Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 233: 5. Berliner Gespräche - Kirchliches Sonderarbeitsrecht

Das kollektive Arbeits­recht in kirchlichen Einrich­tungen

Auf dem zweiten Podium der 5. Berliner Gespräche über das Verhältnis von Staat, Religion und Weltanschauung diskutierten am 28. November 2020:

Mario Gembus ist Diplombetriebswirt und seit 2010 Gewerkschaftssekretär beim Bundesvorstand von ver.di. Dort ist er im Fachbereich Gesundheit, Soziale Dienste, Wohlfahrt und Kirchen seit 2018 zuständig für den Bereich Kirchen, Diakonie und Caritas.

Uta Losem ist Juristin und seit 2000 Mitarbeiterin im Kommissariat der deutschen Bischöfe, dem katholischen Büro in Berlin. Dort ist sie seit 2011 unter anderem zuständig für die Bereiche Arbeitsrecht, Sozial- und Gesundheitspolitik.

Christian Twardy hat Rechts- und Verwaltungswissenschaften studiert, ist Rechtsanwalt und ist seit 2009 beim Marburger Bund und dort seit 2012 stellvertretender Hauptgeschäftsführer. Seit 2017 ist er auch Mitglied der arbeitsrechtlichen Kommission des deutschen Caritasverbands.

Prof. Dr. Stefan Klumpp ist seit 2009 Inhaber des Lehrstuhls für Arbeits- und Sozialrecht der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Er hat zu einem schadensrechtlichen Thema im Zivilrecht promoviert und zur Beschäftigungsförderung durch Arbeitsrecht habilitiert.

Dr. Till Müller-Heidelberg war lange Jahre Vorsitzender der Humanistischen Union und dort auch zuständig für den Bereich „Verhältnis Staat Kirche Weltanschauungsgemeinschaften“. Herr Müller-Heidelberg ist Rechtsanwalt mit dem Schwerpunkt Wirtschaftsrecht und Arbeitsrecht, Fachanwalt für Arbeitsrecht und Steuerrecht und vertritt kirchliche Institutionen sowohl auf Kläger- als auch auf Beklagten-Seite. Er hat vor 20 Jahren den Grundrechte-Report ins Leben gerufen, der alljährlich von der Humanistischen Union veröffentlicht wird.

Wiese: Heute diskutieren wir zunächst über kollektive Aspekte des kirchlichen Arbeitsrechtes. Gestern haben wir bereits darüber gesprochen, dass bei den beiden Wohlfahrtsverbänden der Kirchen, Caritas und Diakonie, circa 1,3 Millionen Menschen arbeiten. Das sind große Arbeitgeber, die beiden Wohlfahrtsverbände. Nicht nur das individuelle Arbeitsrecht ist in diesen beiden Verbänden teilweise anders geregelt als das staatliche Arbeitsrecht. Auch das kollektive Arbeitsrecht ist anders geregelt und zwar erheblich anders. Für diejenigen, die nicht ganz firm sind im Arbeitsrecht: Zu dem kollektiven Arbeitsrecht zählt das Tarifrecht, das Arbeitskampfrecht und das Mitbestimmungsrecht in Unternehmen und Betrieben, das Betriebsverfassungsrecht. In allen Bereichen scheren die Kirchen aus den Regelungen des staatlichen Arbeitsrechtes aus, sie gehen den sogenannten dritten Weg des kollektiven Arbeitsrechts. Was dieser dritte Weg ist und ob es tatsächlich drei unterschiedliche Wege zur Regelung der Beschäftigungsbedingungen gibt, werden wir im Rahmen dieses Podiums besprechen. Ebenso wird es darum gehen, ob es so etwas wie eine christliche Dienstgemeinschaft gibt, von der die Kirchen im Zusammenhang mit der Regelung ihrer Arbeitsverhältnisse sprechen, und ob eine solche christliche Dienstgemeinschaft tatsächlich Abweichungen vom staatlichen kollektiven Arbeitsrecht rechtfertigen kann.

Ich beginne mit Till Müller-Heidelberg. Till, von Dir möchte ich wissen: 2012 entschied das Bundesarbeitsgerichti, dass unter bestimmten Umständen Gewerkschaften in kirchlichen Organisationen zum Streik aufrufen dürfen. Ver.di und der Marburger Bund haben gegen diese Entscheidung Verfassungsbeschwerde eingereicht. 2015 entschied das Bundesverfassungsgerichtii, dass die Klage unzulässig sei, weil keine hinreichende rechtliche Beschwer vorliege. Zu beiden Entscheidungen wird diskutiert, ob sie die Gewerkschaften oder die Kirchen begünstigen. Kannst Du diese beiden Entscheidungen näher erläutern und auch welche Bedeutung sie für das kollektive kirchliche Arbeitsrecht haben?

Müller-Heidelberg: Zunächst will ich ganz kurz auf einige verfassungsrechtliche Grundlagen eingehen, die sich mit unserem heutigen Thema Streikrecht und später auch Personalrecht und Betriebsverfassungsrecht befassen. Das ist zum einen Artikel 9 Absatz 3 Satz 1 des Grundgesetzes, den ich vorlesen möchte: „Das Recht, zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen Vereinigungen zu bilden, ist für jedermann und für alle Berufe gewährleistet.“ Hierin sieht das Bundesverfassungsgericht quasi eine institutionelle Garantie der Gewerkschaften und hat daraus im Grundsatz auch ein verfassungsmäßiges Recht auf Streik abgeleitet. Auf der anderen Seite hat Artikel 140 Grundgesetz erklärt, dass einige Vorschriften, die das Verhältnis Staat Kirche betreffen, aus der Weimarer Reichsverfassung weiter gelten – das ist ganz wichtig nachher zur Diskussion – und im Artikel 137 Absatz 3 Weimarer Rechtsverfassung heißt es: „Jede Religionsgesellschaft ordnet und verwaltet ihre Angelegenheiten selbständig innerhalb der Schranken des für alle geltenden Gesetzes.“ Dieser Artikel, aus dem die Kirchen ihr sogenanntes Selbstbestimmungsrecht ableiten, gilt nicht nur für die sogenannte verfasste Kirche, also für die Kirchen und Prediger, sondern auch für ihre wirtschaftlichen Betätigungen – die sie selbst nicht als wirtschaftliche, sondern als Ausdruck ihres Glaubens sehen –, nämlich Caritas und Diakonie. Die Menschen, die in diesen Bereichen arbeiten, sind nicht etwa Arbeitgeber und Arbeitnehmer, weil es hier gar keinen Widerspruch zwischen Kapital und Arbeitnehmer gebe, sondern sie stellen eine sogenannte Dienstgemeinschaft dar, weil sie alle im Dienst ihres Glaubens tätig sind. In einer Dienstgemeinschaft kann es nach dem kirchlichen Selbstverständnis keinen Streik geben, wo die beiden Seiten aus dem weltlichen Arbeitsrecht gegeneinander kämpfen. Die Kirchen haben daraus den sogenannten dritten Weg entwickelt. Sie sagen, gemeinsam entwickeln wir unsere arbeitsrechtlichen Grundlagen. In paritätisch besetzten arbeitsrechtlichen Kommissionen sitzen sowohl Dienstnehmer- wie Dienstgeber-Vertreter, die die arbeitsrechtlichen Grundlagen – im Wesentlichen die Tarifverträge –, entwickeln sollen. Es gibt eine abweichende Ausnahme der evangelischen Kirche im Norden Deutschlands, der nordelbischen Kirche. Die sagt: Wir nehmen im Prinzip das Tarifvertragssystem an, aber weil wir eine Dienstgemeinschaft sind und es bei uns keinen Streik geben kann, verhandeln wir mit Gewerkschaften über Tarifverträge nur dann, wenn sie sich zunächst in einer Art Grundlagentarifvertrag dazu verpflichten, auf das Streikrecht zu verzichten beziehungsweise dieses nicht auszuüben.

Die überwiegende aber nicht die unstreitige Auffassung in der Juristerei ist: Dass in dieser Konstellation zwischen Artikel 9 Absatz 3 und Artikel 137 Absatz 3 Weimarer Reichsverfassung der letztere im Bereich der Kirchen überwiegt, dass sie also ihr eigenes sowohl individuelles Arbeitsrecht als auch kollektives Arbeitsrecht prägen können. Das gilt nicht nur für das Streikrecht und das Tarifvertragsrecht; auch das Betriebsverfassungsgesetz und Personalvertretungsgesetz gelten in ihrem Bereich nicht, stattdessen eigene Kirchengesetze über Mitarbeitervertretungen.

Jetzt kommen wir zu den angesprochenen Urteilen. Zu den beiden BAG-Urteilen kam es durch die landesgerichtlichen Urteile aus Hamm und Hamburg. Das Urteil des Landesarbeitsgerichts Hammiii betrifft den Fall, dass ver.di mit Warnstreiks erreichen wollte, dass Tarifvertragsverhandlungen mit der Kirche geführt werden. Konkret ging es um die Diakonie, also Krankenhäuser, Altenheime, Jugendheime und so weiter. In Hamburgiv hat der Marburger Bund gefordert, Tarifverhandlungen zu führen, ohne sich zunächst zu einem Streikverzicht bereit zu erklären. Die diakonischen Werke haben daraufhin Unterlassungsklagen eingereicht. In Hamm gegen ver.di, in Hamburg gegen den Marburger Bund; sie sollten einen Streik unterlassen. Diese Klagen der diakonischen Werke wurden in Hamburg in drei Instanzen bis zum BAG abgewiesen. In Hamm war die evangelische Kirche in erster Instanz erfolgreich, in zweiter und dritter Instanz wurden die Klagen ebenfalls abgewiesen. Hochinteressant ist die Begründung des BAG in beiden Urteilen. Das BAG hat nicht gesagt, Gewerkschaften haben auch im Bereich der Kirchen ein Streikrecht. Das BAG bestätigte in beiden Entscheidungen, dass der Ausgangspunkt Artikel 137 Absatz 3 Weimarer Reichsverfassung sei; die Kirchen hätten auch in ihrem Bereich im Arbeitsrecht ein Selbstbestimmungsrecht. Dieses Selbstbestimmungsrecht umfasse auch die Konstruktion einer Dienstgemeinschaft. Die Dienstgemeinschaft schließe einen Streik aus. Deshalb sei der dritte Weg durch Artikel 137 Absatz 3 der Weimarer Reichsverfassung verfassungsrechtlich abgesegnet.

Allerdings sagt das BAG dann, wir haben Artikel 9 Absatz 3 Grundgesetz, nämlich die gewerkschaftliche Betätigung und Streikrecht. Und weil es hier um zwei verfassungsrechtliche Gegenpositionen geht, müsse man eine Konkordanz, also ein Zusammenfinden dieser beiden verfassungsrechtlichen Positionen erzielen. Und das BAG sagt, im Prinzip haben dritter Weg und Tarifvertragsrecht und Streikrecht das gleiche Ziel, nämlich einen fairen Interessensausgleich zu finden zwischen Arbeitnehmer oder Dienstnehmer und Arbeitgeber oder Dienstgeber. Sie wollen dieses Ziel nur auf unterschiedlichen Wegen erreichen. Die Kirchen durch ihre paritätisch besetzten arbeitsrechtlichen Kommissionen; das weltliche Recht durch, wenn man so will, die Antinomie zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer und ihren Verbänden. Jedes sei im Prinzip geeignet, allerdings sei es erforderlich, da grundsätzlich die Arbeitnehmerschaft oder Dienstnehmerschaft immer in einer schwächeren Position ist als der Arbeitgeber – das ist ein Grundzug der BAG Rechtsprechung zum gesamten Arbeitsrecht. Es müssen aber beide Seiten gleich stark sein, damit ein fairer Interessenausgleich zu Stande kommt. Und das geht nur, wenn die Arbeitnehmer sich gewerkschaftlich organisieren und in den arbeitsrechtlichen Kommissionen der Kirchen auch Gewerkschaften diese Interessen vertreten können. Das ging bis zu diesem BAG Entscheid nicht. Zwar waren Gewerkschaftler nicht grundsätzlich ausgeschlossen, aber die Kirche hat argumentiert, die können die Arbeitnehmervertreter in den Kommissionen beraten und dann sind die stark. Das BAG sagt ausdrücklich, das reicht nicht. Wenn in diesen Kommissionen verhandelt wird, müssen die Verhandler auch gleich stark sein. Das heißt, es muss möglich sein, dass in den arbeitsrechtlichen Kommissionen hauptamtliche Gewerkschaftsvertreter vertreten sind, nur dann ist die gleichgewichtige Interessensvertretung möglich.

