Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 233: 5. Berliner Gespräche - Kirchliches Sonderarbeitsrecht

Das kirchliche Selbst­be­stim­mungs­recht - Quo vadis?

Auf dem dritten Podium der 5. Berliner Gespräche über das Verhältnis von Staat, Religion und Weltanschauung diskutierten am 28. November 2020:

Prof. Dr. Christoph Möllers studierte Rechtswissenschaften, Philosophie und Komparatistik in Tübingen, Madrid und München; erlangte den Master of Laws an der University of Chicago Law School; wurde 2004/2005 Professor für Öffentliches Recht an der Juristischen Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster; wechselte von 2005 bis 2009 an die Georg-August-Universität Göttingen und ist seitdem an der Humboldt-Universität zu Berlin. Er war 2005 Emile Noël Fellow an der New York-University School of Law und 2006/2007 Fellow am Wissenschaftskolleg zu Berlin. Seit April 2012 ist er Permanent Fellow am Wissenschaftskolleg zu Berlin. Er ist Träger des Leibniz-Preises der DFG 2016.

Wichtigste juristische Veröffentlichungen: Staat als Argument. Dissertation Universität München. Beck (2000); Gewaltengliederung. Legitimation und Dogmatik im nationalen und internationalen Rechtsvergleich. Habilitationsschrift Universität Heidelberg. Mohr Siebeck (2005); Der vermisste Leviathan. Juristische Staatstheorie in der Bundesrepublik. Suhrkamp (2004); Demokratie – Zumutungen und Versprechen. Wagenbach (2008); Das Grundgesetz – Geschichte und Inhalt. Beck (2009)

Prof. em. Dr. Bernhard Schlink studierte an der Universität Heidelberg und an der Freien Universität Berlin; hatte Professuren an der Universität Bonn, an der Universität Frankfurt am Main und seit 1992 an der Humboldt-Universität zu Berlin inne; war Richter des Verfassungsgerichtshofs des Landes Nordrhein-Westfalen (1987-2006); Gastprofessor an der Benjamin N. Cardozo School of Law, New York (1993-2017); Honorary Fellow am St. Anne’s College, Oxford (seit 2009); ist Mitglied des Instituts für Religion und Politik, Berlin (seit 2020).

Neueste juristische Veröffentlichungen: Der Mythos der Entscheidung, Merkur 2020; Constitutional Minimalism, Telos 2019; Loyalty and Betrayal, Cardozo Law Review 2019; Interpretations as Hypotheses, in: P. Goodrich, M. Rosenfeld (Hrsg.), Administering Interpretation, 2019.

Prof. i.R. Dr. Rosemarie Will studierte Rechtswissenschaften an der Humboldt-Universität zu Berlin, an der sie von 1989 bis 2014 eine Professur für Öffentliches Recht inne hatte; war 1996 bis 2006 Richterin am Landesverfassungsgericht Brandenburg; beratendes Mitglied der SPD-Grundwertekommission; seit 1991 Mitglied im Bundesvorstand der Humanistischen Union, deren Vorsitzende sie von 2005-2013 war.

Will: Im dritten Panel wollen wir darüber diskutieren, wohin sich das kirchliche Selbstbestimmungsrecht im kirchlichen Arbeitsrecht entwickelt. Diesem Thema wollen wir uns in drei Schritten nähern. Zunächst soll das Selbstbestimmungsrecht der Kirchen aus Artikel 137 der Weimarer Reichsverfassung in Beziehung gesetzt werden zur Religions- und Weltanschauungsfreiheit in Artikel 4 Absatz 1 des Grundgesetzes. In einem zweiten Schritt fragen wir danach, welches die eigenen Angelegenheiten von Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften sind, über die sie selbst bestimmen dürfen. Zum Abschluss versuchen wir zu klären, welche Eingriffe in das Selbstbestimmungsrecht erlaubt bzw. welche verboten sind.

Durch Artikel 140 GG wurden die Artikel 136 bis Artikel 141 der Weimarer Reichsverfassung Teil des Grundgesetzes. Sie sind bis heute vollgültiges Verfassungsrecht der Bundesrepublik Deutschland. Uns interessiert hier der Artikel 137 Absatz 3 der Weimarer Reichsverfassung. Der lautet: „Jede Religionsgesellschaft ordnet und verwaltet ihre Angelegenheiten selbständig innerhalb der Schranken des für alle geltenden Gesetzes.

Daneben steht im Grundgesetz eine sehr starke Ausgestaltung der Religions- und Weltanschauungsfreiheit als Grundrecht in Artikel 4 Abs.1 GG. Danach gilt: „Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich.

Möllers: Wenn man sich das Verhältnis von Artikel 137 Weimarer Reichsverfassung und Artikel 4 Grundgesetz vergegenwärtigt, muss man, glaube ich, sich erst einmal klar machen, dass diese beiden Normen im Grunde genommen an zwei Übergängen stehen. 137 Absatz 3 Weimarer Reichsverfassung war eine Norm, die aus dem Feudalismus kam und feudale Bedingungen rezipieren musste. Die organisierte Kirche war bis zur Weimarer Republik in die Staatsorganisationen teilweise mehr oder weniger integriert. Damit musste unter den Bedingungen der Republik umgegangen werden. Artikel 4 kam mit der Verfassung des Grundgesetzes hinzu, in der Grundrechte eine andere Bedeutung haben als sie es in der Weimarer Reichsverfassung hatten. Artikel 4 muss unter den Bedingungen einer die Gesetze kontrollierenden Verfassungsgerichtsbarkeit verstanden werden.

