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Antiter­ror­datei – Staffel 2

Anmerkung zu BVerfG Beschluss vom 10. November 2020

– 1 BvR 3214/15. In: vorgänge Nr. 233 (1/2021), S. 125 – 128

Ende vergangenen Jahres hat das Bundesverfassungsgericht erneut einer Verfassungsbeschwerde gegen das „Gesetz zur Errichtung einer standardisierten zentralen Antiterrordatei von Polizeibehörden und Nachrichtendiensten von Bund und Ländern (Antiterrordateigesetz – ATDG)“ – zumindest in Teilen – stattgegeben. Bereits vor sieben Jahren hatte das Gericht die erste gesetzliche Regelung in einigen Punkten als verfassungswidrig verworfen und eine gesetzlich Neuregelung erzwungen.[1] Die jüngste Entscheidung kommentiert Sebastian Golla.

Die Millen­nia­l-­Datei

Als das gesellschaftliche Leben im Winter 2020/21 stillstand, zog mich kurzzeitig eine Fernsehserie in ihren Bann, die ich zuletzt als Schüler im Jahr 2003 auf RTL 2 verfolgt hatte: In „24 hours“verhindert eine fiktive „Counter Terrorist Unit“ – eine Mischung aus Polizei und Nachrichtendienst – mit teils fragwürdigen Methoden Anschläge und deckt Verschwörungen auf. Eine wichtige Rolle spielt dabei moderne Informationstechnologie: Klobige Funktelefone, Laptops im Aktenkoffer-Format und Datenbanken mit Nutzeroberflächen im früheren Windows Look. Der Computer treibt die Handlung an, die Ermittler*innen hängen „am Tropf der digitalen Maschine“ (Schneider 2007).

So ähnlich wie die Datenbanken in „24 hours“ könnten auch die ersten Ideen für eine Antiterrordatei (ATD) ausgesehen haben. Und es fragt sich, inwiefern die 2006 eingeführte Datei in den frühen 2000er Jahren „hängen geblieben“ ist. Sie ist gewissermaßen ein virtueller „Millenial“ entscheidend geprägt von den Ereignissen dieser Zeit und allen voran den Terroranschlägen vom 11. September 2001, nach denen eine unzureichende informationelle Vernetzung der Sicherheitsbehörden allgemein bemängelt wurde.

Ob die Antiterrordatei zwanzig Jahre nach den auslösenden Ereignissen einen konkreten praktischen Mehrwert bietet, ist zweifelhaft. Dafür spricht, dass die Anzahl der aktuell gespeicherten Datensätze ebenso wie die Zahl der jährlichen Informationsabrufe im fünfstelligen Bereich liegt (BT-Drs. 19/11031, 2 ff.). Der Bundesbeauftragte für den Datenschutz und die Informationsfreiheit stellte allerdings fest, dass die an der ATD beteiligten Behörden die wesentlichen Informationen außerhalb dieser Datei austauschen würden. Sie trüge „letztlich nicht zu einer effektiveren Aufgabenerledigung des BKA bei“ (BfDI 2020, 53). Aus der Praxis sind allerdings auch andere, positivere Einschätzungen zu vernehmen (vgl. BT-Drs. 17/12665 (neu)).