Dieses war bis zum Jahre 2012 nicht der Fall, weshalb das BAG in dem Fall aus Hamm zu dem Ergebnis kommt, die Unterlassungsklage der Kirche abzuweisen, weil eben in den arbeitsrechtlichen Kommissionen diese gleiche Stärke nicht gesichert war. Ich möchte Ihnen einen Leitsatz dieser Entscheidung vorlesen: „Verfügt eine Religionsgemeinschaft über ein am Leitbild der Dienstgesellschaft ausgerichtetes Arbeitsrechtregelungsverfahren, bei dem die Dienstnehmerseite und die Dienstgeberseite in einer paritätisch besetzten Kommission die Arbeitsbedingungen der Beschäftigten gemeinsam aushandeln und einen Konflikt durch den neutralen Vorsitzenden einer Schlichtungskommission lösen (sog. Dritter Weg), dürfen Gewerkschaften nicht zu einem Streik aufrufen.“ Das ist zunächst Artikel 137 der Weimarer Reichsverfassung und es geht weiter: „Das gilt jedoch nur, soweit Gewerkschaften in dieses Verfahren organisatorisch eingebunden sind.“ Da diese Voraussetzung im Moment nicht gegeben war, dass Gewerkschaften mit hauptamtlichen Vertretern in den Kommissionen waren, wurde die Unterlassungsklage der Kirche zurückgewiesen.

Bei dem Fall in Hamburg mit dem Marburger Bund war es etwas kurios. Da hat nämlich das BAG die Unterlassungsklage der Kirche zurückgewiesen mit der Begründung: Ihr könnt nur auf Unterlassung klagen, wenn etwas droht. Der Marburger Bund hat aber euch nicht direkt mit Streik bedroht, sondern er hat nur aufgefordert zu Tarifvertragsverhandlungen und das reicht nicht, um Euch einen Unterlassungsanspruch zuzusprechen. Deshalb wurde auch hier die Klage der Kirche abgewiesen. Gegen beide Entscheidungen wurde dann Verfassungsbeschwerde eingereicht, die aber in beiden Fällen zurückgewiesen wurde mit einer für Juristen einleuchtenden Begründung. Ver.di und der Marburger Bund wollten vom Bundesverfassungsgericht eine Bestätigung bekommen, dass sie ein Streikrecht haben, und wurden zurückgewiesen, weil es hieß: Ihr habt doch gewonnen. Und gegen eine gewonnene Klage könnt ihr nicht Verfassungsbeschwerde einlegen, denn ihr seid ja nicht belastet. Hintergrund ist, dass man mit Rechtsmitteln nicht gegen eine möglicherweise falsche Begründung vorgehen kann, sondern nur, wenn man wirklich belastet ist, und das ist man eben nicht, wenn man gewonnen hat.

Soweit also zunächst die juristische Schilderung, was geschehen ist. Lassen Sie mich jetzt einige kritische Bemerkungen anschließen. Zunächst: Es gibt nirgendwo in der Verfassung, weder im Grundgesetz noch in der Weimarer Reichsverfassung ein Selbstbestimmungsrecht der Kirchen. Damit wird bereits der juristische Kampf gewonnen, dass man Begriffe erfindet. Ich habe den Artikel 137 gerade vorgelesen. Da steht drin, die Kirchen haben in ihrem Bereich das Recht, ihre Sachen selbst zu verwalten. Das ist nun etwas ganz anderes als ein Selbstbestimmungsrecht. Zweitens steht da: „innerhalb der Schranken des für alle geltenden Gesetzes“. Man dachte damals an den Kulturkampf von Bismarck gegen die katholische Kirche und ihre Institutionen. Die Jesuiten zum Beispiel wurden damals verboten. Mit der Formulierung „im Rahmen des für alle geltenden Gesetzes“ sollten negative Gesetze gegen die Kirche verhindert werden. Aber selbstverständlich sind doch das Grundgesetz und die Grundrechte und das Kündigungsschutzgesetz, das Betriebsverfassungsgesetz, das Tarifvertragsgesetz für alle geltende Gesetze. Deshalb hat man eigentlich keinerlei verfassungsrechtliche Grundlage dafür, dass die Kirchen sich aus all diesen Gesetzen ausklammern. Außerdem heißt es eben in Artikel 140 Grundgesetz: Diese Vorschriften der Weimarer Reichs­verfassung gelten weiter. Das heißt so wie sie damals galten. Selbstverständlich hat es gegen kirchliche Institutionen in der Weimarer Zeit Streiks gegeben – und die waren völlig unstrittig. Selbstverständlich fielen auch die Institutionen der Kirche unter das Betriebsrätegesetz, also den Vorgänger des heutigen Betriebsverfassungsgesetzes, und auch das Personalvertretungsgesetz. Und selbstverständlich war, dass unser heutiges Betriebsverfassungsgesetz von 1972 zunächst auch für die Kirchen galt. Es galt nur nach Paragraph 118 der allgemeine Tendenzschutz, der auch für Parteien, für Journalisten und so weiter gilt. Es kam ein Absatz 2 hinein, die Kirchen wurden ausgenommen aus dem Betriebsverfassungsgesetz. Aber allein deshalb, weil man sonst negative Folgerungen in der DDR für die dortigen Kirchen fürchtete. Dass die Kirchen automatisch verfassungsrechtlich draußen sein müssten, ist historisch und auch nach dem Wortlaut falsch. Das ist entstanden durch eine Grundlagenentscheidung des Bundesverfassungsgerichts 1985v und dann immer weiter ausgedehnt worden. Die ist aber meines Erachtens schlicht verfassungswidrig, weil sie eben in den Artikel 137 Absatz 3 etwas hineininterpretiert, was dort gar nicht steht, wenn dort steht: „im Rahmen der allgemeinen Gesetze“.

Obendrein ist die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts völlig widersprüchlich. Denn das Bundesverfassungsgericht sagt: Ja, dieses Selbstbestimmungsrecht endet natürlich bei den Grundprinzipien der Rechtsordnung. Wenn eine Regelung der Kirchen gegen das Willkürverbot, die guten Sitten oder gegen den ordre public verstößt, dann ist eine solche Regelung unwirksam. Lassen Sie mich ein Beispiel aus dem Individualarbeitsrecht und eines aus dem Streikrecht nennen, wo das Bundesverfassungsgericht sich an diese eigenen Grenzen nicht hält. Im allgemeinen Recht gilt nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtsvi die Scheidungsmöglichkeit und folglich die Wiederverheiratungsmöglichkeit als Bestandteil des ordre public, was aus Artikel 6 des Grundgesetzes folge, wonach Ehe und Familie unter dem Schutz der staatlichen Ordnung stehen. Ein Scheidungsverbot des spanischen Rechts verstoße somit gegen den ordre public und könne einer neuen Heirat in Deutschland nicht entgegenstehen. Trotzdem hat es die Kündigung des Chefarztes für rechtmäßig gehalten, der neu geheiratet hat, nachdem er geschieden war. Das heißt, es nimmt sich selbst nicht ernst. Ähnliches gilt für das Streikrecht. Das Streikrecht, das in Artikel 9 Absatz 3 Grundgesetz enthalten ist nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, gehört zum ordre public – zumindest nach Auffassung von Jürgen Kühling, dem ehemaligen Bundesverfassungsrichter, der darüber 2001 ein Gutachten geschrieben hat.vii Ich räume ein, das ist nicht unstreitig. Das heißt, das Bundesverfassungsgericht nimmt sich selbst in seiner Rechtsprechung in Bezug auf das Selbstbestimmungsrecht der Kirchen nicht ernst und deshalb sollten wir auch dieser verfassungsrechtlichen Rechtsprechung nicht folgen.

Wiese: Frau Losem, wir haben gerade von Till Müller-Heidelberg Kritik an der gegenwärtigen Mehrheitsauffassung vom kollektiven kirchlichen Arbeitsrecht gehört. Im Zusammenhang mit den Streiks, die zur Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts 2012 geführt haben, sagte die Diakonie 2011: „Gott bestreikt man nicht.“ Sieht das die katholische Kirche ebenso, wird Gott nicht bestreikt? Welche Rolle spielt die christliche Dienstgemeinschaft nach Meinung der katholischen Kirche in diesem Zusammenhang? Wie hat die katholische Kirche auf die Entscheidungen des Bundesarbeitsgerichts und des Bundesverfassungsgerichts reagiert und wie wird das Arbeitsrecht bei der Caritas beziehungsweise in anderen Bereichen der katholischen Kirche geregelt?

Losem: Ich möchte zu Beginn etwas näher beleuchten, vor welchem Hintergrund die Kirchen tätig werden. Gegen das kirchliche Arbeitsrecht wird immer wieder eingewandt, die Kirchen seien Arbeitgeber wie jeder andere. Kirchliche karitative Träger verhielten sich wie alle übrigen Leistungsanbieter. Deshalb müssten sie sich auch denselben Regeln unterwerfen, die für ihre Konkurrenten gelten. Diese Darstellung lässt das – auch im Selbstverständnis der Einrichtungen – Eigentliche außer Acht: Die Kirche unterhält ihre Einrichtungen nicht um ihrer selbst willen. Sie ist als Institution kein Selbstzweck, sondern ruht auf dem Sendungsauftrag Jesu. Das bedeutet, dass die Kirche und alle ihre Einrichtungen darauf ausgerichtet sind, diesen Sendungsauftrag zu erfüllen – Herr Müller-Heidelberg hat schon darauf hingewiesen. Um das zu erläutern: Die Erfüllung des Sendungsauftrags geschieht in drei Grundvollzügen: zum einen durch die Verkündigung von Gottes Wort (Martyria), zum anderen durch die Feier des Gottesdienstes (Liturgia) und drittens durch die tätige Nächstenliebe (Diakonia). Alle drei Grundvollzüge sind gleichermaßen bedeutend zur Erfüllung des Sendungsauftrags und auch auf einander bezogen. Karitatives Handeln ist deshalb Wesensäußerung der Kirche und alle sogenannten Trägerinteressen haben sich daran auszurichten. Die sozial-karitative Tätigkeit ist vor diesem Hintergrund kein rein sozialer Vorgang, sondern hat eine religiöse Dimension, ist Ausdruck der Gottesliebe. Durch diese religiöse Dimension ihres Auftrags unterscheiden sich die kirchlichen Einrichtungen von anderen, staatlichen, privaten und gemeinnützigen Einrichtungen. Das hat das Bundesverfassungsgericht 2014 nochmal festgehalten und gesagt: „Die von der Verfassung anerkannte und dem kirchlichen Selbstverständnis entsprechende Zuordnung der karitativen Tätigkeit zum Sendungsauftrag der Kirche wird nicht dadurch in Frage gestellt, dass andere Einrichtungen und anders ausgerichtete Träger im Sozialbereich ähnliche Zwecke verfolgen, und rein äußerlich gesehen, Gleiches verwirklichen wollen. Die religiöse Dimension ist insoweit das bestimmende Element der karitativen und diakonischen Tätigkeit, das sie von äußerlich vergleichbaren Tätigkeiten unterscheidet.“viii

