Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 233: 5. Berliner Gespräche - Kirchliches Sonderarbeitsrecht

Diskri­mi­nie­rungs­schutz versus Selbst­be­stim­mungs­recht

Die Debatte um das kirchliche Individualarbeitsrecht ist in den letzten Jahren in Bewegung geraten, nachdem das Bundesarbeitsgericht zwei bei ihm anhängige Verfahren dem Europäischen Gerichtshof vorgelegt hatte. Dorothee Frings stellt im folgenden Beitrag diese beiden Verfahren, die sich über mehrere Instanzen erstreckten, vor und erläutert die Eckpunkte der jeweiligen Entscheidungen deutscher bzw. europäischer Gerichte.

Ich habe mich sehr über die Einladung zu den Berliner Gesprächen gefreut und möchte Ihnen eine kurze Einführung geben zu dieser so wichtigen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) und des Bundesarbeitsgerichts (BAG) zu der Problematik des Individualarbeitsrechts bei den Kirchen. Es geht hierbei um zwei Entscheidungen bzw. um Entscheidungsverläufe, die ich kurz vorstellen möchte.

Verfah­rens­gang „Egenberger“

Das Verfahren Egenberger begann im Jahre 2013 mit einer Bewerbung und einer Stellenanzeige der evangelischen Kirche für eine Tätigkeit ohne Bezug zum kirchlichen Verkündungsauftrag. Es ging um ein Projekt zur Parallelberichterstattung zur Antirassismuskonvention. Die Anzeige als solche war ausgeschrieben nur für Personen, die der evangelischen Kirche angehören. Und dieses wurde dann vom Arbeitsgericht in Berlini als Verstoß gegen das AGG – das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz – gewertet und eine Entschädigung von 2.000 Euro zugesprochen. Das Landesarbeitsgericht Berlin Brandenburgii hat diese Entscheidung aufgehoben, weil es den Kirchen und ihren Organisationen im Rahmen ihres Selbstbestimmungsrechts und in Übereinstimmung mit der Regelung des § 9 AGG überlassen bleibe, die Loyalitätsanforderungen unabhängig von der Art der Tätigkeit zu bestimmen. Das ist eine ganz zentrale Aussage: „unabhängig von der Art der Tätigkeit zu bestimmen.

Im Revisionsverfahren legte dann das Bundesarbeitsgerichtiii diese Frage dem EuGH vor, um vom Gerichtshof zu erfahren, ob das Privileg der Selbstbestimmung es dem kirchlichen Arbeitgeber in Übereinstimmung mit Art. 4 Abs. 2 der Antidiskriminierungsrichtlinie 2000/78/EG erlaube, die Religionszugehörigkeit auch ungeachtet der Art der Tätigkeit zu verlangen. Soweit die erste Entscheidung.

Verfah­rens­gang „Chefarzt“

Es gibt dann die nächste Entscheidung, die parallel gelaufen ist und gleichzeitig eine noch viel längere Historie hat. Sie beginnt schon im Jahre 2009 vor dem Arbeitsgericht Düsseldorf. Dort wurde die Kündigung eines Chefarztes wegen Wiederverheiratung aufgehoben, weil sie sozial ungerechtfertigt sei.iv Der katholische Krankenhausträger könne sich für die Ungleichbehandlung des katholischen Chefarztes gegenüber nicht katholischen Chefärzten nicht auf das Privileg aus § 9 AGG berufen. Das Landesarbeitsgericht Düsseldorfv hat die Berufung dagegen zurückgewiesen und das BAGvi hat in der Revision das Düsseldorfer Urteil ebenso bestätigt. Daraufhin ist dann der kirchliche Träger zum Bundesverfassungsgericht (BVerfG) gezogen, das die Entscheidung aufgehoben hat, und zwar mit der ausdrücklichen Bezugnahme auf das spezifische Kirchenprivileg des Grundgesetzes, das sich aus Art. 140 des Grundgesetzes in Verbindung mit dem Art. 137 Abs. 3 der Weimarer Reichsverfassung ergibt.vii Darin enthalten sei die Gewährleistung der uneingeschränkten korporativen Religionsfreiheit. Damit steht dieses Recht, sagt das BVerfG, über der allgemeine Religionsfreiheit, die auch Institutionen zusteht.