Das heißt, wir haben in der Weimarer Republik im Prinzip die Frage, wie organisieren wir Kirchen so, dass sie vom Staat getrennt sind. Diese Aufgabe, wird mit einer Innen-Außen-Unterscheidung gelöst. Auf der einen Seite ist der Gesetzgeber, der macht die Außen-Sachen, und auf der anderen ist das Selbstbestimmungsrecht, das macht den Innenbereich. Die Religionsfreiheit spielt da noch keine Rolle, weil sie in gewisser Weise durch das Gesetz gestaltet und republikanisch verstanden wird. In der Bundesrepublik bekommen wir dann auf einmal eine Religionsfreiheit, die auch gegen das Gesetz gewendet werden kann und immer mehr an Bedeutung gewinnt, weil sie immer mehr als ein Mittel verstanden wird, mit dem die Verfassungsgerichtsbarkeit bestimmte gesetzliche Normen interpretiert.

Das heißt, die Komplikationen kommen dadurch, dass wir diese beiden Übergänge haben. Wir sehen, dass diese beiden Übergänge nicht von einem Moment auf den anderen passieren, sondern dass in der Bundesrepublik Artikel 4 immer wichtiger wird, bis zu einem Punkt, an dem man die Grundrechte auch gegen den Gesetzgeber auslegen kann. Das heißt die Frage, wie sich die Artikel 137 Absatz 4 und Artikel 4 zueinander verhalten, ist eine Frage, auf die es auch innerhalb der Bundesrepublik durchaus unterschiedliche Antworten gibt. Mit einem Satz würde ich sagen, dass Artikel 4 immer stärker wurde und wir immer mehr seine subjektive Vergrundrechtlichung bekommen haben, die auch gegen den Gesetzgeber gewendet wurde. Aber wir erleben jetzt wieder eine Renaissance der Vergesetzlichung, gerade auch im Hinblick auf das Selbstbestimmungsrecht, indem wir die alte republikanische Intuition der Weimarer Republik, dass die Gesetze für alle gelten müssen, auch für Religionsgemeinschaften, wieder stärker in den Vordergrund stellen.

Schlink: Das Bundesverfassungsgericht sagt in ständiger Rechtsprechung, Artikel 136 ff. seien voll ins Grundgesetz integriert und Artikel 4 GG verstärke das Selbstbestimmungsrecht der Religionsgesellschaften, weil er die Glaubensfreiheit vorbehaltlos gewährleistet. Aber unter den integrierten Artikeln der Weimarer Reichsverfassung gibt es Artikel 136 Absatz 1, der festhält, dass die bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten durch die Ausübung der Religionsfreiheit nicht beschränkt sind. Es besteht also eine Spannung zwischen einerseits dem vorbehaltlos verbürgten Artikel 4 GG und andererseits dem Gesetzesvorbehalt für die Religionsfreiheit in Artikel 136 Absatz 1 WRV. Das Bundesverfassungsgericht hat Artikel 136 Absatz 1 immer unterschlagen, das Bundesverwaltungsgericht hat ihn manchmal vorsichtig herangezogen, ohne sich voll auf ihn einzulassen. Jedenfalls steht die These von der Verstärkung des Selbstbestimmungsrechts der Religionsgesellschaften durch Artikel 4 GG auf unsicherem verfassungstextlichen Boden. Artikel 137 Absatz 3 WRV geht im Wortlaut zurück auf zunächst die Paulskirche und dann die preußische Verfassung. Er kam in die preußische Verfassung, um die Kirchen und die Religionsgesellschaften, die bis dahin staatliche Veranstaltungen waren, in die Freiheit der bürgerlichen Gesellschaft zu entlassen. Er war nicht dazu da, einen staatlich besonders geschützten, einen privilegierten Status der Kirche festzuhalten. Die Kirchen sollten im Gegenteil ihre Religionsfreiheit in der bürgerlichen Gesellschaftliche nicht mehr und nicht weniger genießen als jedermann seine Religionsfreiheit genießt. Das hat Anschütz klar zur preußischen Verfassung dargelegt, und er hat es ebenso klar zur Weimarer Reichsverfassung ausgeführt. Die Schranken der allgemeinen Gesetze waren für ihn selbstverständlich die Schranken der für alle geltenden Gesetze; wo die Religionsgesellschaften nicht nur ihre eigenen Angelegenheiten besorgten, sondern sich in Angelegenheiten engagierten, für die sie andere brauchten und wo sie auf andere einwirkten, galt für sie die Schranke der allgemeinen Gesetze.

Ich sehe es wie Sie, Herr Möllers: Das Bundesverfassungsgericht hat gerade in seinen Anfängen die Religionsfreiheit ungeheuer stark gemacht. Im Lauf der Zeit hat es das zumal in der Kammerrechtsprechung wieder ein bisschen zurückgenommen – bis die Chefarztentscheidung kam, die auch in den 50er Jahren hätte ergehen können. Der religionsfreundliche Rechtsprechungsauftakt des Bundesverfassungsgerichts war der Vorstellung geschuldet, die Kirchen seien im Dritten Reich als einzige integer geblieben, hätten im Kirchenkampf Eigenständigkeit und Widerständigkeit bewährt und verdienten, vom Staat des Grundgesetzes von gleich zu gleich als eigenständiges Gegenüber anerkannt zu werden. Die zeitgeschichtliche Forschung hat die Rolle der Kirchen im Dritten Reich differenzierter sehen gelehrt und damit auch die kirchenfreundliche Rechtsprechung problematisiert. Die Chefarztentscheidung als starke Vorlage für die Kirchen ist eine verblüffende Wendung des Bundesverfassungsgerichts.