Die Kirchen setzen sich natürlich mit Kritik auseinander, die religiöse Auswirkung ihres Wirkens besser sichtbar zu machen. Es ist der Kirche nicht gleichgültig, wenn ein katholisches Krankenhaus oder Altenheim von den Bewohnern nicht hinreichend als solches erkennbar ist. Bei der Evaluation des kirchlichen Arbeitsrechts geht es immer darum zu schauen, wie der Sendungsauftrag noch besser sichtbar und erfahrbar wird. Das macht aber auch deutlich: Die verfassungsrechtlichen Gewährleistungen – die korporative Religionsfreiheit und das Selbstbestimmungsrecht – dienen dazu, dass die Kirchen ihren Sendungsauftrag erfüllen können und gewähren den Kirchen den dafür notwendigen Freiheitsraum. Das kirchliche Arbeitsrecht als eine wesentliche Ausprägung dieser verfassungsrechtlichen Gewährleistungen ermöglicht es den Kirchen, durch Vorgaben struktureller Art, durch Personalauswahl und ein am Leitbild der Dienstgemeinschaft ausgerichtetes konsensuales Arbeitsrechtsregelungsverfahren, die religiöse Dimension ihres Wirkens zu gewährleisten und auch in den Formen des Arbeitsrechts nach innen wie nach außen zu leben. Vor diesem Hintergrund regelt die katholische Kirche ihre Arbeitsverhältnisse im System des dritten Weges. Das schließt, und insoweit möchte ich Herrn Müller-Heidelberg widersprechen, die Existenz unterschiedlicher Interessen nicht aus. Das dem auch nicht so ist, sieht man derzeit an dem aktuellen Tarifstreit zwischen Dienstgeber und Dienstnehmer. Der dritte Weg erhebt aber den Anspruch, die Interessen von Dienstnehmern und Dienstgebern im kirchlichen Dienst in einem konsensualen Verfahren zu einem angemessenen Ausgleich zu bringen. Diesem aus dem kirchlichen Auftrag folgende Anspruch einer friedlichen Ergebnisfindung stehen Arbeitskampfmaßnahmen wie Streik und Aussperrung entgegen. Die Beachtung unterschiedlicher Interessen, deren streitige Behandlung und deren Ausgleich erfolgen im dritten Weg in einer von Parität und Konsens geprägten Verhandlungsstruktur; in von Dienstgebern und Dienstnehmern paritätisch besetzten Kommissionen, deren Entscheidungen bindend sind für beide, sowie einer Schlichtungskommission mit unparteiischen Vorsitzenden, die von jeder Seite bei fehlender Einigung angerufen werden kann. Dieses dem kirchlichen Auftrag entsprechende Verfahren gewährleistet, dass ein angemessener Interessenausgleich stattfindet und keine Seite, auch nicht die Dienstgeberseite, einseitig ihre Interessen durchsetzen kann. Als Folge der Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts aus dem Jahr 2012, auf die die Kirchen natürlich reagiert haben, ist den Gewerkschaften die koalitionsmäßige Betätigung im dritten Weg ermöglicht worden. Das gilt für beide Kirchen. Auch das Schlichtungsverfahren wurde angepasst. Wir haben in den Schlichtungskommissionen jetzt zwei unparteiische Vorsitzende.

Im System des dritten Weges wird eine hohe Tarifbindung kirchlicher Einrichtung gewährleistet, die auch die vielen kleineren und mittleren Einrichtungen der Kirche umfasst. Im Bereich der katholischen Kirche gibt es rund 10.000 Pfarreien und Seelsorgeeinheiten, im Bereich der Caritas rund 9.300 Rechtsträger mit rund 24.000 Diensten, die oft ganz klein strukturiert sind, und sie werden alle im System mit eingebunden. Die Tarifbindung in den Einrichtungen der katholischen Kirche ist damit wesentlich höher als in den vergleichbaren Sektoren der weltlichen Sozialwirtschaft, wo ein beträchtlicher Teil der privatgewerblichen und freigemeinnützigen Arbeitgeber keiner Tarifbindung unterliegt. Wir haben das zuletzt in der „Konzertierten Aktion Pflege“ für den Bereich der Altenpflege gesehen – die Unterlagen sind alle öffentlich zugänglich und auf der Seite des Bundesgesundheitsministeriums eingestellt. Während die kirchlichen Einrichtungen über den dritten Weg im Bereich der Altenpflege voll umfänglich an die kirchlichen Arbeitsrechtsregelungen gebunden sind, ist der nichtkirchliche Bereich in der Altenpflege, der circa 70 Prozent der Beschäftigten erfasst, nur zu 10 bis 20 Prozent tarifgebunden. Insoweit unterstützen wir ausdrücklich die Bemühungen der Gewerkschaften, über den zweiten Weg zu einer höheren Tarifbindung in der Altenhilfe und auch in anderen Bereichen mit niedriger Tarifbindung zu kommen.

Auch das Vergütungsniveau im dritten Weg ist vergleichsweise hoch. Das hat die „Konzertierte Aktion Pflege“ ebenso bestätigt. Im Vergleich der Träger – gemeinnützig wie privat – liegen die Löhne der kirchlichen Träger in der Altenpflege im oberen Bereich. Alle Beschäftigten erhalten zudem eine weitestgehend arbeitgeberfinanzierte betriebliche Altersversorgung, was uns auch von anderen Arbeitgebern unterscheidet. Auf Grund des Wettbewerbs und des Rückzugs vieler kommunaler Träger ist der TVÖD keine Leitwährung mehr. Im Bereich der Altenhilfe liegt der Marktanteil nur noch bei vier bis fünf Prozent. Das ist zu beklagen. Es sind die Kirchen, es ist die Caritas, die sich noch am TVÖD orientiert. Vor dem Hintergrund ist auch nicht erkennbar, dass der dritte Weg den Kirchen irgendwelche Wettbewerbsvorteile beschert, eher das Gegenteil ist der Fall. Insoweit unterstützen wir auch Bemühungen von der Politik und den Gewerkschaften, wieder zu einer besseren Entlohnung der sozialen Arbeit zu kommen.

Als Teil des Selbstbestimmungsrechts ist den Kirchen auch die Gestaltung ihrer Mitbestimmungsordnung verfassungsrechtlich garantiert.ix Der Deckungsgrad an Mitarbeitervertretungen liegt im Bereich der Mitarbeitervertretungsordnung, die es in den Kirchen gibt, auch bei kleinen und mittleren Einrichtungen bei circa 80 Prozent und damit weit über dem Niveau der Betriebsratsdichte im Bereich der Anwendung des Betriebsratsverfassungsgesetzes. Das hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass der kirchliche Dienstgeber die Bildung einer Mitarbeitervertretung nicht nur ermöglichen muss, der kirchliche Dienstgeber ist verpflichtet, auf die Bildung von Mitarbeitervertretung hinzuwirken.

Wenn ich zu der Frage zurückkomme, ob der dritte Weg im kollektiven Arbeitsrecht noch verfassungsrechtlich haltbar und arbeitsmarktpolitisch vertretbar ist, so sind aus unserer Sicht beide Fragen zu bejahen. Der dritte Weg ist verfassungsrechtlich gewährleistet. Dass er arbeitsmarktpolitisch tragfähig ist, machen die eben aufgezeigten guten Ergebnisse deutlich. Zu wünschen wäre, und da haben Sie unsere Unterstützung, eine höhere Tarifbindung im zweiten Weg.

Wiese: Vielen Dank, Frau Losem. Meine nächsten Fragen gehen an Herrn Gembus. Jetzt haben wir gerade von Frau Losem gehört, dass der sogenannte dritte Weg sowohl verfassungsrechtlich garantiert als auch tragfähig sei und es keine relevanten Unterschiede zu den anderen, ohnehin wenig tarifgebundenen Arbeitsverhältnissen gebe. Warum ist ver.di unzufrieden mit den Regelungen der Arbeitsverhältnisse mit den Kirchen, was genau ist der dritte Weg und gibt es überhaupt einen dritten Weg im Arbeitsrecht?

Gembus: An der Stelle möchte ich nochmal ganz deutlich Herrn Müller-Heidelberg danken für die gute Zusammenfassung. Er hat viel vorweggenommen, insofern kann ich mich kürzer fassen.

Es ist so, dass die Kirchen in Deutschland und nicht nur die Kirchen, sondern vor allem die Wohlfahrtsverbände der Kirchen, Diakonie und Caritas, zusammen ungefähr 1,8 Millionen Beschäftigte haben, Tendenz steigend. Das heißt die Kirchen und ihre Wohlfahrtsverbände sind die zweitgrößten Arbeitgeber in ganz Deutschland nach dem öffentlichen Dienst. Das ist die Ausgangslage, wenn darüber diskutiert wird, warum kollektives Arbeitsrecht vergleichbar geregelt werden und mit gleichen Rechten ausgestattet werden muss. Dafür muss man für den Bereich der Wohlfahrtsverbände auch beachten, dass – da reden wir immer noch über 1,3 Millionen Beschäftigte – die Finanzierung für die einzelnen Hilfefelder – sei es für die Krankenhäuser, sei es für die Altenhilfe, im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe – im Prinzip ganz genauso läuft wie bei weltlichen Leistungserbringern. Hier gibt es so gut wie keine eigenen Mittel, die die Kirchen beisteuern, zumindest im Bereich der Wohlfahrtsverbände, sondern die Finanzierung läuft aus Sozialversicherungsbeiträgen und staatlichen Steuermitteln. Das ist wichtig deshalb zu betonen, weil oftmals noch der Vorbehalt im Raum ist, die Kirchen dürften nach eigenen Regeln alles festlegen, weil sie alles aus eigenen Mitteln, aus Kirchensteuermitteln finanzieren.

Die Kirchen agieren gegenüber kommerziellen und kommunalen bzw. öffentlichen Arbeitgebern als Markteilnehmer. Dort stehen sie auch im Konkurrenzdruck. Das ist politisch seit den 1990er Jahren gewollt. Das heißt, sie stehen im Wettbewerb um den Standort und um Fachkräfte.

Frau Losem sagte gerade, da gibt es keine Wettbewerbsvorteile. Das würde ich anders bewerten, weil es durchaus, sicherlich nicht nur im Bereich der Caritas und der katholischen Kirche, aber mit Sicherheit im Bereich der Diakonie und der evangelischen Kirche seit Mitte der 1990er Jahre eine erhebliche Zerfaserung der Tariflandschaft gegeben hat, die dazu geführt hat, dass Löhne abgesenkt und Tarifstrukturen verändert worden sind. Zudem hat eine Ablösung vom Niveau der Tariflöhne im öffentlichen Dienst stattgefunden. Letztendlich muss man sagen, die Kirchen und ihre Wohlfahrtsverbände agieren hier wie ganz normale Arbeitgeber auf dem Arbeitsmarkt.

Es ist mir ein großes Anliegen nochmal darauf hinzuweisen, dass es kein Selbstbestimmungsrecht der Kirchen gibt, sondern es gibt ein Selbstverwaltungs- und Selbstordnungsrecht innerhalb der Schranken des für alle geltenden Rechts. So sieht es Artikel 140 Grundgesetz vor. Da geht es mir nicht um Semantik. Es gibt Regeln, die die Kirchen selber setzen dürfen, aber das ist nicht unbegrenzt möglich, sondern das muss in dem Rahmen passieren, in dem andere Arbeitgeber und Arbeitnehmer sich bewegen. Jetzt ist es natürlich wichtig, dass die Kirchen für sich als Religionsgesellschaften die Freiheiten herausstellen, warum sie eigenes Arbeitsrecht setzen müssen. Sie tun es seit 1949, oder spätestens seit den 1970er Jahren.

Immer wieder wird der Begriff der „Dienstgemeinschaft“ herangezogen. Und dieser Begriff, der als Leitbild leider in der staatlichen Rechtsprechung, sei es durch das Bundesarbeitsgericht oder das Bundesverfassungsgericht, immer wieder herangezogen wird, um die Besonderheiten herauszustellen, ist aus mehreren Gründen problematisch. Der Begriff taucht erstmals auf, als 1934 das Gesetz zur Ordnung der Nationalen Arbeit verabschiedet wurde, wo im Grundsatz geregelt worden ist, dass es das Führer-Gefolgschaftsprinzip gibt und die Tarifautonomie ausgeschaltet worden ist. Auch wenn die Kirchen sich nach 1945 spätestens davon hätten verabschieden können, haben sie den Begriff weiterverwendet, ihn theologisch umgedeutet. Technisch gesehen hat er immer noch den gleichen Zweck: er soll Gewerkschaften, also unabhängige Interessenvertretungen ausschalten; natürlich nicht mit den gleichen Mitteln wie die Faschisten es damals gemacht haben, sondern faktisch ausschalten, als gäbe es keinen Interessengegensatz – was so nicht stimmt. Der klassische Interessen­gegensatz zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern ist genauso vorhanden. Der Begriff ist auch deshalb problematisch, weil es keinen theologischen Konsens über ihn gibt. Die einzigen, die seit Jahren darüber diskutieren, was die „Dienstgemeinschaft“ eigentlich ausmacht, sind Juristen und nicht Theologen.