Daraufhin wurde diese Entscheidung an das BAG zurückgereicht. Dies hat die Angelegenheit dem EuGH vorgelegt mit der Frage, ob die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts in Übereinstimmung stehen mit dem europäischen Recht, speziell mit Art. 4 Abs. 2 der Rahmenrichtlinie Beschäftigung und Beruf (Diskriminierungsverbot). Um diese Auseinandersetzung zwischen BAG und BVerfG und später auch dem EuGH besser verstehen zu können, muss ich kurz einen Blick auf den Kontext, vor allem die Umsetzung der Antidiskriminierungsrichtlinie 2000/78/EG, werfen.

Umsetzung der RL 2000/78/EG

Diese Richtlinie wurde 2000 in einem Paket mit zwei anderen Antidiskriminierungsrichtlinien vom Europäischen Rat erlassen. Alle Mitgliedsstaaten wurden verpflichtet, sie innerhalb von zwei Jahren umzusetzen. Das hat in Deutschland nicht so gut geklappt, weil es eine heftige Auseinandersetzung um diese Umsetzung gab. Es ging dabei um die Vertragsautonomie, aber auch das Kirchenprivileg hat dort eine wichtige Rolle gespielt. Vor allem wurde darum gerungen, wie das in der Richtlinie enthaltene Kirchenprivileg in das AGG zu übertragen ist. Herausgekommen ist eine Formulierung, die wir jetzt in § 9 Absatz 1 des AGG haben:

„… ist eine unterschiedliche Behandlung wegen der Religion … auch zulässig, wenn eine bestimmte Religion … unter Beachtung des Selbstverständnisses der jeweiligen Religionsgemeinschaft … im Hinblick auf ihr Selbstbestimmungsrecht oder nach der Art der Tätigkeit eine gerechtfertigte berufliche Anforderung darstellt.“

Es geht also um zwei verschiedene Varianten: Einmal um eine Ungleichbehandlung, die sich aus dem Selbstbestimmungsrecht der Kirchen selbst ergibt, und eine, die sich aus der Tätigkeit ergibt. Das weicht von dem Wortlaut der Richtlinie ab. Dort heißt es:

„Die Mitgliedstaaten können … Bestimmungen … beibehalten oder … vorsehen, … wonach eine Ungleichbehandlung wegen der Religion … keine Diskriminierung darstellt, wenn die Religion nach der Art dieser Tätigkeiten oder der Umstände ihrer Ausübung eine wesentliche, rechtmäßige und gerechtfertigte berufliche Anforderung angesichts des Ethos der Organisation darstellt.“

Schutz des Kirchen­pri­vi­legs im EU-Pri­mär­recht

Zum Kontext gehört auch der Schutz des Kirchenprivilegs im europäischen Primärrecht. Dem Recht der Europäischen Union (EU) ist das Selbstbestimmungsrecht der Kirchen keinesfalls fremd. Es wird im Erwägungsgrund 24 der Richtlinie 2000/78/EG genannt, der sich auf die Amsterdamer Kirchenerklärung bezieht. Bei dieser Erklärung handelt es sich um einen Zusatz zum Amsterdamer Vertrag, der den Status der Kirchen entsprechend den nationalen Rechtsordnungen respektiert. Diese Erklärung nimmt Art. 17 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) au und macht sie damit zum Bestandteil der EU-Verfassung. Was das allerdings bedeutet, ist durchaus umstritten: Es gibt grundsätzlich entweder die Möglichkeiten, dass darin eine uneingeschränkte Akzeptanz des Status quo der jeweiligen Rechtsordnungen und der staatlichen Regularien der einzelnen Mitgliedsstaaten enthalten ist – und damit eine komplette Bereichsausnahme von der Diskriminierungskontrolle. Die andere Möglichkeit besteht darin, dem Kirchenprivileg die Stellung eines Abwägungskriteriums zwischen den zwei Rechtspositionen – dem Selbstbestimmungsrecht der Kirchen und dem Diskriminierungsschutz der Arbeitnehmenden – zuzuweisen. Die Entscheidung bleibt in den EU-Verträgen offen.