Ausflüge nach Karlsruhe

Dass die Antiterrordatei in der Praxis offenbar jedenfalls im Vergleich zu anderen Informationsressourcen eine geringe Bedeutung hat, steht im Kontrast zu der Aufmerksamkeit, die ihr in der Öffentlichkeit zu Teil wird. Als erster gesetzlich geregelter Fall einer gemeinsamen Informationsressource von deutschen Polizeien und Nachrichtendiensten steht sie unter besonderer Beobachtung und schaffte es nun zum zweiten Mal vor das Bundesverfassungsgericht. In einer ersten Entscheidung vom 24. April 2013 erklärte das Bundesverfassungsgericht die Regelungen zur Antiterrordatei in ihren Grundstrukturen für mit dem Grundgesetz vereinbar, die Ausgestaltung im Detail jedoch für verfassungswidrig (BVerfGE 133, 277). Es leitete aus dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung ein informationelles Trennungsprinzip zwischen polizeilichen und nachrichtendienstlichen Datenbeständen her, wonach personenbezogene Daten zwischen Polizei und Nachrichtendiensten grundsätzlich nicht ausgetauscht werden dürfen (BVerfGE 133, 277 (329). In der nun vorliegenden Entscheidung vom 10. November 2020 (1 BvR 3214/15) befasste sich das Gericht mit neu eingeführten Befugnissen zur komplexen Auswertung von Daten aus der Antiterrordatei. Das Bundesverfassungsgericht erklärte dabei die Befugnis zur Auswertung der Datei für Zwecke der Strafverfolgung in § 6a Abs. 2 Satz 1 ATDG für nichtig. Die übrigen in § 6a ATDG vorgesehenen Befugnisse sah es als verfassungskonform an. Das Ziel dieser Befugnisse ist es, durch die Auswertung der Datenbestände Zusammenhänge zwischen Personen, Gruppen, Institutionen und Gegenständen herzustellen, die durch eine manuelle Auswertung nicht erkennbar wären (vgl. § 6a Abs. 5 Satz 1 ATDG). Als Vorbild für die Regelung diente eine ähnliche Befugnis zur Auswertung der Rechtsextremismusdatei (§ 7 RED-G).[2]

Eingriff und Recht­fer­ti­gung

Das Bundesverfassungsgericht sah in den neuen Befugnissen erhebliche Eingriffe in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG. Der Eingriff durch die Auswertung wiegt besonders schwer, weil operativ tätige Behörden dabei auf nachrichtendienstliche Informationen zugreifen, an die sie ansonsten nicht gelangen könnten (Rn. 105 der Entscheidung). Auch neue Möglichkeiten, komplexe Verknüpfungen zwischen Informationen herzustellen, steigern das Eingriffsgewicht (vgl. schon BVerfGE 115, 320 (350)). Auf diesem Gebiet ist eine rasante technische Entwicklung nachzuvollziehen, die unter anderem den Einsatz von Methoden der künstlichen Intelligenz einschließt. Aufgrund des Gewichts der Eingriffe folgerte das Bundesverfassungsgericht, dass die Datenauswertung einem herausragenden öffentlichen Interesse dienen müsse und daher nur zum Schutz von besonders gewichtigen Rechtsgütern wie Leib, Leben und Freiheit der Person sowie Bestand oder Sicherheit des Bundes oder eines Landes zulässig sei (Rn. 116 der Entscheidung). Aus diesem Grund sah das Gericht die Befugnis zur Auswertung der Antiterrordatei zu Zwecken der Strafverfolgung in § 6a Abs. 2 Satz 1 ATDG als verfassungswidrig an. Für den Bereich der Strafverfolgung forderte es als Anlass einen verdichteten Tatverdacht. Da „zureichende tatsächliche Anhaltspunkte“

(§ 152 Abs. 2 StPO) für einen Eingriff der vorgesehenen Tiefe nicht ausreichten, müssten „konkrete und in gewissem Umfang verdichtete Umstände als Tatsachenbasis für den Verdacht vorhanden sein“ (Rn. 120 der Entscheidung). Diese Anforderung sah das Gerichtin § 6a Abs. 2 ATDG als nicht erfüllt an (Rn. 127 ff. der Entscheidung). Die dort vorgesehene Voraussetzung, dass die Nutzung der Daten „im Einzelfall erforderlich ist, um weitere Zusammenhänge des Einzelfalls aufzuklären“, liegt weit im Vorfeld eines verdichteten Tatverdachts, wie ihn das Gericht gefordert hatte.