Möllers: Das Urteil ist jetzt erst einmal interessant, weil sich das Bundesverfassungsgericht als „Superberufungsinstanz“ (Ausdruck von Bernhard Schlink) etabliert hat. Es macht aus dem Sachverhalt etwas, was man so nicht machen musste. Aber es ist auch bemerkenswert in Bezug auf die übernationale Ebene. Während wir die Religionsfreiheit als Teil einer europäischen Selbstverständigung in einer liberalen Gesellschaft ins Europarecht einbauen können, ist das Staatskirchenrecht der Weimarer Verfassung eine deutsche Eigenart. Ich habe immer das Gefühl, dass das Bundesverfassungsgericht das gerne mal nimmt, um auch deutsche Eigenarten hochzuhalten. Eigentlich ein bisschen unabhängig davon, ob es dabei um Religion geht. Gerade das „Chefarzt“-Urteil kann man, glaube ich, gar nicht aus dem Verhältnis von Religion und Gesellschaft heraus verstehen. Es hat etwas damit zu tun, dass der zweite Senat sagen will: Wir verteidigen hier eine bestimmte Form Religion zu regulieren gegenüber der Europäisierung von Konfessionen. Im Urteil kommt gar kein Unionsrecht vor, es wird überhaupt nicht erwähnt. Es geht eigentlich nur gegen den EGMR. Dies liegt daran, dass wir damals gerade Fragen über das Aufhängen von Kreuzen in Italien im Zusammenhang der Menschenrechtskonvention diskutiert haben. Das politische Anliegen dahinter ist eigentlich kein genuin religionsverfassungsrechtliches, würde ich behaupten, sondern ein institutionenpolitisches. Das BVerfG möchte deutsches Recht exemplarisch bewahren.

Will: Im ersten Podium, wo es ums individuelle Arbeitsrecht der Kirche geht, spielt die Chefarzt Entscheidung eine große Rolle. Da wir zeitlich noch vor der Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde der Diakonie im Egenberger Fall sind, möchte ich nach der dort vorgetragenen Identitätsrüge fragen. Die Identitätsrüge gibt es seit dem Lissabon-Urteil des Bundesverfassungsgerichtes. Sie geht von einem unantastbaren Kerngehalt der Verfassungsidentität des Grundgesetzes nach Artikel 23 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 79 Absatz 3 GG aus. Hat Artikel 137 Absatz 3 WRV dieses Gewicht? Kann diese Identitätsrüge Erfolg haben? Gehört das Selbstbestimmungsrecht der Kirchen, wie wir es gerade erläutert haben, zur Verfassungsidentität der Bundesrepublik?

Möllers: Ich glaube, es ist völlig abwegig zu meinen, dass irgendeine Verästelung des Arbeitsrechts in Verbindung mit der Religionsfreiheit und dem Selbstbestimmungsrecht der Kirchen zur Identität der Bundesrepublik gehört. Wenn man überhaupt dieses Fundamentalverfassungsrecht betreiben möchte, was ich generell sehr skeptisch sehe, dann hätte man es, glaube ich, eher mit „ultra-vires“ machen müssen. Die Mitgliedstaaten der EU haben sich darauf verpflichtet, dem Kirchenrecht im Verfassungsrecht einen besonderen Status zuzubilligen. Darauf könnte man ein – für mich immer noch nicht überzeugendes – aber sinnvoller gestricktes Argument aufbauen, nämlich dass es hier ein Kompetenzproblem gibt.

Schlink: Man kann nicht voraussagen, was das Bundesverfassungsgericht machen wird. Aber was Herr Möllers so schön das Betreiben von Fundamentalverfassungsrecht nennt und sich bei der EZB noch hören ließ, ist hier so absurd, dass ich es mir nicht vorstellen kann. Die Kirche kommt auch schon mit Hilfsargumenten. Es gibt einen Schriftsatz von Heinig, in dem er argumentiert, das Bundesarbeitsgericht, um dessen Urteil es geht, habe einen Spielraum gehabt, den es zugunsten der Kirche hätte nutzen müssen. Das kirchenunfreundliche Nicht-Nutzen dieses Spielraums sei die eigentliche Verfassungsverletzung. Neben der Identitätsrüge und der ultra-vires-Rüge baut die Kirche also ein bescheidenes Argument auf und hofft, das Bundesverfassungsgericht zumindest dafür zu gewinnen.

Möllers: Das Problem an der Konstellation jenseits des Religionsverfassungsrechts ist, dass alle Gerichte eine Agenda haben. Alle Gerichte sind gar nicht daran interessiert, den Fall klein zu arbeiten. Der EuGH sagt sehr wenig über Religionsfreiheit, das fällt auf. Das Bundesarbeitsgericht tut erstaunlich wenig für die Religionsfreiheit, wie sie in der Verfassung steht. Das Bundesverfassungsgericht interessiert sich halt nicht für supranationale oder internationale Rechte. Alle haben also eine Agenda, die eher institutionell ist. Man muss wirklich sagen, das ist eher ein Fall für Rechtsrealismus. Das Recht erklärt gar nicht so viel, sondern sehr viel erklärt die institutionelle Agenda der Gerichte und das ist natürlich schade. Dadurch wird der Sachverhalt beim Diakoniefall ziemlich aufgeblasen zu einem Fundamentalkonflikt zwischen allgemeinem Gesetz und Selbstbestimmungsrecht. So löst man eigentlich keine Fälle. Man löst Fälle durch eine Minimalisierung des Konfliktes, nicht indem man ihn vergrößert.

Schlink: Hier zeichnet sich doch etwas ab. Schauen wir die Argumentation der Kirchen an: Von der ultra-vires- und der Identitätsrüge versprechen sie sich letztendlich wohl nicht wirklich etwas und setzen auf ein bescheidenes Argument, das sich in die Vorgabe des Europarechts einfügt. Die Vorgabe des Europarechts wird auch im kirchlichen Arbeitsrecht anerkannt werden. Das mag ein bisschen kürzer oder ein bisschen länger dauern, aber dass die Arbeitsgerichte hier voll überprüfen und verlangen, dass bei der Arbeit um die es geht, ein wesentlicher Zusammenhang zum Auftrag, zum Proprium der Religionsgesellschaft gegeben sein muss, wird sich durchsetzen. Das weicht von dem ab, was das Bundesverfassungsgericht in seiner Rechtsprechung bislang verfolgt, setzt an die Stelle der Plausibilitätsprüfung, die das Bundesverfassungsgericht will, die volle gerichtliche Überprüfung.