Das deutsche Kirchen­pri­vileg

Für das weitere Verständnis muss erklärt werden, was das deutsche Kirchenprivileg eigentlich bedeutet. Wir haben tatsächlich im Grundgesetz eine Bezugnahme auf die Weimarer Reichsverfassung und die wiederum hat das Kirchenprivileg als Ausdruck des spezifischen Verhältnisses von Kirche und Staat so eingefügt, wie es in der Zeit der Staatenbildung im 19. Jahrhundert entstanden und tradiert worden ist. Hier ergibt sich ein historisch gewachsener Zwischenweg in Deutschland, der zwischen dem Staatskirchenmodell und dem Laizismus angesiedelt ist. Der Staat gewährleistet die Religionsfreiheit und fördert das Selbstbestimmungsrecht aller Religionsgemeinschaften, ohne eine besondere Religionsgemeinschaft zu privilegieren. Dieser staatliche Schutz des Selbstbestimmungsrechts der Kirchen erstreckt sich auch auf alle ihnen zugehörigen Einrichtungen, also vor allem die christlichen Wohlfahrtsverbände wie Caritas und Diakonie, wenn diese sich auf Grund ihres religiösen Selbstverständnisses dazu berufen fühlen, ein Stück des Auftrags der Kirche in dieser Welt zu übernehmen. Daraus wurde dann das Recht abgeleitet, in privatrechtlichen Arbeitsverhältnissen die Einstellungsvoraussetzungen und die Dienstpflichten eigenständig festzulegen, so lange durch diese Festlegungen nicht die Grundpfeiler der Rechtsordnung angegriffen oder in Frage gestellt werden.

Das Subsi­dia­ri­täts­prinzip

Hinzu kommt ein wichtiger Grundsatz: das Subsidiaritätsprinzip. Es hängt unmittelbar mit dem Verhältnis von Kirche und Staat zusammen. Im Zuge der Säkularisierung im 19. Jahrhundert blieb den Kirchen nur noch der Bereich der Wohltätigkeit, in dem sie öffentliche Aufgaben übernehmen durften. Damit beteiligten sich die Kirchen auch führend am Ausbau des Gesundheitswesens, sowie der Behinderten- und Armenfürsorge. Aus dieser Tradition wuchs dann im Zusammenhang mit der katholischen Soziallehre und der Gründung der Bundesrepublik das Subsidaritätsprinzip – etwas wirklich sehr spezifisch Deutsches. Demnach sollten im Bereich der sozialen Aufgaben staatliche Institutionen erst und nur dann auf den Plan treten, wenn freie und damit vor allem freigemeinnützige Träger zur Übernahme der Versorgung nicht fähig oder bereit sind.viii So kommt es, dass im Bereich der Sozialen Dienste bis heute mehr als zwei Drittel aller Aufgaben von kirchlichen Wohlfahrtsverbänden übernommen werden.ix Bei Caritas und Diakonie arbeiten 1,3 Millionen Menschen und sind damit den beiden großen Kirchen zugeordnet. Abgesehen von der öffentlichen Hand sind die Kirchen tatsächlich die größten Arbeitgebenden der Bundesrepublik.

Die christliche Dienst­ge­mein­schaft

Für die beiden großen christlichen Kirchen und ihre Wohlfahrtsverbände ist das Leitbild der christlichen Dienstgemeinschaft prägend für die gesamte Ausgestaltung des kirchlichen Arbeitsrechts. Der Dienst umfasst dabei nicht nur die Verkündung und den Gottesdienst, sondern auch den durch den Glauben motivierten Dienst am Mitmenschen.x

Die christliche Dienstgemeinschaft ist arbeitsrechtlich festgeschrieben für die Caritas in der Grundordnung des kirchlichen Dienstes aus dem Jahr 2015 und für die evangelischen Träger in der Richtlinie des Rats über kirchliche Anforderungen für die berufliche Mitarbeit in der evangelischen Kirche in Deutschland und ihrer Diakonie aus dem Jahr 2016. Im Verhältnis zum weltlichen Recht beruht das kirchliche Arbeitsrecht auf der Annahme, Arbeitnehmer*innen geben mit Abschluss des Arbeitsvertrags ein Stück ihres Selbstbestimmungsrechts auf und verzichten freiwillig zu einem Teil auf die Ausübung ihrer Grundrechte. Eine so weitgehende Suspendierung der individuellen Grundrechte lässt sich nicht allein aus dem Recht auf Religionsfreiheit begründen, sondern nur aus dem überlieferten Kirchenprivileg, das weit über dieses Recht hinausgeht, weil es sich nicht mehr mit anderen Grundrechten messen muss.