Wir reden ja heute über kollektives Arbeitsrecht und an der Stelle ist meine Behauptung: Die Arbeitsvertragsrichtlinien, sprich der „dritte Weg“ im kirchlichen Bereich, kann kein kollektives Arbeitsrecht ersetzen. Warum nicht? Wir haben vorhin schon gehört, es gibt den ersten, zweiten, „dritten Weg“. Der erste Weg ist ganz klassisch: Arbeitsbedingungen über einen Arbeitsvertrag zu regeln. Ein Arbeitgeber legt einem Arbeitnehmer einen Arbeitsvertrag vor und sagt, unter diesen Bedingungen werde ich dich beschäftigen. Der Arbeitnehmer kann einschlagen oder weggehen. Der zweite Weg ist ebenso klassisch: Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände verhandeln einen Tarifvertrag. Es gibt eine kollektivrechtliche Vereinbarung, die ganz klar sagt, was unmittelbar und zwingend anzuwenden ist. Das, was im Tarifvertrag steht, gilt für die Beschäftigten. Der „dritte Weg“, also Arbeitsvertragsrichtlinien sind letztlich – und das haben auch die höchstrichterlichen Entscheidungen deutlich gemacht – nichts Anderes als Allgemeine Geschäftsbedingungen. Wenn ich dem Verband als Arbeitgeber mit meiner Einrichtung angehöre, zum Beispiel einem diakonischen Werk, dann muss ich diese Arbeitsvertragsrichtlinien anwenden. Ob die aber für den einzelnen Beschäftigten zur Anwendung kommen, für die einzelne Beschäftigte, hängt davon ab, ob im einzelnen Arbeitsvertrag darauf Bezug genommen wird. Wenn dort Ausnahmen geregelt werden, ist das zulässig. Insofern muss ich immer widersprechen, wenn von der Flächenwirkung der Arbeitsvertragsrichtlinien (AVR) die Rede ist, denn um sagen zu können, ob die AVR wirklich eine Flächenwirkung entfalten, müsste man jeden einzelnen Arbeitsvertrag der 1,3 Millionen Beschäftigten der christlichen Wohlfahrtsverbände prüfen. Mir ist dazu keine Datenlage bekannt. Aus meiner Sicht gibt es deshalb nur zwei Wege, wie Arbeitsrecht für die Beschäftigten im Bereich der Kirchen gesetzt wird: einmal individuell über den Arbeitsvertrag oder über einen Tarifvertrag.

Ich habe vorhin schon einmal gesagt, der Interessensausgleich zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmern muss in Ausgleich gebracht werden, indem man auf Augenhöhe miteinander verhandelt. Auf Augenhöhe können Arbeitnehmer mit ihrem Arbeitgeber nur verhandeln, wenn sie auch aus ihrer strukturellen Schwäche herauskommen. Das passiert historisch gesehen, wenn sie sich in Gewerkschaften organisieren und kollektiv mit dem Arbeitgeber verhandeln. Dazu muss es auch möglich sein, Druck zu entfalten. Denn, wie will ich meinem Gegenüber entgegentreten, der mir von seinen Mitteln her und vielleicht auch fachlich überlegen ist? Dafür ist es aus unserer Sicht notwendig, und das ist zum Glück verbrieft in Artikel 9 des Grundgesetzes, dass wir uns in Gewerkschaften organisieren und notfalls auch zur Ultima Ratio greifen und die Arbeit niederlegen, um ökonomischen Druck – darauf ist Streik ausgerichtet – auf den Arbeitgeber auszuüben. Es wird viel über Streikrecht diskutiert. Mir ist wichtig zu betonen, dass es mitnichten darum geht, Streiks zu führen, sondern dass es darum geht, kollektiv Arbeitsbedingungen und Löhne zu regeln. Wenn wir nicht miteinander verhandeln können, dann ist es notwendig, dass wir zum Mittel des Streiks greifen. Deswegen ist aus meiner Sicht das Streikverbot, wie es in kirchlichen Regelungen vorgesehen ist – zum Beispiel durch die Grundordnung der katholischen Kirche – hinfällig, weil es nicht vorrangig eine juristische Frage ist, ob Tarifverträge in kirchlichen Einrichtungen vorhanden und durchgesetzt werden; sondern sie wird vor allem im Betrieb entschieden.

Unsere Herangehensweise als Dienstleistungsgewerkschaft ist an der Stelle leicht nachvollziehbar: Wenn es Beschäftigte gibt, die ihre Löhne und Arbeitsbedingungen verbessern wollen und sich organisieren, dann werden wir mit ihnen Arbeitskämpfe führen, obwohl möglicherweise in dieser Einrichtung das kirchliche Arbeitsrecht gilt. Ich möchte an dieser Stelle eine Sache noch hervorheben, die Frau Losem zum so genannten Konsensprinzip gesagt hat. Aus meiner Sicht ist es kein Konsensprinzip, wie die Arbeitsvertragsrichtlinien zusammenkommen. Letztlich muss man sich vor Augen führen: Es gibt paritätisch besetzte Kommissionen aus Arbeitgebern und Arbeitnehmern im kirchlichen Bereich. Die Entscheidung wird aber nicht im Konsens getroffen, sondern nach dem Mehrheitsprinzip getroffen, z.B. entweder mit 66 oder 75 Prozent Mehrheit, das ist unterschiedlich im diakonischen und im katholischen Bereich. Letztlich konsensual sind Tarifverhandlungen, weil ein Tarifvertrag, das sagt der Begriff schon, kommt von vertragen. Nur, wenn sich Gewerkschaften und Arbeitgeber bzw. Arbeitnehmerverbände einig sind, können sie einen Vertrag abschließen. Im kirchlichen Weg ist es dagegen so – egal ob katholische oder evangelische Kirche – dass es bei Nicht-Einigung ein Schlichtungsverfahren oder im katholischen Bereich einen Vermittlungsausschuss gibt. Dort wird im Zweifelsfall mit einer Stimme Mehrheit entschieden für mehrere zehn- oder hunderttausende Beschäftigte. Das ist aus meiner Sicht eine Zwangsschlichtung, aber kein Konsens.

Wichtig ist es deshalb festzuhalten, dass Tarifverträge der einzig richtige Weg sein können für die vielen Beschäftigten im Bereich der kirchlichen Wohlfahrtsverbände, um die Interessen der Arbeitnehmer und der Arbeitgeber in einen vernünftigen Ausgleich zu bringen. Dazu müssen alle Mittel für die Beschäftigten zur Verfügung stehen, das haben die Gerichte bestätigt. Es mag unter bestimmten Voraussetzungen möglich sein, dass Streik ausgeschlossen werden kann. Diesen Teil hat das BAG aber offengelassen. Das ist der Grund, warum sich ver.di nicht an der Mitarbeit in der arbeitsrechtlichen Kommission beteiligt, weil wir grundsätzlich unsere Arbeitsbedingungen für unsere organisierten Kolleginnen und Kollegen über Tarifverträge regeln wollen.

Ich will noch einige Sätze zum Thema kollektive Mitbestimmung im Betrieb sagen: Ja, die Kirchen haben eigene Mitbestimmungsgesetze neben den Personalvertretungsgesetzen und dem Betriebsverfassungsrecht. Auch da muss man sagen: es ist leider eine materielle Schlechterstellung gegenüber den Interessenvertretungen. Man muss ehrlicherweise zugeben: Es gibt eine höhere Quote von gewählten Interessenvertretungen als im weltlichen Bereich, vor allem im privatrechtlichen Bereich. Aber was nützt eine höhere Quote von Interessenvertretungen, wenn unter dem gesetzten Kirchenrecht die Durchsetzung der kollektiven Rechte letztlich schwächer ist, es eine schwächere Mitarbeitervertretung und eine schwächere Durchsetzungsfähigkeit von kirchenrechtlichen Beschlüssen begründet. Dafür gibt es praktische Beispiele. Insofern lautet die Forderung von ver.di ganz deutlich: Das Betriebsverfassungsgesetz muss Anwendung finden, mindestens innerhalb des Tendenzschutzes. Momentan ist letztlich das Mitbestimmungsrecht für kirchliche Einrichtungen über den Paragraph 118 Absatz 2 BetrVG ausgeschlossen. Dieser gehört abgeschafft und es sollten darüber hinaus normale weltliche Standards gelten.

Wiese: Vielen Dank Herr Gembus. Herr Twardy, Sie sind Vertreter des Marburger Bund. Der Marburger Bund vertritt im Vergleich zu ver.di fast ausschließlich Ärzte und Ärztinnen, nicht jedoch Pflegekräfte. Sie sind einerseits auch Beklagte gewesen im BAG Verfahren und Beschwerdeführer beim Bundesverfassungsgericht, zugleich sind Sie aber auch als Verbandsvertreter Mitglied in der Arbeitsrechtlichen Kommission der Caritas. Trägt der Marburger Bund dadurch das kollektive kirchliche Arbeitsrecht in Teilen mit? Funktioniert das Tarifsystem der christlichen Kirchen, oder wünschen Sie sich doch einen zweiten Weg für die kirchlichen Träger?

Twardy: Das sind ein paar Aspekte, auf die ich eingehen will. Tragen wir als Gewerkschaft das Regelungssystem zumindest bei der Caritas und der Diakonie, da wo wir uns beteiligen, mit? Nein, das tun wir grundsätzlich nicht. Wir haben im Übrigen wie ver.di den gleichen Anspruch, dass wir Arbeitsbedingungen kollektivrechtlich durch Tarifverträge regeln. Das machen wir auch überall da, wo das funktioniert. Im Bereich von Caritas und Diakonie geht das mutmaßlich – ich bin insofern auch Herrn Dr. Müller Heidelberg für die verfassungsrechtliche Einordnung sehr dankbar – bislang nicht. Allerdings: Bei Caritas und Diakonie findet die kollektiv-arbeitsrechtliche Rechtssetzung nicht durch Tarifverträge statt, sondern in aller Regel durch allgemeine Geschäftsbedingungen. Das ist in ihrer Rechtsqualität ein Unterschied und für uns auch ein Stück weit die Rechtfertigung, dass wir uns an dieser Form der Rechtsfindung beteiligen; allerdings ganz bewusst nicht an sogenannten kirchlichen Tarifvertragssystemen.

Wir sind, das haben Sie gesagt, seit Anfang 2017 als Gewerkschaft an der arbeitsrechtlichen Kommission des deutschen Caritas-Verbandes beteiligt. Die damalige Entscheidung, Gewerkschaftsvertreter in dieses System der Arbeitsrechtsfindung zu entsenden, war bei uns im Verband – mutmaßlich auch im Caritasverband – hochgradig umstritten. Die Kritiker bei uns haben in erster Linie befürchtet, dass wir uns durch eine Teilnahme letztlich zum Feigenblatt eines Systems machen, das durch eine lediglich im homöopathischen Maße vorhandene Beteiligung von Gewerkschaften versucht, gerichtliche Vorgaben umzusetzen, um sich weiterhin einer wirksamen kollektiven Rechtssetzung zu entziehen. An dieser Kritik ist etwas dran, das muss ich zugeben. Gleichwohl glaube ich, glaubt unser Vorstand, dass wir nur durch die Mitwirkung in diesem System den Beweis für seine Untauglichkeit erbringen können. Und ich glaube, dem System selbst ist der Beweis in den vergangenen vier Jahren mehr als geglückt. Bei allem Respekt für die Arbeit, für den Einsatz, für die Motivation der allermeisten der gewählten Mitarbeitervertreter und auch einiger Arbeitgebervertreter in dieser Kommission – dieser Befund fällt nach vier Jahren dennoch relativ eindeutig aus. Das kann man zum einen am Nachvollziehen der Tarifverträge des öffentlichen Dienstes, aber auch jüngst bei der vermeintlichen Übernahme des Tarifabschlusses zum TV-Ärzte/VKA ablesen: das System der kollektiven Rechtssetzung bei der Caritas führt zu tendenziell schlechteren Ergebnissen als in den referenzierten Tarifbereichen. Wir glauben, dass es auf Grund seiner Strukturen langsamer, weniger agil und letztlich nicht geeignet ist, eine Dynamik zu entfalten, die notwendig ist, um konflikthafte Verhandlungssituationen zu überwinden. Aus unserer Sicht ist die Annahme des BAGs, dass durch verfahrensrechtliche Voraussetzungen – also die Einbindung der Gewerkschaften, die verpflichtende Übernahme von Ergebnissen, eine verbindliche Schlichtung zur Beseitigung von Konflikten – ein System gefunden wird, welches unter Berücksichtigung der Besonderheiten des kirchlichen Dienstes zu einer letztlich vergleichbaren Qualität in der Rechtssetzung führt wie das profane System kollektiver Arbeitsbeziehungen, schlicht falsch. Diese Annahme hat sich nach unserer Erfahrung in der Praxis, zumindest in der konkreten Gestaltung des dritten Weges beim deutschen Caritas-Verband nicht bestätigt.