Möllers: Man muss sagen, das ist auch ein Lernprozess für die Kirchen. Die katholische Kirche, das Erzbistum Köln in dem Fall, hat ja in dem Chefarzt-Fall darauf verzichtet, Verfassungsbeschwerde zu erheben. Sie haben auch ihr internes kirchliches Arbeitsrecht geändert und würden heute nicht mehr so vorgehen. Ich glaube, es ist irgendwie allen klar, dass die Selbstbeschreibung einer Religionsgemeinschaft, die außerhalb des gesetzlichen Rahmens steht, eine ambivalente Sache ist, und dass man damit nicht nur gewinnt.

Will: Damit sind wir bei unserem zweiten Schwerpunkt. Welches sind die eigenen Angelegenheiten von Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften, über die sie selbst bestimmen dürfen?

Schlink: Die Angelegenheiten der Religionsgesellschaften verstehe ich im Einklang mit dem allgemeinen Sprachgebrauch und im Einklang mit dem, was seit der preußischen Verfassung und der Weimarer Verfassung Tradition ist. Es sind die Angelegenheiten, die man selbst besorgen kann und die einen selbst angehen. Meine Angelegenheit ist, was mich betrifft, worum ich mich selber kümmern kann, wofür ich niemanden anderes brauche. Und wenn ich sage „Kümmere dich nicht um meine Angelegenheiten“, meine ich, dass die Sache mich angeht und ich dich nicht brauche und nicht will. So war das auch bei den Angelegenheiten der Religionsgesellschaften gemeint. Die Religionsgesellschaften, aus der Abhängigkeit vom Staat in die Freiheit der bürgerlichen Gesellschaft entlassen, sollten ihre Angelegenheiten besorgen, wie jede Person und jede Vereinigung von Personen ihre Angelegenheiten besorgt. Wo das Besorgen der Angelegenheiten darüber hinausgeht und andere braucht oder beeinträchtigt, geht es nicht mehr um eigen, sondern um gemeinsame Angelegenheiten. Wie bei diesen zu verfahren ist, bemisst sich nach dem allgemeinen Gesetz.

Möllers: Beim Rückgriff auf die preußische Verfassung muss ich als Katholik, der ich nun mal bin, darauf hinweisen, dass diese nochmal extra geändert wurde, um die Katholikenverfolgung legal zu halten. Zur ganzen Geschichte gehören natürlich auch leichte Änderbarkeit und die ad-hoc-Änderungen.

Schlink: Ja, da wurde die Schranke des allgemeinen Gesetzes verändert. Weil man begriff, dass man die Katholiken nicht diskriminieren kann, wenn man die Schranke des allgemeinen Gesetzes hat. Für Diskriminierung braucht man besondere Gesetze.

Möllers: In der Bundesrepublik verlangt das allgemeine Gesetz nochmal eine eigene Prüfung. Ich glaube, die Frage nach den eigenen und den allgemeinen Angelegenheiten ist im 19. Jahrhundert mit der Entlassung der Religionsgemeinschaft in die gesellschaftliche Freiheit verbunden. Sie ist nur ganz zu verstehen, wenn man einerseits sieht, dass die christlichen Religionsgemeinschaften eine sehr große soziale Macht hatten. Und dass es andererseits noch einen gewissen Konsens über die Bedeutung von Religion gab, der zwar schon bröckelte, aber noch bestand. Wir haben ja heute Bereiche wie Schulen, theologische Fakultäten und andere Dinge, die man als gemeinsame Angelegenheiten behandelt und bei denen der überproportionale Einfluss der Religionsgemeinschaften durchging. Das sieht man bei den Bekenntnisschulen im Grundgesetz. Auch im Streit darüber, ob wir sagen können, die Kirchen wurden nach dem allgemeinen Gesetz behandelt. Sie waren eine unglaublich starke Lobby, die in gewisser Weise Dinge in den Text des Grundgesetzes reinschreiben konnten, die dem republikanischen Ideal der Gleichheit vor dem Gesetz nicht entsprechen.

Schlink: Es gibt ein kirchliches Verständnis der eigenen Angelegenheiten, das auch beim Bundesverfassungsgericht anklingt, nach dem das, was die Kirchen zu ihren Angelegenheiten machen, auch ihre Angelegenheiten sind. Aber es genügt nicht, dass die Kirchen sagen „Religionsunterricht ist unsere Angelegenheit“, sondern es muss verfassungsrechtlich oder gesetzlich eigens festgelegt werden – und es wurde auch eigens festgelegt. Die Festlegung bestätigt, dass Artikel 137 WRV im traditionellen Sinn zu verstehen ist.

Oft wird von der Rücksicht geredet, die dem kirchlichen Selbstverständnis geschuldet sei, auch dem kirchlichen Selbstverständnis von dem, was zu den kirchlichen Angelegenheiten gehört. Aber wir alle leben unsere Freiheiten von unserem Selbstverständnis her. Was wir zu unseren Angelegenheiten machen, machen wir alle aus unserem Selbstverständnis zu unseren Angelegenheiten. Das kann die Kirche genauso wie wir alle, aber auch nur genauso wie wir alle, und wo die eigene Angelegenheit andere involviert, bleibt sie nicht die eigene, sondern wird eine gemeinsame Angelegenheit. Daran ändert sich für die Kirchen nichts, nur weil sie Kirchen sind.