Die Recht­spre­chung des BAG und des BVerfG vor „Egenberger“ und „Chefarzt“

Bevor ich auf die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs komme, noch ein kurzer Blick auf die Rechtsprechung des BAG und des BVerfG vor den beiden Entscheidungen „Egenberger“ und „Chefarzt“.

Wir hatten in den 1980er Jahren zunächst eine Rechtsprechung des BAGxi, die durchaus differenzierte zwischen der Nähe der Mitarbeiter*innen zum Verkündungsauftrag der Kirche einerseits und dem Recht der Kirchen andererseits, autonom und frei von staatlichem Einfluss arbeitsrechtliche Bedingungen zu bestimmen – und dies auch unterschiedlich gewertete. Die Wende kam mit einer Entscheidung des BVerfG aus dem Jahr 1985xii, in dem den Religionsgemeinschaften das unbedingte Recht zugewiesen wurde, für alle Beschäftigten die Anforderungen nach dem eigenen Selbstverständnis zu regeln und verbindlich vorzugeben. Damit wurde ein eigener Rechtsraum geschaffen, der eben auf das tradierte Kirchenprivileg gründete und der sich nicht mehr an anderen Grundrechten messen lassen musste. Diese Situation nannte Gregor Thüsing, ein eher konservativer leitender Arbeitsrechtler in Deutschland, „die uneinnehmbare Bastion des Art. 140 GG in Verbindung mit Art. 137 Abs. 3 WRVxiii.

Wesentliche Feststel­lung des EuGH im Fall „Egenberger“

Jetzt kommen wir zu den wesentlichen Feststellungen des EuGH in der „Egenberger“-Entscheidung vom 17.4.2018 (C-414/16). Die zentrale Feststellung ist zunächst: Es gibt keinen rechtsfreien Raum für die Kirchen. Sowohl die Antidiskriminierungsrichtlinie als auch der Art. 47 der Europäischen Grundrechte-Charta (GRC) verpflichten zu einer wirksamen gerichtlichen Kontrolle des Diskriminierungsschutzes. Dies wird auch nicht durch den Art. 17 AEUV und die Amsterdamer Kirchenerklärung geändert. Auch diese entziehen den Diskriminierungsschutz nicht einer gerichtlichen Kontrolle. Jede Ungleichbehandlung wegen der Religion als berufliche Anforderung bedarf eines Bezugs zur Tätigkeit. Es genügt nicht, sich allein auf das Selbstbestimmungsrecht der Kirchen zu berufen.

Die kirchlichen Arbeitgeber haben das Recht, Anforderungen an die Loyalität zu stellen. Aber auch dieses Recht darf sich nicht allein aus dem Selbstverständnis der Kirchen ergeben, sondern es muss die Diskriminierungsverbote beachten – also letztlich auch einen Bezug zur Tätigkeit haben. Und durchaus sehr wichtig, weil es immer noch nicht selbstverständlich ist: der Diskriminierungsschutz des Art. 21 GRC hat zwingenden Charakter und kann nicht durch ein Kirchenprivileg suspendiert werden.

Ergänzende Feststel­lung des EuGH in der „Chefarzt“-Entschei­dung

In der Sache „Chefarzt“ vom 11.9.2018 (C-68/17) kommen noch weitere Aspekte hinzu, weil sie auch eine Ungleichbehandlung zwischen verschiedenen Mitarbeiter zu bewerten hatte. Die Wiederverheiratung war nur katholischen leitenden Mitarbeiter*innen verboten, nicht aber anderen Mitarbeiter*innen, die zum Beispiel evangelisch waren. Hier sagt der EuGH, dass die Differenzierung im Hinblick auf das loyale Verhalten der Beschäftigten in leitenden Positionen je nach ihrer Konfession oder auch Konfessionslosigkeit nur dann zulässig ist, wenn ein Zusammenhang mit der betreffenden Art der Tätigkeit besteht. Das hört sich ein bisschen abstrakt an. Gemeint ist, dass die Kirchen dann differenzieren dürfen, wenn es um unterschiedliche Tätigkeiten geht, wobei in dem einen Fall die Loyalitätsanforderungen angemessen sind und in dem anderen nicht. Es muss also ausdrücklich einen Zusammenhang zwischen abverlangter Loyalität und Tätigkeit geben.