Diese Standortbestimmung kann schon dann vorgenommen werden, wenn eine Voraussetzung, die das BAG aufgestellt hat, nicht erfüllt ist. Ich glaube, bei der Caritas werden alle drei Voraussetzungen durch die AK-Ordnung nicht erfüllt: Weder ist der Grad der Einbindung der Gewerkschaften so hinreichend, dass man sagen kann, die kollidierenden Grundrechte befinden sich tatsächlich in einem Ausgleich; noch erzielt das Vermittlungsverfahren letztlich nachvollziehbare und akzeptable Ergebnisse. Und bei der Frage der Verbindlichkeit des gesetzten Rechtes: auch da wissen wir inzwischen, dass es keinen rechtlichen Mechanismus gibt, einzelne Dienstgeber an die gefundenen Ergebnisse zu binden. Die Frage, in welchem Rahmen auf allgemeine Geschäftsbedingungen und die AVR individualarbeitsrechtlich Bezug genommen wird, kann letztlich jeder Dienstgeber, jede karitative Einrichtung für sich selbst entscheiden. Ob daraus vereinsrechtliche Sanktionen folgen, ist zwar eine interessante Frage, hat aber für die Rechtswirkung der in Bezug genommenen Regelungen überhaupt keine Bedeutung.

Ich will mich auf einen Punkt konzentrieren: die Frage nach mehr Einbindung der Gewerkschaften. Für die Gewerkschaften, tatsächlich ist es im Augenblick ausschließlich der Marburger Bund, der an der Arbeitsrechtssetzung der Caritas teilnimmt, sind in der 62-köpfigen Bundeskommission drei Plätze vorgesehen. Das sind fünf Prozent. Wenn man sich nur die Mitarbeiterbeteiligung anschaut, ist es der doppelte Prozentsatz. Dass das auf wenig Begeisterung von Gewerkschaften stößt, die üblicherweise ihre Verhandlungskommissionen ausschließlich mit eigenen Leuten besetzt oder im Falle von Tarifgemeinschaften allerhöchstens noch mit anderen Gewerkschaften teilt, dürfte klar sein. Ich glaube ja auch, dass der deutsche Caritasverband damit zum Ausdruck bringt, welche Mitwirkung und welche Einflussmöglichkeiten er von den Gewerkschaften erwartet. Nach vier Jahren Teilnahme an arbeitsrechtlichen Kommissionen muss ich sagen: viel mehr Einflussmöglichkeiten, als es allen Beteiligten so unangenehm wie möglich zu machen, hatte ich als Gewerkschaftsvertreter von dieser Form der Zusammensetzung nicht.

Den Gewerkschaften stehen weder bei der Meinungsbildung, noch bei einzelnen Verfahren wie zum Beispiel dem Vermittlungsverfahren besondere Rechte zu. Unsere Stimmen haben kein besonderes Gewicht, das sich von denen der gewählten Mitarbeitervertreter unterscheidet. Das einzige Sonderrecht, das wir haben: Wir können entsenden und müssen uns nicht wählen lassen. Jetzt kann man zwar annehmen, dass diese Gestaltung dem Wortlaut der BAG Entscheidung entspricht. Wenn man sich anschaut, welche Zielsetzung eigentlich dahinter steht – nämlich Ausgleich widerstreitender Grundrechte im Wege der praktischen Konkordanz – dann habe ich so meine Zweifel. Für die Caritas wurde lediglich der logistische Aufwand durch Beteiligung von Gewerkschaftsvertretern geringfügig erhöht. Auf der anderen Seite verlangt man von den Gewerkschaften, weiterhin auf ein maßgebliches Instrument der koalitionsmäßigen Betätigung zu verzichten. Die konkrete Einbindung der Gewerkschaften auf dem dritten Weg der Caritas entspricht nicht den Vorgaben des BAG.

Wenn ich mir die Schlichtung anschaue, muss man die Frage stellen, ob denn von der Verhandlungsdynamik dieses Schlichtungsverfahren überhaupt geeignet ist, beide Parteien zu einem zielgerichteten Umgang miteinander zu bewegen. Denn üblicherweise sind die Parteien durch Arbeitskampfmaßnahmen, durch deren Androhung oder allein schon die Feststellung, dass beiden Parteien so etwas wie Arbeitskampfmaßnahmen zur Verfügung stehen, in der Lage, bestimmte Situationen zu verändern. Alleine das Antizipieren, dass der einen oder anderen Seite Streiks oder Aussperrungen zur Verfügung stehen, bewirkt etwas in der Verhandlungsdynamik. Das Bundesarbeitsgericht hat mit Blick auf den dritten Weg angenommen, dass die Verlagerung auf eine andere Verhandlungsebene – die Schlichtung – dazu geeignet ist, bestimmte Unwägbarkeiten für beide Seiten zu schaffen, so dass die Gefahr eines kollektiven Bettelns wirksam ausgeschlossen wird. Nach meinen Erfahrungen aus den letzten vier Jahren hat diese Unwägbarkeit nicht ausgereicht, um in irgendeiner Weise Dynamik zu erzeugen. Wenn die Vorsitzenden des Schlichtungsverfahrens sagen, ein Thema wie die Tarifentwicklung ist zu komplex für die Schlichtung, als dass wir es jetzt entscheiden wollen, dann reicht es für die Arbeitgeberseite im Zweifelsfall, Nein zu sagen. Und dann ist das Thema erledigt. Um es mal überspitzt zu formulieren: Die einzige Unwägbarkeit, die im Moment mit dem Verfahren verbunden ist, ist die, ob die Vorsitzenden überhaupt bereit sind, sich des Verfahrens anzunehmen. Das bringt uns in der Tat nicht so richtig weiter.

Lange Rede, kurzer Sinn: Ich glaube, dass Verfahren der kollektiven Rechtssetzung zumindest bei der Caritas ist an seine Grenzen gekommen. Ich halte es rechtlich für nicht mehr geboten, ein solches Regelungssystem vorzuhalten. Und im Übrigen ist es auch faktisch nicht notwendig.

Wiese: Vielen Dank, Herr Twardy. Herr Professor Dr. Klumpp, Till Müller-Heidelberg hat eben erläutert, dass das Bundesverfassungsgericht mit der weiten Anerkennung des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts gerade in Bezug auf das Arbeitsrecht letztlich verfassungswidriges Verfassungsrecht schaffe. Sie wiederum haben 2015 in einem Streitgespräch in der Legal Tribune Online mit dem Theologen Helmut Kress geäußert: „Die Kirchen dürfen das. Die dürfen Tarifverträge und Streiks ausschließen.“ Warum dürfen die Kirchen das Ihrer Meinung nach?

Klumpp: Herr Müller-Heidelberg hat ja die maßgeblichen Urteile wunderbar dargestellt, wie man es im Hörsaal nicht besser machen könnte. Das gilt jedenfalls aus meiner Sicht für den ersten Teil der Darstellung, bei der Bewertung habe ich eine andere Einschätzung. Das Bundesverfassungsgericht judiziert, dass das kirchliche Selbstbestimmungsrecht auch in diesen kollektiv-arbeitsrechtlichen Bereich, oder besser in die Festsetzung, wie kollektivarbeitsrechtliche Arbeitsregeln gefunden werden, hineinstrahlt. Nun wird man glaube ich zunächst nicht weiterkommen bei der Ausarbeitung dieses Kirchenartikels, insbesondere des Selbstbestimmungsrechts, wenn man auf die vermeintlich geringere verfassungsrechtliche Dignität der Weimarer Verfassung verweist. Die Kirchenartikel sind substantieller Teil des Grundgesetzes. Sie sind nicht in der Weimarer Verfassung gleichsam eingefroren. Was wir gestern schon gehört haben – dieser Außenpluralismus, der ermöglicht werden soll – der spielt auch hier eine Rolle. Die Ausgangsposition von BAG und Bundesverfassungsgericht war die grundsätzliche Möglichkeit der Gestaltung kollektivrechtlicher Regeln. Auch das ist vom kirchlichen Selbstbestimmungsrecht umfasst, allerdings nicht grenzenlos. Die Kirchen können hier nicht willkürlich Recht setzen und einseitig, durch den kirchlichen Arbeitgeber, Vertragsbedingungen vorgeben, sondern nur auf dem vorgesehenen Verfahren. Durch die Rechtsprechung wurden die grundsätzlichen Möglichkeiten der Festsetzung des kollektivrechtlichen Systems durch die Kirchen eingegrenzt, und zwar auf der Grundlage einer Abwägungslösung.

Als ich mich auf die heutige Veranstaltung vorbereitet habe, habe ich in die Diskussion der ersten Berliner Gespräche reingeschaut. Herr Müller-Heidelberg war auch dabei und hat sich eingebracht. Damals dräute diese Abwägungslösung so ein wenig am Horizont; sie wurde skizziert, aber es wurde auch noch vertreten, die Kirchen könnten das letztlich selbst festlegen. Das ist jetzt auch im kollektiven Arbeitsrecht nicht mehr so. Das BAG sagt: wir müssen abwägen.x

Übrigens noch eine kleine Konnotation: Die Dynamik, die wir bei Fragen der Einstellung und der Loyalitätspflichten gestern dargestellt bekommen haben, die insbesondere durch die unionsrechtliche Komponente eingepflegt wurde, die haben wir im Bereich der kollektiven Regelungsfindung nicht. Das liegt daran, dass die Europäische Union keine Kompetenz hat, zu Koalition und Arbeitskampfrecht überhaupt Regelungen zu treffen. Deshalb sind wir hier auf ein Urteil des BAG angewiesen, das aus meiner Sicht durchaus richtig ist in seiner Grundtendenz.

Zweiter Punkt: Das BAG hat in diesem Urteil keine Ordnung des dritten Weges vorgegeben, sondern es hat Punkte vorgegeben, die aus der Abwägung fließen. Das Bundesverfassungsgericht hat das so formuliert, dass das BAG eben keine subsumierbaren Vorgaben getroffen hätte.xi Das ist positiv formuliert. Etwas anders formuliert aus der Sicht der Rechtsanwender des dritten Weges: Ob die einzelnen Ordnungen diesen Vorgaben zur Abwägung im Detail entsprechen, muss anhand jeder einzelnen Ordnung des dritten Weges festgestellt werden. Auch da noch eine kleine Konnotation: Den dritten Weg als solchen, den gibt es gar nicht. Es gibt letzten Endes viele dritte Wege: Die einzelnen Bistümer, Landeskirchen, die Diakonie, die Caritas haben einzelne Ordnungen, die zwar in den Grundkonstanten gleich sind, aber in Mehrheitsverhältnissen, in der Frage der Repräsentation der Gewerkschaften und so weiter durchaus unterschiedlich sind.

