Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 233: 5. Berliner Gespräche - Kirchliches Sonderarbeitsrecht

Verfas­sungs­mä­ßig­keit und Umsetzung der EuGH-­Ur­teile zu "Egenberger" und "Chefarzt"

Auf dem ersten Podium der 5. Berliner Gespräche über das Verhältnis von Staat, Religion und Weltanschauung diskutierten am 27. November 2020:

Oberkirchenrat Detlev Fey ist Referatsleiter Arbeitsrecht und Organisationsberatung bei der Evangelischen Kirche in Deutschland, betätigt sich als juristischer Fachautor (u.a. Kommentare zum Mitarbeitervertretungsrecht und den Arbeitsvertragsrichtlinien) sowie Mitherausgeber der Zeitschrift für Mitarbeitervertretungen; zudem ist er Mitglied der sozialen Selbstverwaltung der Deutschen Rentenversicherung und der Verwaltungsberufsgenossenschaft.

Peter Stein Rechtsanwalt und Richter a.D., studierte Rechtswissenschaften und Politologie in Hamburg, war von 1982 bis 2016 Richter am Arbeitsgericht Hamburg und ist jetzt Lehrbeauftragter an der Universität Hamburg; zahlreiche arbeitsrechtliche Veröffentlichungen zum Kündigungsschutzrecht und Diskriminierungsschutz. Im Egenberger-Verfahren vertrat er die Klägerin beim EuGH und beim BAG, beim EuGH war er zudem Prozessbevollbemächtigter der Humanistischen Union, die dem Verfahren auf Seiten der Klägerin beigetreten war.

Prof. Dr. Antje von Ungern-Sternberg studierte Rechts- und Geschichtswissenschaften in Freiburg, Münster, Cambridge (UK) und Paris und promovierte 2007 mit einer rechtsvergleichenden Arbeit zum Thema „Religionsfreiheit in Europa“ an der WWU Münster. Ihre Habilitationsschrift (2015) befasste sich mit „Völkerrecht und Demokratie – Zur demokratischen Legitimation nationaler und internationaler Rechtserzeugung“. Sie hat seit März 2017den Lehrstuhl für deutsches und ausländisches öffentliches Recht, Staatskirchenrecht und Völkerrecht an der Universität Trier inne. Ihre Forschungsschwerpunkte sind vergleichendes Öffentliches Recht; Völker- und Europarecht; Verfassungsrecht, insbesondere Religionsverfassungsrecht.

Christian Waldhoff studierte Rechtswissenschaften in Bayreuth, Fribourg und München. Seine Dissertation (1996) befasste sich mit „Verfassungsrechtliche(n) Vorgaben für die Steuergesetzgebung im Vergleich Deutschland-Schweiz“, seine Habilitation (2002) mit dem Thema „Der Verwaltungszwang. Historische und dogmatische Studien zu Vollstreckung und Sanktion als Mittel der Rechtsdurchsetzung der Verwaltung“. Er hatte ab 2003 eine Professor für Öffentliches Recht an der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät der Universität Bonn inne und war dort zugleich Direktor des Kirchenrechtlichen Instituts, 2012 nahm er einen Ruf auf einen Lehrstuhl für Öffentliches Recht und Finanzrecht an der Juristischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin an.

Sven Lüders studierte Soziologie, Volkswirtschaftslehre und Psychologie an der Freien Universität zu Berlin, war von 2004 bis 2019 Geschäftsführer der Humanistischen Union und ist seitdem Geschäftsführer des Forschungsinstituts für öffentliche und private Sicherheit an der HWR Berlin. Seit 2013 ist er verantwortlicher Redakteur der Zeitschrift vorgänge.

Lüders: Wir haben den Einführungsvortrag von Frau Frings gehört, die uns den Verfahrensablauf der beiden Fälle Egenberger und Chefarzt geschildert hat.i Was ich daraus mitgenommen habe für unsere Podiumsdiskussion: Zum einen die Frage der Abgrenzung – wie kann die weltliche, die gerichtliche von der kirchlichen Ordnung im Arbeitsrecht abgegrenzt werden? Wie weit dürfen Gerichte in Arbeitsverhältnisse hinein prüfen, ob es bestimmte Loyalitätspflichten geben darf und ob eine Stelle eine sogenannte Verkündigungsnähe hat oder nicht? Als zweites die Frage nach der Kirchenklausel, also welchen Status das Selbstbestimmungsrecht oder das Selbstverwaltungsrecht der Kirchen hat? Inwiefern muss es vom europäischen Recht als Status quo, als Bereichsausnahme hingenommen werden? Und schließlich die Frage der Kompetenzabgrenzung: Findet hier eine Kompetenzübertretung seitens der europäischen Gerichte, seitens des europäischen Rechts statt oder ist das hinzunehmen?