Die Verpflichtung der Mitgliedstaaten auf das europäische Recht in der Auslegung des EuGH ist nichts Neues. Der EuGH hat auch in vielen anderen Konstellationen so entschieden: Es ist Aufgabe der nationalen Gerichte, selbst wenn sie sich dann von einer lang tradierten Rechtsprechung entfernen müssen, die eigenen Gesetze unionsrechtskonform auszulegen – soweit das irgend möglich ist. Wenn es nicht möglich ist – wegen eines zwingend entgegenstehenden Wortlautes etwa – dann bleiben diese Gesetze unangewandt.

Die Entscheidung geht auch noch darauf ein, dass die Richtlinie sehr wohl das Kirchenprivileg schützt, sowohl in der Formulierung des Art. 4 als auch im Erwägungsgrund 24. Aber es bindet die Privilegierung der Kirche an die Art oder die Umstände der ausgeübten Tätigkeit.

Umsetzung durch das BAG: Europa­rechts­kon­forme Auslegung oder Nicht­an­wen­dung von § 9 AGG

Es war Aufgabe des BAG, diese beiden Entscheidungen umzusetzen. Ich differenziere hier nicht durchgängig zwischen beiden Entscheidungen, weil es eine ganze Reihe von Formulierungen gibt, die im Grunde in die gleiche Richtung laufen.

Es waren verschiedene Fragen zu entscheiden. Die erste Frage war, ob eine europarechtskonforme Auslegung des § 9 AGG möglich ist oder ob in der Konsequenz des EU-Rechts dieser Paragraph nicht mehr angewendet werden darf. Interessanterweise kommt das BAG in den beiden Entscheidungen zu unterschiedlichen Konsequenzen. In der „Egenberger“ Entscheidung sagt das BAG noch, dass der deutsche Gesetzgeber das Religionsprivileg aus der Richtlinie in nationales Recht umsetzen wollte, indem er § 9 AGG so formuliert hat, wie ich es am Anfang gezeigt habe; aber er hat gedacht, er dürfe das, weil er sich auf den Erwägungsgrund 24 und damit auf die Amsterdamer Kirchenerklärung beruft. Das bedeutet dann, dass eine Ungleichbehandlung auch allein aus dem Selbstbestimmungsrecht der Kirchen und ohne die Bindung an die Tätigkeit möglich ist. Diese Auffassung des deutschen Gesetzgebers missversteht jedoch den europäischen Gesetzgeber. Deswegen stimmt das Ergebnis nicht mit EU-Recht überein und kann auch nicht in diesem Sinne ausgelegt werden, weil der Wortlaut entgegensteht. Die Konsequenz ist, dass § 9 Abs. 1 AGG nicht mehr angewendet werden darf. Und damit ist auch die Privilegierung des kirchlichen Arbeitgebers hinfällig.

Das hat das BAG aber in der späteren „Chefarzt“ Entscheidung anders gesehen. Im Grunde genommen beginnt die Argumentation des Gerichts hier genauso: dass der nationale den europäischen Gesetzgeber falsch verstanden hat. Aber das ändert nach der Auffassung des BAGs ja nichts an der ausdrücklichen gesetzgeberischen Entscheidung, die Vorgaben der Richtlinie umsetzen zu wollen. Deswegen dürfe man auch den § 9 Abs. 2 AGG einfach entsprechend der Vorgaben der Richtlinie auslegen. Das entspricht nämlich dem Willen des Gesetzgebers; er wollte ja eigentlich nicht dagegen verstoßen, sondern die Vorgaben umsetzen. Deswegen ist im Ergebnis der § 9 Abs. 1 AGG entsprechend den Vorgaben des EuGH zu Art. 4 der Richtlinie auszulegen.

Genau genommen geht das BAG damit den Weg, die Vorschrift des AGG in Abweichung vom Wortlaut auszulegen, weil der Wille des Gesetzgebers grundsätzlich auf die Übereinstimmung mit EU-Recht gerichtet ist.