Jetzt zwei Punkte, die sich bei meinen Vorrednern aufgetan haben. Einmal hat Herr Müller-Heidelberg das Bundesverfassungsgericht kritisiert, widersprüchlich zu sein, indem er den ordre public angesprochen hat (er hat aber auch ehrlicherweise gesagt, dass das nicht die vorherrschende Meinung ist). Ich kann ihm da nicht folgen. Das Streikrecht, also das Recht, zur Durchsetzung kollektiver Interessen und kollektiver Arbeitsbedingungen auch die Arbeit niederzulegen und Druck auszuüben, dieses Streikrecht ist genauso wie sein Pendant, das Aussperrungsrecht auf Seiten der Arbeitgeber, nach herrschender Meinung, auch nach der Rechtsprechung BAG und Bundesverfassungsgericht nicht Selbstzweck, sondern es ist tariffunktional. Deshalb gibt es zum Beispiel auch keine politischen Streiks. Ich darf als Gewerkschaft zum Streik aufrufen, wenn ich Tarifverträge durchsetzen will. Diese Tarifverträge und das Ansinnen, diese zu schließen, stehen unter dem Schutz der Tarifautonomie, die der größte und wichtigste Teil der Koalitionsfreiheit ist. Aber sowohl das BAG wie auch das Bundesverfassungsgericht in der ablehnenden Entscheidung – jedenfalls zwischen den Zeilen – sagen: Dieser Tarifweg, also der Abschluss von Tarifverträgen zur Grundlegung von Arbeitsbedingungen, ist nicht der einzige Weg zur Ausübung von Koalitionsfreiheit. Im Rahmen des Selbstbestimmungsrechts können die Kirchen auf das Konsensualverfahren setzen. Auch die Dienstgemeinschaft kann Interessengegensätze aufbereiten und gegensätzliche Interessen zum Ausgleich bringen. Das bedeutet also: Streikrecht ist tariffunktional, der Tarifvertrag aber nicht das einzige Mittel, kollektive Interessen durchzusetzen.

Allerdings ist das Streikrecht natürlich bei der Tarifauseinandersetzung das wesentliche Mittel, um Verhandlungsblockaden aufzubrechen. Es dient gleichsam als Überdruckventil. Ansonsten könnten die Gewerkschaften ihre Ansinnen gegenüber hartgesottenen Arbeitgebern nicht durchsetzen. Wenn die mit einem schlichten „Nein“ sagen könnten, es gibt keine Lohnerhöhung, dann wäre das nicht zielführend. Vielmehr kann dann gestreikt werden und dann kommt es zur Druckausübung und zur so genannten Gegenmachtbildung. Und deshalb mahnt das BAG auch für den dritten Weg so ein Überdruckventil durchaus an. Und dieses liegt in der Schlichtung, die in den einzelnen Ordnungen durchaus kompliziert ausgestaltet ist. Aber aus Sicht der Rechtsprechung ist diese Notwendigkeit der Schlichtung konstitutiv. Wenn es die nicht gäbe, dann wäre auch der dritte Weg nicht anzuerkennen, jedenfalls nicht in dieser konkreten, schlichtungsfreien Form.

Ein weiterer Punkt: Es wurde immer gesagt, dass die Arbeitsvertragsrichtlinien, also das Produkt der arbeitsrechtlichen Kommissionen des dritten Weges, letztlich AGBs, allgemeine Geschäftsbedingungen seien. Das ist auch vertragsfunktional völlig richtig. Die andere Frage ist: Wie kommen solche Regelungen im einzelnen Arbeitsverhältnis an? Im Tarifvertrag ist das relativ einfach. Für den gilt – jedenfalls, wenn Mitgliedschaft im tariflichen Verband besteht auf beiden Seiten – seine Regelungen gelten unmittelbar und zwingend. Das heißt, es kommt sofort und gesetzesgleich zur Anwendung und zur Wirkung im einzelnen Arbeitsverhältnis und es kann nicht zu Lasten der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer von diesen Regelungen abgewichen werden. Besser geht immer, schlechter geht nicht. Genau eine solche Anordnung der normativen Wirkung von AVR des dritten Weges gibt es nun nicht. Wenn sie die Ordnungen bei den Kirchen lesen, finden sie durchaus Sätze geschrieben, wie ‚Diese Regelungen gelten normativ; sie gelten unmittelbar, sie sind normativ und zwingend.‘ Aber man ist sich sehr einig, dass die Kirchen mit dieser Anordnung nicht ins einzelne Arbeitsverhältnis durchdringen können. Es bedarf, um die Regelung zu transportieren, eines Transformationsaktes – und das ist der Arbeitsvertrag. Wenn die Kirchen ein Arbeitsverhältnis begründen, dann wählen sie den Arbeitsvertrag, dann wählen sie das Arbeitsrecht. Sie können nicht gleichsam losgelöst von diesem Arbeitsvertrag unmittelbar Arbeitsverhältnisse bestimmen. Man muss also unterscheiden die Frage des Zustandekommens dieser AVR und der Frage ihres Regelungstransports. Dieser Regelungstransport geschieht arbeitsvertragsrechtlich und durch die AGBs.

Allerdings wird das besondere Zustandekommen dieser AVR auch in der Rechtsprechung aufgenommen bei der Frage: Wie behandeln wir eigentlich diese Regelungen? Kontrollieren wir die wie „normale“ AGBs? Das ist nicht der Fall. Verkürzt gesagt geht die Rechtsprechung davon aus, dass diese AVR des dritten Weges so kontrolliert werden, wie auch Tarifverträge kontrolliert würden: nämlich nur auf Gesetzesverstoß und nicht auf Angemessenheit; jedenfalls wenn der Geltungsbereich dieser AVR eröffnet ist. Das spiegelt die vertragsrechtliche Kontrolle dieses System des dritten Weges wider. Das gibt ihm durchaus eine Dignität oder, wie man bei Tarifrecht sagen würde, eine Richtigkeitsgewähr. Allerdings: Auf der Ebene des Arbeitsvertrages verhindert letztlich keine kirchengesetzliche Vorgabe, dass der einzelne kirchliche Arbeitgeber mit dem einzelnen Arbeitnehmer oder der einzelnen Arbeitnehmerin von den AVR abweichende, auch für die Arbeitnehmerin/den Arbeitnehmer negativ abweichende Regelungen vertraglich trifft. Es gilt hier die Arbeitsvertragsfreiheit. Ich habe hier im Vergleich zum Tarifvertrag nicht diese zwingende Wirkung. Was bedeutet das? Wenn das geschieht, da ist man sich sehr einig, katapultiert sich der Arbeitgeber aus dem dritten Weg heraus, weil die verbindliche Anwendung ein maßgebliches Konstitutivum ist. An dieser verbindlichen Anwendung des dritten Weges ist nach meiner Erinnerung auch das Unterlassungsbegehren in dem Fall, den Herr Müller-Heidelberg genannt hat, letztendlich gescheitert. Man kann es sich als Arbeitgeber quasi aussuchen, welche Regelungen gelten, um das ein wenig flapsig zu formulieren. Wenn man aber abweicht, fällt man aus dem dritten Weg heraus, weil man dieses System selbst negiert hat. Insofern ist das auch eine Möglichkeit, die Einheitlichkeit des dritten Weges zu gewährleisten. Sie sehen, es ist eine recht schwierige Melange aus diesen Fragen: wie kommen Regelungen zustande und wie werden sie letzten Endes ins einzelne Arbeitsverhältnis transportiert.

Wiese: Vielen Dank, Herr Professor Dr. Klumpp, für diese sehr illustrativen Erörterungen zum kirchlichen Arbeitsrecht. Till Müller-Heidelberg hat sich gemeldet hinsichtlich einer Frage zu den Äußerungen von Herrn Klumpp über die ersten Berliner Gespräche. Dann gibt es eine Frage von Hartmut Kress an Frau Losem hinsichtlich Paragraph 118 Betriebsverfassungsgesetz und den Gründen für dessen Fortgeltung. Und ich nehme gleich noch eine dritte Frage an die beiden Gewerkschaftsvertreter hinzu: Wo liegen die konkreten Unterschiede zwischen den Gehältern in christlichen Einrichtungen und den Gehältern, die vereinbart worden sind im zweiten Weg über Tarifverhandlungen?

Müller-Heidelberg: Sie sprachen die ersten Berliner Gespräche an, wo übrigens eine Reihe ehemaliger und aktiver BAG-Richter und Bundesverfassungsrichter teilgenommen haben. In diesen Gesprächen haben damals zwei aktive Bundesverfassungsrichterinnen, nämlich Frau Christine Hohmann-Dennhardt und Frau Renate Jaeger, übereinstimmend etwas wie mir scheint ganz Entscheidendes gesagt. Sie haben nämlich gesagt: Man mag diese Selbstbestimmung der Kirchen ja im eigentlichen Proprium akzeptieren – Proprium nicht nur der Amtskirche, sondern auch bei Diakonie und Caritas – aber wir müssen doch beachten, dass in einem weiten Bereich alle diese Institutionen öffentlich finanziert werden. Und kann es dann wirklich sein, dass in diesen öffentlich finanzierten Institutionen das staatliche Recht außen vor bleibt, sowohl das individualrechtliche als auch das kollektivrechtliche? Sie waren beide damals aktive Verfassungsrichterinnen, natürlich durften die sich nicht weit vorwagen. Mir scheint das ein ganz wichtiger Gesichtspunkt in dieser Diskussion über die Berechtigung des dritten Weges.

Außerdem möchte ich einen Punkt in den Äußerungen von Herrn Klumpp korrigieren: Die Rechtsprechung hat schon immer den dritten Weg als nicht gleichwertig anerkannt mit dem zweiten Weg der Aushandlung von Tarifverträgen durch Arbeitgeber und Gewerkschaften. Seit der Entscheidung des BAG vom 6.11.1996xii steht fest, dass die AVR eben keine Tarifverträge sind, sondern nur Allgemeine Geschäftsbedingungen, wie sie auch sonst Arbeitgeber in ihren vorformulierten Arbeitsverträgen den Arbeitnehmern stellen, und dass die AVR daher nicht wie Tarifverträge und Gesetze einen angemessenen Ausgleich zwischen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerinteressen darstellen. Ihre Regelungen sind daher von den Arbeitsgerichten nicht schlicht hinzunehmen, sondern werden wie AGB nach §§ 305 ff. BGB auf Angemessenheit überprüft, bestätigt vom BAG in seiner Entscheidung vom 17.11.2005xiii.

Losem: Herr Kress hat nach der Begründung gefragt, warum der Tendenzschutz für die Kirchen nicht ausreicht und warum der Paragraph 118 Absatz 2 BetrVG, aufgrund dessen wir ein eigenes Mitarbeitervertretungsrecht haben, immer noch gültig ist. Er bittet um „nicht-theologische Argumente“. Nun habe ich eben ausgeführt, dass der Kirche der Freiheitsraum verfassungsrechtlich gewährt wird, den sie unter anderem mit dem kollektiven Arbeitsrecht, dem dritten Weg wie auch der Mitarbeitervertretung ausfüllt, um die religiöse Dimension ihres Wirkens verwirklichen zu können. Da liegt genau der Unterschied: Es bedarf einer theologischen Grundlegung oder Plausibilisierung. Ein reiner Tendenzschutz trifft die Sache nicht. Es geht darum, auch die innere Organisation am Sendungsauftrag auszurichten und sowohl Dienstgeber als auch Dienstnehmer in dieser Auftragserfüllung gemeinsam verbunden zu wissen. Dies betrifft nicht nur einzelne Positionen, sondern die Organisation als Ganzes und dies gewährleistet Paragraph 118 Absatz 2 BetrVG. Das ist nach wie vor aktuell. Wenn man den Kirchen diese Freiheitsgewährleistungen nimmt, die kirchlichen Einrichtungen am kirchlichen Proprium auszurichten, entzieht man ihnen sozusagen den Grund für das kirchliche Wirken in der Welt. Theologisch gewendet wirkt die Kirche mit ihren Einrichtungen in die gesellschaftliche Wirklichkeit zur Verwirklichung des Gottesreiches hinein. Das ist ein ganz fremder Satz und Sie mögen darüber Stirnrunzeln, aber deshalb ist die Kirche in der Welt tätig. Caritas ist keine AWO, Caritas ist keine Parität. Caritas ist kein rein soziales Handeln, sondern aus theologisch Perspektive Ausdruck dieser Gottesliebe wie der Liebe Gottes zu den Menschen. Es ist das kirchliche Bemühen, dies deutlich zu machen. Der Anspruch einer friedlichen Ergebnisfindung im dritten Weg, eben keines Arbeitskampfes, ist Ausdruck dieses Sendungsauftrags, dem Dienstgeber wie Dienstnehmer als Dienstgemeinschaft verpflichtet sind. Wenn es diesen dritten Weg nicht mehr gäbe, müssten sich die Kirchen etwas Anderes überlegen, das diese Gemeinschaft zum Ausdruck bringt und dem Sendungsauftrag Rechnung trägt. Wir sind nicht reine Interessenvertreter. Die Mitarbeitervertreter vertreten selbstverständlich die Interessen ihrer Mitarbeiter, die Dienstgeber tun das auch. Aber sie haben eben dieses gemeinsame Verständnis, auf dies Erfüllung des Sendungsauftrags hinzuwirken.

