Das kirchliche Sonderarbeitsrecht
Wie nationalsozialistisches Arbeitsrecht bis heute nachwirkt und flächendeckende Tarifverträge im Pflege- und Sozialbereich blockiert. In: vorgänge Nr. 233 (1/2021), S. 79 – 90
Artikel 137 Absatz 3 der Weimarer Reichsverfassung wird heute oft als verfassungsmäßige Rechtfertigung des kirchlichen Sonderarbeitsrechts herangezogen. Dass diese Bestimmung in der Weimarer Republik jedoch ganz anders gemeint und verstanden wurde, zeigt der folgende Beitrag von Jürgen Klute auf. Er zeichnet nach, über welche Stationen die Etablierung des kirchlichen Sonderarbeitsrechts nach 1945 vollzogen wurde – und welche Auswirkungen dies bis heute auf Tarifverhandlungen hat.
Um zu verstehen, wie es zum arbeitsrechtlichen Sonderweg der Kirchen kam, und um ihn präzise kritisieren zu können, ist es nötig, zunächst einen Blick auf seine Entstehungsgeschichte zu werfen, der bis zur Weimarer Reichsverfassung (WRV) zurückreicht.
Weimarer Republik
Mit der WRV wurde 1919 die bis dahin bestehende Staatskirche abgelöst. Artikel 137 (1) [1] lautet kurz und knapp: „Es besteht keine Staatskirche.“
Gleichzeitig wurde in der WRV ein rechtlicher Rahmen für die Kooperation zwischen Staat und Kirchen geschaffen. Die für unser Thema relevante Regelung steht in Artikel 137 (3): „Jede Religionsgesellschaft ordnet und verwaltet ihre Angelegenheiten selbständig innerhalb der Schranken des für alle geltenden Gesetzes. Sie verleiht ihre Ämter ohne Mitwirkung des Staates oder der bürgerlichen Gemeinde.“
Aus diesem Artikel leiten die Kirchen seit Gründung der Bundesrepublik [2] das Recht auf einen arbeitsrechtlichen Sonderstatus ab, der als „Dienstgemeinschaft“ bzw. „Dritter Weg“ etikettiert, kirchlichen Mitarbeitenden Streikrecht und Tarifverträge verwehrt.[3] Die ideologische Grundlage für dieses arbeitsrechtliche Konzept formulierte
der evangelische Kirchenrechtler Werner Kalisch, der den Nationalsozialisten nahestand, 1952 in dem Aufsatz „Grund- und Einzelfragen des kirchlichen Dienstrechts“, auf den weiter unten näher eingegangen wird.
Allerdings scheint Artikel 137 (3) WRV ursprünglich weder im heutigen Sinne gemeint noch verstanden worden zu sein. Die Regelungen, dass Religionsgemeinschaften ihre Angelegenheiten selbständig ordnen und verwalten und ihre Ämter ohne Mitwirkung des Staates oder der bürgerlichen Gemeinde verleihen, ist aus historischer Perspektive eine Konkretisierung von Artikel 137 (1) WRV, der konstatiert und verfassungsrechtlich begründet, dass es in der nach dem Untergang der Monarchie neu gegründeten Weimarer Republik keine Staatskirche mehr gibt. Dem entsprechend mischt sich der Staat auch nicht mehr in die Besetzung der Ämter, die Kirchen und andere Religionsgemeinschaften zu vergeben haben, ein, wie es in den Jahrhunderten davor üblich war.
Selbstverständlich galt das Betriebsrätegesetz vom 4. Februar 1920 auch für die Kirchen und ihre Wohlfahrtsverbände – einschließlich des Streikrechts. Bereits im Frühjahr 1919 hatten kirchlich angestellte Friedhofsgärtner in Berlin mittels eines Streiks den Abschluss eines Tarifvertrags durchgesetzt, der am 20. Mai 1919 unterzeichnet wurde.[4] Es ist offensichtlich, dass die Autoren der WRV keinesfalls mit Artikel 137 (3) ein kirchliches Sonderarbeitsrecht etablieren wollten, wie es seit Gründung der Bundesrepublik zielstrebig und mit fragwürdigen Argumenten von den Kirchen durchgesetzt wurde.
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