Verhältnis zwischen Verfas­sungs- und EU-Recht

Die zweite grundlegende Frage, die das Bundesarbeitsgericht zu prüfen hatte: ob ein solches Vorgehen, nämlich die Anwendung von europäischem Recht entgegen dem gesetzten Recht in Deutschland und vor allem auch entgegen den bisherigen Feststellungen des BVerfG, mit Verfassungsrecht vereinbar ist. Dazu gehört zunächst einmal die klare Aussage, dass die Position des EuGH nicht vereinbar ist mit der Position des BVerfG aus dem Jahr 2014 („Chefarzt“ Entscheidung), in der es ganz ausdrücklich als legitim betrachtet wird, dass die kirchlichen Arbeitgeber die Art der Loyalitätspflichten auch abgestuft nach Religionszugehörigkeit und auch im Hinblick auf Leitungspositionen frei festlegen dürfen. Dieser Widerspruch muss irgendwie aufgelöst werden. Dafür kommt es zunächst auf das Grundsätzliche an: Wie verhalten sich Verfassungsrecht und EU-Recht überhaupt zueinander? Klar ist: Dass europäische Recht hat Vorrang vor dem Verfassungsrecht, weil die Mitgliedsstaaten in bestimmten Bereichen nach dem Prinzip der Einzelermächtigung die Rechtssetzung auf die Europäische Union übertragen haben. Dazu gehört auch das Diskriminierungsrecht. Also hat das Diskriminierungsrecht der EU hier Vorrang. Dieser Vorrang gilt auch für das nationale Verfassungsrecht. Dieser Grundsatz findet sich auch eingeschrieben im deutschen Verfassungsrecht, wenn es in Artikel 23 Absatz 1 GG heißt:

„Zur Verwirklichung eines vereinten Europas wirkt die Bundesrepublik Deutschland bei der Entwicklung der Europäischen Union mit, die demokratischen, rechtsstaatlichen, sozialen und föderativen Grundsätzen und dem Grundsatz der Subsidiarität verpflichtet ist und einen diesem Grundgesetz im wesentlichen vergleichbaren Grundrechtsschutz gewährleistet.“

Natürlich bleibt ein Spannungsverhältnis zwischen dem europäischen Recht und dem Verfassungsrecht wegen der Verbindlichkeit des Verfassungsrechts. Das ist sehr deutlich geworden in der Entscheidung vom Mai 2020 zur europäischen Zentralbankxiv, in der das Bundesverfassungsgericht erstmalig gesagt hat, dass EU-Recht dem Verfassungsrecht dann nicht standhält, wenn das europäische Recht außerhalb der ihm zugewiesenen Zuständigkeit, also außerhalb seiner Kompetenz agiert. Das nennt man „ultra-vires“, im Sinne von ‚außerhalb der Mächte, die eine Institution hat‘.

Von daher war natürlich auch hier bereits genau zu prüfen, ob die Europäische Union mit der Setzung des Kirchenprivilegs innerhalb ihrer Kompetenzen gehandelt hat. Dazu kann man feststellen: Die Entscheidung des EuGH hat den Art. 4 der Antidiskriminierungsrichtlinie, also des Sekundär-Gesetzes, ausgelegt. Diese Antidiskriminierungsrichtlinie geht zurück auf das Diskriminierungsverbot, das sich in Art. 19 AEUV, also dem Primärrecht befindet. Das Primärrecht garantiert aber auch den autonomen Status der Kirchen in Art. 17. Das haben wir jetzt schon öfter gehört. Auch die Richtlinie bekennt sich zu diesem Kirchenprivileg. Nach der Auslegung des EuGH ist dies aber kein übergeordnetes, sondern ein Recht der Kirchen gleichwertig mit dem Diskriminierungsschutz der Arbeitnehmer*innen. Beide Rechte stehen sich auf gleichem Niveau gegenüber und müssen zu einem Ausgleich gebracht werden. Damit, so das BAG, ist der Rahmen einer möglichen Auslegung der Amsterdamer Erklärung zum Kirchenrecht nicht überschritten worden. Es kann zwar unterschiedliche Auslegungen geben, aber eine der möglichen Auslegungen ist die Gleichrangigkeit von Diskriminierungsschutz und Kirchenprivileg. Im Ergebnis liegt also keine „ultra-vires“-Entscheidung vor.