Will: Das differiert aber mit dem, was das Bundesverfassungsgericht in Bezug auf die eigenen Angelegenheiten im Arbeitsrecht vertritt und was es im Chefarzt Fall vertreten hat. Der von Dir vertretene Begriff der eigenen Angelegenheiten ist sehr viel enger als der des BVerfG.

Möllers: Die alte Lösung war eine, die Religionsgemeinschaften als Organisationen verstand. Organisationen haben eine Innen- und eine Außenseite. Es gibt Mitglieder, es gibt Innen, es gibt Außen, und damit gibt es auch so etwas wie eine formulierbare Grenze zwischen Innen und Außen. Was wir in der Bundesrepublik erlebt haben, ist in einer Formulierung von Ulrich K. Preuß eine Internalisierung des (Rechts-)Subjekts. Sehr viele Fragen wurden als innere Angelegenheit der Organisation ausgewiesen, die aber nicht zwingend solche sind. Das wurde sogar mit organisationsimmanenten Mitteln gemacht. Nehmen wir beispielsweise ein Krankenhaus: Das Krankenhaus gehört irgendeiner Holding, die Holding gehört wiederum irgendeinem Erzbistum. Gehört das Arbeitsrecht des Krankenhauses wirklich auf die Innenseite der Organisation Kirche? Das Gleiche gilt für die Diakonie im Hinblick auf den Egenberger-Fall. Diese Entwicklung ist ein bisschen ironisch, weil sie auf der einen Seite ein gutes formalistisches Kriterium, innen/außen, beim Wort nimmt, es dann aber auf den Kopf stellt. Der Organisationsbegriff kann auch durch die Vielfalt und Undurchsichtigkeit der christlichen Selbstorganisation im bundesrepublikanischen Sozialstaat keine Grenzen mehr ziehen.

Schlink: Ja, da haben sich Dinge verschoben. Noch mal zurück zu Anschütz und zur Weimarer Reichsverfassung – es verstand sich, dass, was mit dem Kirchengut gemacht wird, unter das allgemeine Gesetz fällt. Das Bundesverfassungsgericht hat die Erweiterung, die es bei Artikel 4 GG vorgenommen hat – Religionsfreiheit schützt nicht nur die Religionsausübung im engeren Sinn, sondern alles Verhalten, das religionsgeleitet ist – ins Organisatorische übertragen: Geschützt wird nicht nur die eigentliche kirchliche Organisation, sondern alles was die Kirche in Angriff nimmt und alle Organisationen, die sie dafür einrichtet und einsetzt. Wenn Du sagst, mein Begriff der Angelegenheiten ist enger als der des Bundesverfassungsgerichts, ist das richtig. Aber ich denke, unter dem Einfluss des EuGH geht die Entwicklung wieder zu einem engeren Verständnis. Der EuGH behandelt die Kirche als Tendenzunternehmen wie andere Tendenzunternehmen. Tendenzunternehmen haben ihre Tendenz, das Arbeitsrecht trägt dem Rechnung, aber bei den Kirchen nicht anders als bei anderen.

Will: Wenn man Dir darin folgt könnte das aber dazu führen, dass im kirchlichen Individualarbeitsrecht Diskriminierung zu Gunsten der Kirche in dem bisherigen Umfang nicht mehr erlaubt ist. Dann müsste sich das Bundesverfassungsgericht in Bezug auf das, was die eigenen Angelegenheiten sind, neu positionieren.

Möllers: Das ist schon ein delikater Fall, weil sich für die Protestanten beziehungsweise die Diakonie die Frage stellt, inwieweit bestimmte religionspolitische Angelegenheiten des Protestantismus nur von Protestanten vertreten werden können. Muss man selbst Protestantin sein, um solche Angelegenheiten zu bearbeiten? Das finde ich, ist keine so eindeutige, einfache Frage. Ich würde schon sagen, Mitgliedschaft ist ein Kriterium, das für eine Kirche von Relevanz ist, wenn sie Personal rekrutiert. Da kann man sagen: ja, aber nur für bestimmte qualifizierte Angelegenheiten. Man kann es funktionalisieren und sagen, der Bischof muss Mitglied sein, aber die IT-Frau nicht. Aber dann muss man auch sehen, dass der Laden irgendwie ein Laden ist, der die religiöse Mitgliedschaft über Hierarchien abbilden will. Wenn wir eine Dienstgemeinschaft sind – es gibt ja im Protestantismus dazu eine Theorie –, dann gehören vielleicht auch alle dazu. Es ist also auch ein Laden, der sich ausrechnet, dass alle Teil der Kirche oder Mitglied der Kirche sind. Ist das dann schon Diskriminierung? Ich empfinde Ambivalenz, was das Mitgliedschaftskriterium angeht. Zu sagen wir sind eine Organisation – nehmen wir mal etwas anderes, ein Generalvikariat, das auch Teil des Bistums ist – da ist dann oben der Generalvikar und der Bischof und alle anderen machen irgendetwas, das administrativ ist, und deshalb müssen sie nicht Mitglied der Kirche sein – das ist, glaube ich, auch betriebsimmanent ein Problem. Es ist nicht die ganze Lösung, zu sagen es darf nicht diskriminiert werden, denn das Problem ist doch auch, wie ich eine Verwaltung mit spiritueller Ausrichtung organisiere. Ist die Verwaltung da einfach nur Verwaltung oder muss die Verwaltung auch Anteil an der Spiritualität Teil haben? Das ist nicht ganz einfach.