Wir haben jetzt keine kirchlichen Dienstnehmer- und Dienstgebervertreter hier auf dem Panel. Aber ich nehme an, sie würden ihre eigene Rolle selbst nicht als so schwach bezeichnen. Auch die Mitarbeitervertreter sehen sich nicht so, wie Herr Twardy das gerade gesagt hat. Die guten Ergebnisse, die im dritten Weg erzielt werden, sind auch mit ihr Verdienst. Um ein kollektives Betteln kann es sich da also nicht handeln, insbesondere nicht angesichts der Wettbewerbssituation, die wir haben. Die Altenpflege ist ein gutes Beispiel: Wir haben einen deutlichen Rückgang der kommunalen Träger, die nur noch einen vier- oder fünfprozentigen Marktanteil haben, und wir haben eine Zunahme privatgewerblicher Einrichtungen, die bei ungefähr bald 50 Prozent liegen. Der kirchliche Anteil ist durchaus etwas zurückgegangen in den letzten 20 Jahren auf Grund der Wettbewerbssituation. Aber die Kirchen sind die, die sich zumindest noch am TVÖD orientieren und versuchen, mit einer betrieblichen Altersvorsorge gute Arbeitsbedingungen zu gewährleisten. Wenn man die Löhne vergleicht, kann man da große Unterschiede feststellen. Das spricht auf keinen Fall gegen den dritten Weg. Das heißt aber auch nicht, dass wir nicht dafür sind, dass der zweite Weg im nichtkirchlichen Bereich stärker wird und dass wir da auch an der Seite der Gewerkschaften stehen. Wir sind für eine hohe Tarifbindung, weil wir auch vor dem Hintergrund der katholischen Soziallehre sagen, dass Sozialpartnerschaft ein wichtiges Instrument ist, zu guten Arbeitsbedingungen zu kommen. Aber wir sollten nicht den zweiten und den dritten Weg ständig gegeneinander ausspielen.

Wiese: Vielen Dank Frau Losem. Es sind mittlerweile noch weitere Fragen an Sie gekommen; und zwar zur Unternehmensmitbestimmung, wie die funktioniert oder wie Ihre Ansichten damit übereinstimmen, dass es keine Unternehmensmitbestimmung in Ihren Häusern gibt; und zur christlichen Dienstgemeinschaft, ob die tatsächlich einen faschistischen Hintergrund hat.

Losem: Nicht nur in der jetzigen gesellschaftlichen Situation ist das sehr, sehr schwierig, einen Bezug der Dienstgemeinschaft zum Faschismus aufzumachen. Ich kenne diese Versuche der historischen Herleitung des Begriffes. Aber es ist doch außer Zweifel: das, was wir mit der christlichen Dienstgemeinschaft vorfinden, ist etwas völlig Anderes. Hier geht es um eine theologische Begründung, die überhaupt nichts damit zu tun hat. Dies möchte ich ausdrücklich klarstellen. Ich finde einen solchen Vergleich in der jetzigen Situation ausgesprochen unangemessen.

Wiese: Vielen Dank. Jetzt Fragen insbesondere an Herrn Twardy und Herrn Gembus, die sich darum drehen, dass auch die Tarifbindung im zweiten Weg nachlasse und ob in Bezug darauf der dritte Weg nicht doch besser sei. Dann: Wo konkrete Unterschiede in den Gehältern liegen zwischen Caritas, Diakonie im Vergleich zu den weltlichen Trägern und ob wir nicht insgesamt im Pflegebereich eine neoliberale Auswirkung wahrnehmen mit Drücken von Gehältern, was sowohl die weltlichen als auch die christlichen Träger betreffe.

Gembus: Zur Frage der Gehälter möchte ich sagen, dass es tatsächlich unterschiedliche Niveaus sind. Letztlich kann man nicht einen Tarifvertrag mit dem anderen pauschal eins zu eins vergleichen. Wir haben allein im Gesundheits- und Sozialwesen in ganz Deutschland im Organisationsbereich von ver.di rund 3.100 Tarifverträge. Da sind die Niveaus natürlich unterschiedlich. Weil ja konkret die Frage nach den Unterschieden zwischen weltlichen Sozialverbänden und kirchlichen Trägern kam: Da gibt es natürlich erhebliche Unterschiede, je nachdem wo und mit wem wir den Vertrag geschlossen haben. Das hat zwei wesentliche Merkmale. Das eine ist: Es gibt erhebliche Unterschiede zwischen Fachkräften und Hilfskräften. Während die Fachkräfte in vielen Arbeitsvertragsrichtlinien relativ vergleichbar mit dem Tarifvertrag des öffentlichen Dienstes vergütet werden, bei Einstiegsgehältern zum Teil minimal darüber liegen – auch das gibt es – muss man festhalten, dass die Hilfskräfte deutlich niedriger vergütet werden, zumindest beim Einstieg, was zu einem merkwürdigen Gefälle zwischen dem Tarifvertrag des öffentlichen Dienstes und dem jeweiligen AVR-Werk führt. Wenn man so will, findet da eine Umverteilung zu Lasten niedriger bezahlter Beschäftigter statt, egal ob das jetzt in kirchlichen Verhandlungen oder in Tarifverhandlungen ist.

Zum Thema Neoliberalismus: Es ist so, dass die kirchlichen Träger sich selbstverständlich auf dem Markt bewegen und auch den gleichen Zwängen und Drücken unterliegen. Insofern freuen wir uns, dass wir da auch irgendwie gemeinsam unterwegs sind, um Mindestbedingungen in der Altenhilfe zu regeln, weil das natürlich wichtig ist. Und es stimmt auch, was Frau Losem sagt: dass wir bei den Kommunalträgern nur noch bei einem Marktanteil von fünf Prozent sind und leider die kommerziellen diesen Markt langsam schlucken. Allerdings ist dies nur bezogen auf den Bereich der Pflege. Es gibt allerdings auch andere Segmente wie den Bereich der Krankenhäuser, wo bisher der Markt zu gleichen Teilen, jeweils ein Drittel etwa, verteilt ist; wo die Finanzierung anders ist, aber – und das eint alle Beschäftigten im Sozial- und Gesundheitswesen unabhängig von der Trägerschaft – die Personalausstattung, die Arbeitsbelastung ist enorm hoch – überall.

Das ist genau der Teil, wo wir ansetzen müssen: wirksame Mitbestimmung im Betrieb. Und das ist auch meine Überleitung zur letzten Frage, inwieweit Mitbestimmung materiell anders geregelt ist in kirchlichen Einrichtungen. Ich will an der Stelle sagen: ein wesentliches Instrument, dass es bei betrieblichen Auseinandersetzungen zwischen Interessenvertretung im Betrieb und dem Arbeitgeber in ganz konkreten Regelungsstreitigkeiten darum geht, sich schnell miteinander zu verständigen. Dafür gibt es im Betriebsverfassungsrecht das Instrument der betrieblichen Einigungsstelle. Dieses Instrument ist im MVG der evangelischen Kirche Deutschlands erst seit diesem Jahr (2020) installiert und direkt mit Verfahrensfragen versehen worden die letztlich dazu führen, dass es sehr schwierig wird, eine betriebliche Einigungsstelle auf den Weg zu bringen. Angefangen damit, dass es schwer ist für die pauschale und niedrige Entschädigung, die danach gezahlt wird überhaupt einen kompetenten Vorsitzenden zu finden, bis hin zu verfahrensrechtlichen Fragen, die dabei zu klären sein werden. Das ist ein Problem. Weil es im weltlichen Recht sehr klar und einfach geregelt ist, hätte man im kirchlichen Bereich diese Regelung einfach aus dem Betriebsverfassungsrecht übernehmen können und es wäre eine wirksame Möglichkeit gewesen, um zumindest im Betrieb zu guten Regelungen bei Streitigkeiten zu gelangen, zum Beispiel in Pflegeeinrichtungen bei der Frage der Dienstplanung, an der maßgeblich die Arbeits- und auch die Freizeit vieler Beschäftigten dranhängt.

Twardy: Ich kann das nur auf den verhältnismäßig kleinen Bereich meiner Organisation beziehen. Ärztinnen und Ärzte in Krankenhäusern oder in Kliniken allgemein haben ja kein Problem der Tarifbindung. Es gibt einzelne Arbeitgeber, die sich immer noch tarifvertraglichen Regelungen verweigern. Da ist es letztlich eine Frage der sozialen Mächtigkeit, ob man die dazu bewegt, diese Haltung aufzugeben. Aber wir haben in den letzten 15 Jahren unter Beweis gestellt, dass wir dazu in der Lage sind und die uns dazu zustehenden Mittel auch nutzen. Was das Tarifniveau anbelangt, zumindest für die Ärztinnen und Ärzte im Geltungsbereich der AVR des deutschen Caritas-Verbandes: die sind tendenziell schlechter. Das würde ich nicht unbedingt an den Gehältern festmachen. Tatsächlich wenn Sie die Entgelttabellen nebeneinanderlegen, werden sie dort wenige Unterschiede feststellen. Aber die entscheidende Frage ist, zu welchem Zeitpunkt in einer dynamischen Verhandlung bestimmte Ergebnisse erzielt werden. Wenn Sie bestimmte Entgelterhöhungen mit einem gewissen zeitlichen Verzug erst in Kraft setzen, bedeutet das gegenüber dem referenzierten Tarifvertrag einen Nachteil, und der lässt sich tatsächlich auch in Euro auspreisen. Darüber hinaus haben wir zu unserem Leidwesen in den AVR Caritas bestimmte Regelungen, die Krankenhäuser in der Anwendung bestimmter Arbeitszeitregelungen privilegieren; ein Privileg, das es in den vergleichbaren Tarifverträgen nicht gibt. Das ist gegen die Stimmen der Ärztevertreter in der arbeitsrechtlichen Kommission zustande gekommen. Da sind die Interessen der Ärztinnen und Ärzte nicht hinreichend gewürdigt worden. Und diejenigen, die sich kraft mitgliedschaftlicher Legitimation zur Vertretung der ärztlichen Interessen berufen fühlen, konnten auf Grund der spezifischen Verhältnisse in der Arbeitsrechtlichen Kommission die Erwartungen ihrer Mitglieder nicht umsetzen.

Ich will auch kurz auf Professor Klumpp an dieser Stelle eingehen und zu dem Stellung nehmen, was Frau Losem gesagt hat: Kirchliche Einrichtungen, hat Frau Losem gesagt – und da stimme ich Ihnen zu – sind kein Selbstzweck. Das sind Gewerkschaften auch nicht, und das sind selbstverständlich Streiks und Arbeitskampfmaßnahmen ebenso wenig, denn sie sind stets da rauf gerichtet, Tarifverträge durchzusetzen oder tarifvertragliche Inhalte zu bestimmen. Es geht also um die tarifvertragliche Verbesserung der Arbeitsbedingungen und nichts Anderes. Und so wie ich Ihnen glaube, dass der eigentliche Zweck kirchlicher Einrichtungen das Ethos ist und das als Teil ihres kirchlichen Selbstverständnisses, als eine spezifische Ausprägung ihres Glaubens, so kann ich respektieren, dass das hinsichtlich der Gestaltung von Arbeitsbedingungen eine nachvollziehbare Motivation ist. Unsere Motivation ist grundsätzlich eine andere: nämlich verbindliche Regelungen, die auch in der Weltlichkeit eine Verbindlichkeit erzeugen. Und insofern glaube ich nicht, dass mit der Anerkennung Ihres Ethos und Ihres Selbstverständnisses verbunden sein kann, dass ein anderes Selbstverständnis – beispielsweise das gewerkschaftliche – vorzuziehen ist oder eben nicht vorzuziehen ist.