Was bleibt

Ob die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts für die Antiterrordatei selbst erhebliche Folgen haben wird, erscheint offen. Die zur Diskussion stehenden Datenauswertungen werden in der Praxis noch gar nicht durchgeführt. Es fehlt an der notwendigen Technik (Rn. 7 der Entscheidung). Die Entscheidung hat allerdings direkte Auswirkungen auf andere Befugnisse zur Datenauswertung. Weitgehend übertragbar ist sie auf § 7 RED-G, der die erweiterte Nutzung von Daten regelt, die in der Rechtsextremismus-Datei gespeichert sind. Die Ausführungen zur Eingriffsintensität und Anlassschwelle sind aber teilweise auch auf Befugnisse für komplexe Datenauswertungen in den Polizeigesetzen (§ 25a HSOG und § 49 HmbPolDVG) übertragbar (Golla 2021, 670 f.).

Der Beschluss ist schließlich von Interesse für zukünftige Anwendungen zur komplexen Datenauswertung im gesamten Sicherheitsbereich. Das Interesse der Sicherheitsbehörden an dem Einsatz neuer technischer Hilfsmittel zur Verknüpfung ihrer

Datenbestände hat in den letzten Jahren stark zugenommen. Dabei liegt ein besonderes Augenmerk auf Methoden künstlicher Intelligenz. Diese werden etwa bei der Auswertung von öffentlich zugänglichen Inhalten sozialer Medien oder bei der intelligenten

Videoüberwachung bereits erprobt und eingesetzt (vgl. im Überblick Rademacher/Perkowski 2020, 714 f.). Es ist notwendig, konkrete rechtliche Grenzen für entsprechende Technologien zu entwickeln. Dies hat jüngst auch das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil zum BND-Gesetz angedeutet (BVerfG Urteil vom 19. Mai 2020 – 1 BvR 2835/17 Rn. 192). Dazu gehört auch die Festlegung konkretisierter Anlässe, wie sie das Bundesverfassungsgericht in der besprochenen Entscheidung versucht hat. Was bleibt? „24 hours“ ist nicht in jeder Hinsicht gut gealtert. Die scheinbar ohne rechtliche Bindung wütenden Agent*innen der „Counter Terrorist Unit“ und ihre „High Tech“-Hilfsmittel wirken heute teils unfreiwillig komisch. Visuelle Mittel, Erzählstil und Dynamik der Serie beeinflussen aber noch heute Produktionen, die die nächste Generation auf Netflix verschlingt. Ob die Antiterrordatei als sicherheitsbehördliches Instrument in Zukunft eine echte Rolle spielen wird, ist offen. Die Diskussion um diese und die darauf bezogenen Entscheidungen des Verfassungsgerichts bieten wichtige Erträge für die Einordnung künftiger sicherheitsbehördlicher Datenverarbeitungen.

DR. SEBASTIAN GOLLA ist Juniorprofessor für Kriminologie, Strafrecht und Sicherheitsforschung im digitalen Zeitalter an der Ruhr-Universität Bochum.

Literatur

Bundesbeauftragter für den Datenschutz und die Informationsfreiheit 2020: 28. Tätigkeitsbericht zum Datenschutz 2019.

Golla, Sebastian 2021: Algorithmen, die nach Terroristen schürfen – „Data-Mining“ zur Gefahrenabwehr und zur Strafverfolgung; in: NJW 2021, 667-671.

Rademacher, Timo/Perkowski, Lennart 2020: Staatliche Überwachung, neue Technologien und die Grundrechte; in: JuS 2020, 713 ff..

Schneider, Norbert 2007: Der göttliche Computer, abrufbar unter https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/medien/erfolgs-serie-24-der-goettliche-computer-1407186.html.

Anmerkungen

[1] S. BVerfG, Urteil vom 24. April 2013, Az. 1 BvR 1215/07; zur Analyse dieser Entscheidung, insbes. der Umgestaltung des sog. Trennungsgebots in ein Prinzip der „hypothetischen Datenneuerhebung“ s. M. Plöse in vorgänge Nr. 206/207 (2-3/2014), S. 122-134 (Teil 1) sowie vorgänge Nr. 208 (4/2014), S. 153-178.

[2] Diese im August 2012 in Folge der Aufdeckung der NSU-Terrorzelle im November 2011 eingeführte Datei ist der Antiterrordatei in ihrer Struktur wie in ihrer rechtlichen Regelung nachgebildet.

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