Schlink: Die Kirche werden sich bei ihren Einrichtungen, die in die Welt und in der Welt wirken, genauer überlegen müssen: Können wir sie wirklich in einem besonderen, in unserem Geist führen? Wenn wir das können, dürfen wir auch die entsprechenden Forderungen an die dort Arbeitenden stellen. Aber können wir von unseren vielen Krankenhäusern manche vielleicht nur führen, wie Krankenhäuser von allen geführt werden – neben Diakonie-Krankenhäusern, in denen wir wirklich einen besonderen Geist lebendig halten können? Auch beim Fall Egenberger muss sich die Kirche fragen, ob sie zu der UNO-Sache, um die es ging, wirklich etwas Eigenes und Besonderes zu sagen hat. Hat sie das, kann sie von dem Bediensteten verlangen, dass er das Eigene und Besondere zur Geltung bringen kann und zur Geltung bringt. Aber wenn sie danach gar nicht fragt und es nur so laufen lässt, wird sie zurück gefragt: Meinst du es ernst oder meinst du es nicht ernst? Und wo sie nicht zeigen kann, dass und wie sie es ernst meint, wird sie mit ihren Vorstellungen und Forderungen nicht mehr durchkommen.

Möllers: Es geht eigentlich um Immanent-Maßnahmen. Da ist der Kirche bzw. den Kirchen natürlich auch ihr Expansionismus auf die Füße gefallen. In dem Augenblick, in dem man alles macht und auch zu allem eine Meinung hat, wird man natürlich auch immer größer. Für den Protestantismus ist das die Hubersche Theologie der 70er, 80er Jahre, man hat irgendwie zu allem was zu sagen. Da organisiert man sich zu allem, da muss man zu allem Leute einstellen und irgendwann hat man vielleicht gar keine mehr und findet keinen Protestanten mehr, der sich auf eine Stelle bewirbt.

Schlink: Die Matrosen auf dem Schiff im Mittelmeer.

Möllers: Ja, was macht eigentlich Bedford-Strohms Flotte? In der Tat, da geht es eher darum, dass die Rechtsordnung nochmal Selbstwidersprüche der kirchlichen Gemeinschaften aufzeichnet.

Schlink: Es tut der Kirche gut, sich genau überlegen müssen, was sie wirklich in ihrem Geist veranstalten und durchführen kann und was nicht, um es getrost in die Weltlichkeit zu entlassen.

Will: Ich finde, wir drehen uns im Kreis. Erst werden die eigenen Angelegenheiten bestimmt, als die Angelegenheiten der Religionsgemeinschaften und ihrer Mitglieder selbst, dann sind wir aber wieder draußen bei dem was die Kirche in der Welt, in der Gesellschaft macht. Bleiben wir mal beim Krankenhaus oder beim Egenberger-Fall. Was ist das Besondere eines Diakonie- oder eines Caritas-Krankenhauses? Was soll das sein, dieses Besondere außerhalb der Funktionalität eines Krankenhauses? Was hat dies mit dem religiösen Bekenntnis zu tun? Das führt doch wieder zu Weiterungen der eigenen Angelegenheiten. Das finde ich ziemlich ambivalent. Gerade wurde eingeengt, dann kommt aber wieder das Besondere. Was ist das Besondere im Krankenhaus der Diakonie oder der Caritas, wenn es um Ärzte, Schwestern, Pfleger geht?

Schlink: Ich war vor Jahren mit einer Gelbsucht im Diakonie-Krankenhaus in Freiburg, einem alten Diakonie-Krankenhaus. Ich konnte die Schwestern als Personen kennenlernen, weil es dem Krankenhaus wichtig war, dass zwischen Schwestern und Patienten eine gewisse Vertrautheit entstand. In den neuen Krankenhäusern werden Dienstpläne so angelegt, dass das nicht mehr geht. Einmal in der Woche kam der Pfarrer und fragte mich, ob ich etwas mit ihm besprechen wollte. Der Geist, die Fürsorge, die Zuwendung, die Ansprechbarkeit war besonders. Das war dem Krankenhaus wichtig. Andere Krankenhäuser wollen nur das Krankenaufkommen schnell durchschleusen und können vielleicht aus betriebswirtschaftlichen Gründen auch nicht anders. Man kann Krankenhäuser verschieden führen.

Möllers: Ich würde auch sagen, meine Kinder waren in Kreuzberg in einer katholischen Kita und die Kita war voll mit chinesischen, türkischen, protestantischen und sonstigen Kindern – und auch ein paar katholischen Kindern. Es war halt eine Kita, die auf Spiritualität Wert legte, ohne dabei besonders missionarisch zu sein. Man wollte z.B. Kenntnis von Festen beibringen, was bedeutet das Fest, was haben wir damit zu tun und so weiter. Das wurde nicht indoktriniert, aber es wurde schon sehr viel darüber geredet. Das ist katholischer Stil, den kann man mögen oder nicht. Die Chinesen mochten das etwa besonders gern, also das war durchaus ein Stil, der auch außerhalb der Mitgliedschaft ankam. Die Kita war so wie sie war, auch weil sie katholisch war.

Will: Als bekennende Atheistin möchte ich sagen, dass ich auch die Vorstellung von einem Krankenhaus habe, wo es Zuwendung bei der Pflege und bei der Betreuung gibt. Das würde ich jetzt nicht für einen Ausfluss besonderer Spiritualität halten. Die Vorstellung von einem Krankenhaus, das nicht rein funktionalistisch ist, angelegt auf Durchläufe, auf Ökonomisierung und eben nicht auf die Zuwendung zum Kranken, halte ich nicht für eine exklusive Idee des Christentums.

Schlink: Aber die Ökonomisierung der Krankenhäuser läuft nun einmal, und um sich dem entgegen zu stellen, muss es der Leitung und den Mitarbeitern des Krankenhauses wirklich darum gehen. Es genügt nicht, dass Du es als Patientin gerne hättest. Sondern das Krankenhaus muss es sich zu seiner Sache machen, und das ist gegen den Trend der Ökonomisierung nicht einfach.