Zum Vorwurf einer unsozialen Klientelpolitik des Marburger Bundes bei ungleichen Tarifsteigerungen in der Arbeitsrechtlichen Kommission der Diakonie Deutschland (AKDD): Den Vorwurf der unsozialen Klientelpolitik höre ich häufiger. Artikel 9 Absatz 3 statuiert ein Koalitionsgrundrecht für alle Berufe und nichts Anderes machen wir, indem wir das wahrnehmen. Das ist nicht unsozial, sondern unsere verfassungsrechtlich vorgesehene Aufgabe. Problematisch wäre es höchstens, wenn wir absichtlich Tarifpolitik gegen andere Berufsgruppen betrieben. Diesen Nachweis zu erbringen, ist noch nicht gelungen. Vielmehr wurden in den vergangenen Jahren vielfach Regelungen aus unseren Tarifverträgen auch in die Tarifverträge anderer Organisationen übernommen.

Wiese: Vielen Dank. Wir kommen zum Ende und enden möchte ich mit einer Abschlussrunde aller Podiumsteilnehmer. Ich möchte von Ihnen allen wissen: Quo vadis, Kirchenarbeitsrecht? Wo geht es hin im kollektiven Arbeitsrecht? Was kann der Gesetzgeber tun, gibt es Handlungsbedarf für den Gesetzgeber? Von Herrn Klumpp haben wir gehört, der EuGH kann wenig tun, aber kann vielleicht der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte etwas tun? Von den Gewerkschaften interessiert mich: Was haben Sie vor, um Änderungen zu bewirken? Und von Frau Losem: Wird die katholische Kirche im Status Quo verharren oder planen Sie auch Schritte?

Klumpp: Sie haben die andere Dimension des europäischen Rechts angesprochen, nämlich die über die EMRK, wo ja sowohl die Glaubensfreiheit in Artikel 9 als auch die Vereinigungsfreiheit in Artikel 11, aus der man dann auch die Freiheit zu Kollektivverhandlungen schließen kann, verankert ist. Das rechtliche Modell der EMRK in ihrer Ausprägung durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ist nicht sonderlich unterschiedlich zu dem, was das BAG über mit der Abwägungslösung gemacht hat. Insofern glaube ich nicht, dass der EGMR diese Abwägungslösung, wie sie das BAG gesetzt hat, fundamental ablehnen würde. Es gibt einige Entscheidungen, wo das auch anklingt, etwa die Pastorul-Entscheidungxiv. Auch vor dem Hintergrund, welche Stellung die europäische Menschenrechtskonvention als völkerrechtlicher Vertrag hat – das ist etwas anders als die unionsrechtlichen Vorgaben – glaube ich nicht, dass man hier zu einer anderen, den dritten Weg kategorial ausschließenden Lösung kommt. Mit anderen Worten: will man den dritten Weg kippen, sollte man seine Hoffnungen nicht zu sehr auf den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte setzen. Der EuGH ist im Vergleich zur Frage des Diskriminierungsrechts allein schon wegen der Inkompetenz, die sich die EU hier auferlegt hat, für diese Fragen nicht zuständig. Im Übrigen auch aus sehr gutem Grund, weil man eben nicht wollte, dass Arbeitskampfmaßnahmen, die ja in den verschiedenen Mitgliedsstaaten sehr divergent sind, zu einer unionsrechtlichen Frage werden. Hier gibt es im Endeffekt keine so offene Flanke bei der Frage der Gestaltung des kirchlichen Arbeitsrechts wie beim Individualarbeitsrecht, bei den Loyalitätspflichten, bei den Einstellungsvoraussetzungen und so weiter.

Twardy: Wenn Sie mich fragen, was haben wir als Nächstes vor, dann will ich nicht irgendwelchen Entscheidungsprozessen in unserer Organisation vorgreifen. Aber klar ist auch, dass wir uns die vergangenen vier Jahre sehr genau anschauen werden, und natürlich werden wir daraus unser weiteres Handeln ableiten. Deshalb will ich auch ausdrücklich keinen Appell an den deutschen Caritas-Verband richten, seine AK-Ordnung irgendwie zu modifizieren. Ich bleibe dabei: Streikrecht ist kein Selbstzweck, es ist letztendlich Mittel zum Zweck bei der Gestaltung guter Arbeitsbedingungen. Was gute Arbeitsbedingungen anbelangt, haben wir aber grundsätzlich andere Vorstellungen voneinander. Ich glaube, dass die Entscheidungen Egenberger und Chefarzt durchaus auch im kollektiven Arbeitsrecht Potential haben, das sich die Gewerkschaften genau anschauen werden. Ich glaubte damals schon, als Sie die Verfassungsbeschwerde gegen das BAG-Urteil eingelegt hatten in der Düsseldorfer Chefarztsache, dass das am Ende keine allzu kluge Idee war. Ich bin nämlich davon überzeugt, dass Sie die eigentliche Motivation für die Kündigung dieses Chefarztes nicht in Ihrem kirchlichen Selbstverständnis finden, sondern in den ersten zwei Sätzen der erstinstanzlichen Urteilsbegründung. Dort steht: „Der Kläger bezog zuletzt ein Bruttoeinkommen von 96.000 Euro.“ Das war vermutlich die eigentliche Motivation, sich von ihm zu trennen. Ein offener Umgang mit diesem Umstand hätte der Kirche möglicherweise erspart, dass sich Gerichte mit ihrer Glaubwürdigkeit beschäftigen.

Gembus: Sie haben nach gesetzlichen Änderungen gefragt. Da bezieht sich meine Antwort vorrangig darauf, was der staatliche Gesetzgeber, der Bundestag, tatsächlich anstreben könnte: Das wäre die Abschaffung des Paragraphen 118 Absatz 2 des Betriebsverfassungsgesetzes, sprich die Ausnahme der kirchlichen Einrichtungen vom Betriebsverfassungsgesetz. In Bezug auf die Arbeitsrechtssetzung sehe ich wenig Bedarf beziehungsweise Möglichkeiten, verfassungsrechtliche Änderungen herbeizuführen. Insofern werden wir uns als ver.di weiterhin darauf beschränken, in den Betrieben mit unseren Kolleginnen und Kollegen dafür zu arbeiten, Löhne und Arbeitsbedingungen zu verbessern. Das fängt weit vor dem Streik an. Ich habe zu Anfang gesagt, dass Streik die Ultima Ratio ist. Gewerkschaftliche Betätigung in kirchlichen Einrichtungen musste erst einmal gerichtlich durchgesetzt werden in den letzten Jahrzehnten. Das werden wir weiterhin tun. Wir sind im Augenblick in einigen Tarifauseinandersetzungen und wir werden dort, wo es möglich ist, wo die Kolleginnen und Kollegen sich in ihrer Gewerkschaft organisieren, auch Tarifverträge weiter anstreben und durchsetzen; unabhängig davon, ob es tatsächlich kirchliche Einrichtungen sind oder „nur“ kirchliche Töchter sind, die einfach irgendwann nicht mehr zur „Dienstgemeinschaft“ gehört haben.

Losem: Sie haben gefragt „quo vadis“? Verharren die Kirchen im kirchlichen Arbeitsrecht? Wir schreiten natürlich immer voran. Der Sendungsauftrag fordert uns auch, zu prüfen, ob das, was wir machen verbesserungswürdig ist. Wir haben im kollektiven Arbeitsrecht reagiert auf die Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts aus dem Jahr 2012. Wir diskutieren im Augenblick über Unternehmensmitbestimmung. Gesetzgeberischen Handlungsbedarf sehen wir im kollektiven Arbeitsrecht derzeit nicht. Eine Auswirkung von „Egenberger“ oder „Chefarzt“ auf das kollektive Arbeitsrecht besteht auch nicht. Was wir tun und was wir auch unabhängig von Gerichtsentscheidungen schon 2015 gemacht haben, ist die Grundordnung in Bezug auf das individuelle Arbeitsrecht zu ändern. Da sind wir weiter dran, obwohl die Chefarzt-Entscheidung 2014 ja das kirchliche Selbstbestimmungsrecht bestätigt hat. Wir sehen es als unsere Aufgabe an, genau zu prüfen, was wir benötigen, um den Sendungsauftrag der Kirche zu erfüllen. Insoweit haben wir schon 2015 gesagt, dass die Wiederheirat eines Chefarztes kein Kündigungsgrund mehr ist, weshalb wir jetzt auch nicht wieder nach Karlsruhe gegangen sind, obwohl das materiell-rechtlich wohl der stärkere Fall als der Egenberger-Fall ist. Für uns ist es wichtig, dass wir in den Einrichtungen unseren religiösen Sendungsauftrag erfüllen können und dafür den Freiheitsraum behalten. Das ist unser Ziel und unser Ausgangspunkt.

Müller-Heidelberg: Quo vadis kirchliches Arbeitsrecht, muss glaube ich zweigleisig beantwortet werden. Im individuellen Arbeitsrecht glaube ich, dass die beiden EuGH-Entscheidungen und eine dritte aus dem Jahr 2018 zu den Zeugen Jehovasxv kommt hinzu, wonach das europäische Datenschutzgesetz ebenfalls für sie gilt, dass da eine ganz, ganz breite Bresche in die Verteidigungsmauern des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts eingeschlagen worden ist. Ich bin auch relativ sicher, dass die Verfassungsbeschwerde der EKD dagegen erfolglos bleiben wird. Damit ist zu großen Teilen das kirchliche Individualarbeitsrecht abgeschafft; zu großen Teilen – nicht dort, wo es um Tendenzträger geht. Im kollektiven Arbeitsrecht muss ich mich leider Herrn Klumpp anschließen, denn ich sehe da derzeit keinen Ansatzpunkt, wie man aus dem Europarecht da irgendetwas bewirken könnte. Man könnte theoretisch durch Gesetzgebung etwas tun. Es wurde eben schon angesprochen: ich könnte Paragraph 118 Absatz 2 Betriebsverfassungsgesetz – und genauso dieselbe Regelung haben wir im Personalvertretungsgesetz – abschaffen. Ich könnte ein Streikrecht im kirchlichen Bereich einführen. Nur, das letztere ist politisch völlig ausgeschlossen, das wird nie kommen; und das erstere würde ich auch gegenwärtig nicht empfehlen. Denn die Abschaffung des 118 Absatz 2 würde natürlich auch vom Bundesverfassungsgericht landen und das Bundesverfassungsgericht würde sagen: die Mitarbeitervertretung in den Kirchen beruht nicht nur auf 118 Absatz 2 Betriebsverfassungsgesetz, sondern auf der Verfassung nach Artikel 137 Weimarer Reichsverfassung. Was ich mir für das kollektive Arbeitsrecht lediglich vorstellen kann, ist, dass sich durch die EuGH-Entscheidungen das juristische Klima geändert hat, tendenziell auf Einschränkung der kirchlichen Sonderrechte. Langfristig, hoffe ich, wird sich das irgendwie auswirken. Aber eben nur irgendwie. Einen konkreten Ansatzpunkt aus dem Europarecht gibt es leider nicht.

Wiese: Wir sind am Ende angekommen. Ich danke Ihnen allen, sowohl den Menschen hier im Raum wie Herrn Müller-Heidelberg und Herrn Klumpp daheim, sowie allen, die uns zugehört haben.

Anmerkungen:

iUrteile vom 20.11.2012 – 1 AZR 179/11 und 1 AZR 611/11.

ii15.7.2015 – 2 BvR 2292/13 BVerfGE 140, 42.

iiiLAG Hamm vom 13.1.2011 – 8 Sa 788/10.

ivLAG Hamburg vom 23.3.2011 2 Sa 83/10.

v4.6.1985 2 BvR 1703, 1718/83, 856/84.

vi4.5.1971 1 BvR 636/68 BVerfGE 31, 58 (hier insbes. Ziff. 29 und 67 des Urteils).

viiJürgen Kühling, Arbeitskampf in der Diakonie, in Arbeit und Recht 2001, 241 ff.

viiiBVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 22. Oktober 2014 – 2 BvR 661/12, Rn. 103.

ixVgl. BVerfGE 46,73.

xBAG v. 20.11.2012 – 1 AZR 179/11

xiBVerfG v. 15.7.2015 – 2 BvR 2292/13.

xiiBAG, 5 AZR 334/95.

xiiiBAG, 6 AZR 160/05 Randziffer 16.

xivEGMR v. 9.7.2013 – 2330/09.

xvEuGH v. 10.7.2018 – C-25/17 NJW 2019, 285.

nach oben