Verfassungsidentität

Der nächste zu prüfende Punkt war die Verfassungsidentität. Das bedeutet schlicht und einfach, dass eine Entscheidung des EuGH dann nicht verfassungsfest sein könne, wenn sie die absoluten Grenzen der deutschen Verfassung übergeht. Unsere absoluten Grenzen sind Art. 1 (die Menschenwürde) und Art. 20 (das Demokratiegebot) im Grundgesetz.

Hierzu sagt das BAG: Das Selbstbestimmungsrecht der Kirchen kann den Menschenwürdekern gar nicht treffen, weil die Menschenwürde einer Institution nicht zustehen kann, sondern nur individuellen Menschen. Deshalb kann sie nicht berührt sein, wenn es um das Recht der Kirchen geht. Beim Demokratieprinzip geht es vor allem darum, dass der Bundesrepublik auch unter der Neujustierung der Kirchenautonomie immer noch ein ausreichender Spielraum bleiben muss, um das Verhältnis zwischen Staat und Kirche eigenständig zu bestimmen und zu gestalten. Dazu sagt das BAG: Das tradierte Kirchenprivileg in unserer Verfassung nach Art. 140 GG in Verbindung mit Art. 137 der Weimarer Reichsverfassung ist auch nur innerhalb der Schranken der für alle geltenden Gesetze garantiert. Das heißt: Auch die Verfassung gewährt den Kirchen keinen absolut rechtsfreien Raum. Die Grundsätze des kirchlichen Arbeitsrechts werden nicht berührt, solange das Recht erhalten bleibt, Loyalitätspflichten nach dem eigenen Selbstverständnis zu definieren und im Verkündungsbereich nach der Religionszugehörigkeit zu differenzieren. Das BAG geht damit im Grunde genommen wieder zurück zu seiner alten Rechtsprechung aus den 1980er Jahren. Das Kirchenprivileg stehe auch unter dem Gesetzesvorbehalt und ist gerichtlich überprüfbar. Zudem sei es völlig ausreichend, diesem Kirchenprivileg dadurch Rechnung zu tragen, dass die Kirchen im Verkündungsbereich die Anforderungen stellen können und praktisch nach der Religion unterschiedlich behandeln dürfen.

Europä­i­schen Grund­recht­echarta versus deutsches Verfas­sungs­recht

Jetzt kommen wir zum letzten Punkt. Das ist insofern ein wenig neu, weil die europäische Grundrechtecharta (GRC) erst mit dem Lissaboner Vertrag zum Bestandteil des europäischen Rechts geworden ist und wir eigentlich noch relativ wenig Erfahrungen mit der Stellung der europäischen Grundrechte haben, die jetzt in ein Verhältnis zum Verfassungsrecht gesetzt werden müssen. Die GRC gewährleistet einerseits in Art. 10 die Religionsfreiheit und andererseits im Art. 21 den Schutz vor Diskriminierung durch die Mitgliedsstaaten. Der Anwendungsbereich der GRC erfasst Diskriminierungen im Arbeitsleben, weil die Mitgliedstaaten der Europäische Union für diesen Bereich die Regelungskompetenz übertragen haben. Was wir in der Europäischen Union nicht finden, ist ein spezifisches und darüber hinaus gehendes Kirchenprivileg. So haben wir zwei Grundrechte, die sich im gleichen Rang gegenüberstehen, und gleichzeitig auch das Recht der einzelnen Bürger*innen unmittelbar aus der GRC, sich vor einem Gericht auf ihre Rechte berufen zu können. Rechtsfreie Räume sind nach der Grundrechtecharta ausgeschlossen.

Auch das stellt keinen Widerspruch zum deutschen Verfassungsrecht dar, weil auch das Diskriminierungsverbot aus Art. 3 Abs. 3 GG gleichrangig mit der kirchlichen Autonomie den Diskriminierungsschutz gewährleistet.