Will: Zugegeben, aber dass das jetzt primär aus dem christlichen Glauben fließt, sich gegen Ökonomisierung des Gesundheitswesens zuwenden … Wir diskutieren ja immer noch das kirchliche Selbstbestimmungsrecht und seine Auswirkungen auf das Arbeitsrecht. Dass man an die Mitarbeiter bezüglich ihres religiösen Bekenntnisses, ihrer Weltanschauung besondere Anforderungen stellen darf, das ist doch das Problem, worum es geht. Das würde mich jetzt nicht ohne weiteres überzeugen. Ich bin immer aufgestanden gegen die Privatisierung und Ökonomisierung des Gesundheitswesens ohne dabei auf den Gedanken zu kommen, dazu brauche ich christliche Krankenhäuser und christliche Einrichtungen.

Möllers: Die Frage ist ja nicht: Gibt es nicht auch gute Argumente gegen die Privatisierung von Krankenhäusern, die wir uns aus irgendetwas, Kant oder so, herleiten? Die Frage ist doch konkret: Ist die spirituelle Prägung einer Organisation relevant für die Leute, die mit der Organisation in Kontakt treten? Das Christentum hat natürlich kein Monopol auf Nächstenliebe. Aber wenn man Nächstenliebe sucht, wird man sie in christlichen Organisationen finden können. Wir brauchen für die Rechtfertigung von Mitgliedschaftserfordernissen von kirchengetragenen Organisationen ja nicht das Argument: Ihr seid die Monopolisten auf die guten Dinge, die ihr predigt. Es geht doch nur darum, was ihr damit macht. Das führt nachvollziehbar zu einer anderen Organisation, als wenn ihr es anders machen würdet. Das Beispiel mit den Krankenhäusern und der Zuwendung war ja ein bisschen normativ. Mein Beispiel ist mehr vergleichend. Ich würde sagen, es ist einfach eine andere Kita. Ob sie besser ist? Mein Gott, uns hat es gefallen, anderen Leuten hat es vielleicht nicht gefallen. Aber es war eben eine andere Kita und die wäre nicht in dieser Form anders gewesen, wenn sie nicht von Katholikinnen geführt worden wäre. Das ist relativ klar und das scheint mir schon ein Punkt zu sein, den man nicht immer wieder rechtfertigen muss.

Schlink: Das ist das Positive an der Entwicklung, die durch den EuGH angestoßen wurde. Die Kirchen können nicht einfach sagen, das ist eine unserer Einrichtungen, eines unserer Krankenhäuser, sondern wenn sie das Privileg der besonderen Auswahl in Anspruch nehmen will, muss sie zeigen, dass die Einrichtung, das Krankenhaus besonders ist. Das ist auch eine Chance für die Kirchen.

Möllers: Das Bundesverfassungsgericht hat gewissermaßen aus dem Selbstbestimmungsrecht Pfründe gemacht. Und die Pfründe müssen jetzt wieder angeschlossen werden an eine Begründung.

Schlink: Ja, das ist die Folge der EuGH-Rechtsprechung.

Will: Dann will ich jetzt zu unserem dritten Teil kommen und nach den Eingriffen in das Selbstbestimmungsrecht fragen die gerechtfertigt beziehungsweise nicht erlaubt sind? Zunächst: Was ist die Definition des für alle geltenden Gesetzes? Was ist damit gemeint: jedes Gesetz oder aber das allgemeine Gesetz im Sinne von Artikel 5 Absatz 2. Dort haben wir ja das allgemeine Gesetz mit einem qualifizierten Gesetzesvorbehalt für Meinungsäußerungsfreiheit.

Möllers: Im Grunde meint das allgemeine Gesetze das Gesetz, das an alle adressiert ist. Natürlich war das preußische Gesetz zur Katholikenverfolgung kein allgemeines Gesetz in diesem Sinne, weil es mit Blick auf die Religionszugehörigkeit diskriminiert hat. Der Begriff ist aber sehr weit gefasst und sehr formell, so dass man schon lange suchen muss, um ein Gesetz zu finden, das in diesem Sinne kein allgemeines Gesetz ist.

Schlink: Für Anschütz war das Kirchenkampfgesetz kein allgemeines Gesetz.

Will: Also ein Sondergesetz.

Schlink: Eines das sich speziell und diskriminierend gegen die katholische Kirche gewandt hat. Demgegenüber unterfiel dem allgemeinen Gesetz alles, was nicht diskriminierend gegen oder auch privilegierend für eine Kirche gemacht war. Allerdings meinte Anschütz, der Begriff des allgemeinen Gesetzes könnte gelegentlich sogar Spezialgesetze umfassen.

Will: Dann sind wir aber wieder bei der Frage, welches Gewicht erlangt das Selbstverständnis der Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften, wenn es zur Verhältnismäßigkeitsprüfung kommt.

Schlink: Selbstverständnis? Es geht einfach darum, was die Religionsgesellschaft ist, was sie macht, was sie will. Das entscheidet die Religionsgesellschaft selbst, wie wir entscheiden, wer wir sind, was wir im Leben machen, was wir im Leben wollen. Wenn wir uns für das, was wir tun und wollen, auf grundrechtlich verbürgte Freiheiten berufen wollen, müssen wir argumentieren. Wir müssen sagen, das habe ich als Künstler gemacht, das ist ein Kunstwerk, für das ich die Kunstfreiheit in Anspruch nehme, und wir müssen es, wenn nötig, nachweisen. Nicht anders ist es bei den Kirchen. Natürlich sind sie frei in dem, was sie in der Welt zu ihrer Aufgabe machen wollen. Aber wenn sie sagen, sie machen Krankenhäuser oder Schulen zu ihrer religiösen Aufgabe, müssen sie nachweisen, warum das jeweilige Krankenhaus oder die jeweilige Schule Religion zum Ausdruck und zur Geltung bringt. Vielleicht führt das zu Konflikten, aber zunächst einmal dürfen die Kirchen, was jeder mit seinem Grundrecht darf.

