differenzierter und überwältigend detailreicher Darstellung eine bündige Erklärung für den Überfall Russlands auf die Ukraine erwartet, wird diese nicht finden. Man erfährt, dass die Bevölkerung nicht ideologisch gezielt auf einen „vollumfänglichen Krieg“ vorbereitet war und der Staatskapitalismus mit seiner auf Sicherheit bedachten Geld- und Haushaltspolitik zur „Akkumulation von Reserven für die Kriegsführung“ sorgte (S. 357).
Dieser Staatskapitalismus lebt von einem starken Exportsektor bei Erdöl, Erdgas, Getreide und anderen Rohstoffen sowie auf großen, vertikal integrierten Industrieunternehmen und Banken.
Es sei eine Illusion des Westens gewesen, das Putin-Regime mit historisch einmaligen Wirtschaftssanktionen in die Knie zwingen und den globalen Süden politisch gewinnen zu können. Der russische Staatskapitalismus habe sich zumindest kurz- und mittelfristig als flexibler und anpassungsfähiger erwiesen als vermutet. Die Reaktionen auf die westlichen Sanktionen
„haben deutlich werden lassen, dass Russland sowohl für China als auch für den sogenannten Globalen Süden einen unverzichtbaren Akteur darstellt, um Alternativen zu einer vom Westen dominierten Weltwirtschaftsordnung zu schaffen.“ (S. 388)
Skeptisch bleibt die Autorin in Hinblick auf den Erfolg dieser Zukunftsvision Russlands. Sicher sei aber, „dass sich die große Offenheit gegenüber dem Westen, wie sie in weiten Kreisen der russischen Eliten und der Intelligenzija Anfang der 1990er Jahre bestand, nicht wiederholen wird“ (S. 384).
Werner Koep-Kerstin