Was in den Entschei­dungen nicht reflektiert wurde

Ich komme zum Ende und weise nur noch auf einen Aspekt hin, der in den Entscheidungen des EuGH und BAG bislang nicht thematisiert wurde: Das Kirchenprivileg zielte in seinem arbeitsrechtlichen Kerngehalt stets auf den Verkündungsbereich. Bei den kirchlichen Institutionen hat sich zwischenzeitlich jedoch einiges geändert. Vor allem verfügen wir in Deutschland über kirchennahe Sozialagenturen, die staatliche Sozialfürsorge als quasi wirtschaftliche Unternehmen mit staatlichen Finanzmitteln betreiben. In vielen Regionen Deutschlands haben diese kirchennahen Einrichtungen sogar eine Monopolstellung, die nicht mehr in einer wirklichen Pluralität zu anderen, nicht kirchlich geprägten, Anbietern steht. Auch deshalb spricht meines Erachtens viel dafür, diesen ökonomisch ausgerichteten Bereich der Sozialwirtschaft als staatlich finanzierte Vorsorge zu betrachten und ihn aus dem Bereich der religiösen Verkündung herauszulösen. Das bedeutet natürlich auch, dass die Konstruktion der christlichen Dienstgemeinschaft auf den Prüfstand muss, weil sie vielleicht für diesen ökonomischen Bereich nicht mehr der richtige Ansatzpunkt ist.

Das vielleicht nur als kleiner Gedankenansatz für die weitere Diskussion, auf die ich mich freue. Ich danke Ihnen ganz herzlich.

Prof. Dr. Dorothee Frings war von 1997 bis 2017 Inhaberin des Lehrstuhls „Verfassungs-, Verwaltungs- und Sozialrecht für die Soziale Arbeit“ an der Hochschule Niederrhein. Arbeitsschwerpunkte im Bereich des Migrationsrechts, des Sozialrechts sowie des Antidiskriminierungsrechts mit den Querschnittsbereichen Gender, Behinderung, Religion und soziale Herkunft.

Ausgewählte Veröffentlichungen: Handbuch Antidiskriminierungsrecht, FH-Verlag 2009 (zus. mit Degener, Dern, Dieball, Oberlies & Zinsmeister); Diskriminierung aufgrund der islamischen Religionszugehörigkeit im Kontext Arbeitsleben – Erkenntnisse, Fragen und Handlungsempfehlungen (2010, Expertise im Auftrag der Antidiskriminierungsstelle des Bundes); Die christliche Dienstgemeinschaft als Ausdruck institutioneller Religionsfreiheit oder als Diskriminierung (vorgänge 3/2013, S. 58–70); Diskriminierungsrisiken in der öffentlichen Arbeitsvermittlung (zus. mit Brussig & Kirsch, Baden-Baden).

Anmerkungen:

iUrteil v. 18.12.2013 – 54 C 6322/13.

iiUrteil v. 28.5.2014 – 4 Sa 238/14.

iiiBeschluss v. 17.3.2016 – 8 AZR 501/14 (A).

ivUrteil v. 30.7.2009 – 6 Ca 2377/09.

vUrteil v. 1.7.2010 – 5 Sa 996/09.

viUrteil v. 8.9.2011 – 2 AZR 543/10.

viiBeschluss v. 22.10.2014 – 2 BvR 661/12.

viiiIsensee: Subsidiaritätsprinzip und Verfassungsrecht, Berlin 1968, 2. Aufl. 2001.

ixRichardi: Die Dienstgemeinschaft als Grundprinzip des kirchlichen Arbeitsrechts, in Muckel: Kirche und Religion im Sozialen Rechtsstaat – Festschrift für Rüfner, Berlin 2003, S. 727, 736.

xJoussen: „Ut unum sint“ – Betriebsgemeinschaft und Dienstgemeinschaft im Arbeitsrecht, RdA 2007, 328 ff.; Greiner: Kirchliche Loyalitätsobliegenheiten nach dem „IR“-Urteil des EuGH, NZA 2018, 1289.

xiUrteile/Beschlüsse v. 14.10.1980 – 1 AZR 1274/79; v. 31.10.1984 – 7 AZR 232/83; v. 12.12.1984 – 7 AZR 418/83; v. 23.3.1985 – 7 AZR 249/81.

xiiV. 4.6.1985 – 2 BvR 1703/83.

xiiiThüsing: Schriftliche Stellungnahme vor dem Ausschuss für Arbeit und Soziales v. 22.3.2012, Ausschuss-Drs. 17 (11) 826, S. 20.

xivUrteil v. 5.5.2020 – 2 BvR 859/15, 2 BvR 980/16, 2 BvR 2006/15, 2 BvR 1651/15.

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