Will: Aber beim Grundrechtskonflikt stellt sich die Frage, wie die Forderungen des religiösen Lebens in die Grundrechtsabwägung eingestellt werden? Z.B. zum Recht der Kindergärtnerin in einem katholischen Kindergarten weiter arbeiten zu können, wenn sie sich scheiden lässt.

Möllers: Das ist ein normaler Fall. Da guckt man halt, inwieweit das überhaupt plausibel ist, wie generell mit Wiederverheirateten und Geschiedenen umgegangen wird. Man muss fragen, inwieweit das überhaupt für die Organisation relevant ist. Da hätte ich meine Zweifel. Ich würde das Arbeitsrecht tatsächlich nicht mehr so verstehen, dass man einer Kindergärtnerin im katholischen Kindergarten, die sich scheiden lässt und wieder heiratet, kündigen kann. Das wäre meine Auslegung, die ich damit begründen würde, dass das a) sowieso seit längerem schon nicht konsistent überall so in katholischen Einrichtungen gehandhabt wird – und dass es b) auch kein gutes Argument dafür gibt, dass das Faktum der Scheidung irgendwie Auswirkungen darauf hat, dass der Kindergarten dadurch weniger katholisch wird.

Schlink: Es kommt auf den Fall an. Ich sehe den Fall der Kindergärtnerin wie Sie, Herr Möllers, kann mir aber Fälle vorstellen, bei denen es anders aussieht. Der Chefarzt, der operiert, ist das eine. Beim Chefarzt, der bei öffentlichen Auftritten gegen die Schwangerschaftsabbruchspolitik der katholischen Kirche sein Gewicht als Chefarzt des Krankenhauses in die Waagschale legt, sieht es wieder anders aus. Aber das sind Einzelfallabwägungen, die wir kennen.

Will: Jenseits solcher konkreten Einzelfallabwägungen, was müsste sich denn ändern, dass es nicht ohne weiteres zu Kündigungen kommt im Falle von Scheidung und Wiederverheiratung?

Möllers: Es gibt immer viele Ungleichzeitigkeiten. Die Kirchen sind ja nicht monolithisch. Auch das interne Recht ist sehr bunt und wird permanent geändert. Das Erzbistum Köln hat ja seine internen Regeln geändert, den Chefarzt-Fall würden wir wohl nicht mehr so erleben. Das ist ja auch für die Kirche eine Frage der Selbstdefinition ihrer Rolle innerhalb der Gesellschaft. Aus vielerlei Gründen gibt es sowas wie Rückzug; ob das jetzt freiwillig ist oder nicht, ist natürlich nochmal eine andere Frage. Es gibt Mitgliedschaftsverluste, es gibt eine Besinnung auf Kernkompetenzen, es gibt eine Krise des allgemein-politischen Mandats der Kirche, das natürlich auch gerade bei der katholischen Kirche mit dem moralischen Bankrott der Missbrauchsaufarbeitung zu tun hat. Das hat auch Folgen dafür, ob solche Kollisionen zwischen allgemeinem Gesetz und der Praxis der Religionsgemeinschaften häufiger werden oder seltener. Ich würde vermuten eher seltener.

Schlink: Ich vermute das auch. Die europäische Rechtsprechung und die europäische Antidiskriminierungsregelung sind klar: Es muss in Zukunft von einem Gericht überprüft werden und es gibt objektive Kriterien, an denen überprüft wird. Das ist ein Bruch mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes, aber die Arbeitsgerichte werden es übernehmen, und die Kirchen haben sich schon ein bisschen darauf eingestellt und werden sich noch weiter darauf einstellen.

Will: Sie sprechen jetzt als Verfassungsjuristen. Aber was werden denn die Kirchen machen? Werden sie das akzeptieren, annehmen? Als bekennende Christen, wie sehen sie diese Entwicklung?

Möllers: Beim Katholizismus, der im internationalen Rahmen operiert, gibt es die Erfahrung in vielen anderen Ländern, dass es keine Sonderrechte gibt. In Großbritannien oder Frankreich ist es so, dass diese Diskussion viel strikter geführt wird, sodass Sonderrechte eher seltener sind. Insofern geht es auch darum, dass wir eine Normalisierung bekommen, die wir eigentlich im Rechtsvergleich beobachten können. Durch den internationalen Zusammenhang sind für die katholische Kirche diese Dinge weniger dramatisch, weil man in anderen Ländern schon unter ganz anderen Bedingungen operiert.

Schlink: Die evangelische Kirche wird sich gegen alles wehren, was ihr an Privilegien weggenommen werden soll. Seit Gorbatschow weiß jede Institution: Wenn man anfängt, etwas wegzugeben, rutscht rasch alles weg. Die evangelische Kirche wird nichts von sich aus aufgeben. Aber sie wird sich, der Schriftsatz von Heinig zur Verfassungsbeschwerde Egenberger dokumentiert es, darauf einlassen. Sie wird nach objektiven Kriterien, die gerichtlich überprüfbar sind, zu begründen versuchen, warum diese und jene Position nach ihren Vorstellungen besetzt werden soll. Sie wird sich darauf einlassen, ohne deshalb ihre Privilegien freiwillig aufzugeben.

Will: Wir werden sehen, wie das Bundesverfassungsgericht entscheidet, und wir werden die Reaktionen der Kirchen darauf erleben. Ich würde wünschen, dass man Ihnen beiden folgt. Vielen Dank für das Gespräch.

nach oben