Zurück zum Verfahrensstand. Der besteht kurz gesagt darin, dass wir zwei deutliche Interventionen des Europäischen Gerichtshofes in das deutsche Kirchenarbeitsrecht hatten; dass wir eine Entgegnung des Bundesverfassungsgerichts 2014 im Fall Chefarzt hatten, die einen klaren Kontrapunkt gesetzt hat. Ganz offensichtlich haben diese Gerichte bisher keine einheitliche Linie gefunden. Wir warten jetzt alle gespannt auf die Karlsruher Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde der Diakonie, die für nächstes Jahr erwartet wird. So viel zur Ausgangslage unserer Diskussion.

Als erstes würde ich nun Herrn Fey zu Wort bitten. Als außenstehender Beobachter dieses Verfahrens drängt sich die Frage auf: Warum geht die EKD jetzt nach Karlsruhe? Warum eskalieren sie einen Rechtsstreit, bei dem es um eine auf zwei Jahre befristete Teilzeit-Referentenstelle, um eine Entschädigungssumme von zwei Monatsgehältern ging. Sie legen dagegen Verfassungsbeschwerde ein mit einer Beschwerdeschrift, die schon sehr kräftig aufträgt. Ich bringe nur mal als Stichwörter: dass sie die Verfassungsidentität bedroht sehen, dass die Demokratie in Deutschland in Gefahr sei oder demnächst eine Staatstheologie der Gerichte droht. Warum kochen Sie diesen Fall so hoch, Herr Fey?

Fey: Vielen Dank, dass ich hier die Gelegenheit habe, die kirchliche Perspektive einzubringen. Wir freuen uns, das zigtausende von Menschen, die andersgläubig oder nichtgläubig sind, engagiert in unseren Einrichtungen, Werken und Diensten tätig sind und uns dabei unterstützen, den kirchlichen Auftrag in der Welt zu realisieren. Deswegen waren die Meldungen in den Medien nach den Entscheidungen des EuGH und des BAG fehlgehend, die Kirchen müsse auch Anders- und Nichtgläubige einstellen. Das tun wir gerne und mit steigender Tendenz. In der Verfassungsbeschwerde, meine Damen und Herren, geht es um etwas Anderes. Für bestimmte berufliche Funktionen wollen wir nach unserem Selbstverständnis und in Ausübung des im Grundgesetz verankerten kirchlichen Selbstbestimmungsrechts darüber befinden, ob diese Funktionen mit Christinnen und Christen besetzt werden müssen oder ob dafür auch anders- oder nichtgläubige Menschen in Betracht kommen. Ich will das an drei aktuellen Beispielen, die gerichtsanhängig sind oder waren, illustrieren. Vor dem Landesarbeitsgericht Niedersachsen habe ich ein Verfahren mit einem abgewiesenen, juristischen Bewerber, der bei der evangelischen Kirche in Deutschland Kirchenrat werden wollte und der sich nach seiner Absage dagegen wehrte – was ja sein gutes Recht ist. Aber, meine Damen und Herren, ein atheistischer Kirchenrat ist doch so widersprüchlich wie ein gottgläubiger Atheist. Darüber müssen wir befinden können, ob ich als Kirchenrat in der Zentrale Christ oder Christin sein soll. Ein zweiter Fall: Wenn wir als Kirche wollen, dass eine Sozialpädagogin in der Schwangerschaftskonfliktberatung Christin sein soll, dann muss uns diese Festlegung möglich sein. Kann es in der Arbeit mit jungen Prostituierten oder Drogenabhängigen anders sein? Sollen die staatlichen Gerichte dazu eine Kasuistik erstellen? Das kann, meine Damen und Herren, nicht sein. In diesem Jahr war die Leitung eines kirchlichen Pfarramts in einer Landeskirche zu besetzen. Dort geht es hauptsächlich um die Verantwortung der Gestaltung von Sakralbauten. Diese Gestaltung sakraler Gebäude hat neben der architektonischen Fachlichkeit auch stets eine geistliche Dimension.

Ich könnte viele weitere derartige Beispiele benennen. Die Gerichte können diese Festlegung der Kirche, so das Bundesverfassungsgericht, auf Plausibilität und Willkürfreiheit kontrollieren. Das ist nach meiner Überzeugung unter rechtsstaatlichen Aspekten auch völlig in Ordnung. Die Gerichte eines religiös-neutralen Staates können diese Festlegung aber eben nicht voll inhaltlich kontrollieren. Hierbei handelt es sich um ausgeübtes kirchliches Selbstbestimmungsrecht. In der Fachpresse wurde dieses Phänomen zugespitzt auch als Richtertheologie bezeichnet. Soweit will ich nicht gehen. Aber staatliche Gerichte haben keinen „Credometer“ zur Verfügung, mit dem sie die Distanz der konkreten beruflichen Tätigkeit zum Verkündigungsauftrag in den genannten Beispielen vermessen können. Das BAG hat das anders bewertet und darin liegt ein verfassungswidriger Eingriff in die korporative Religionsfreiheit und das kirchliche Selbstbestimmungsrecht. Der frühere Verdi-Bundesvorsitzende Frank Bsirske hat zwar vornehm aber dennoch verunglimpfend formuliert das kirchliche Selbstbestimmungsrecht als vorkonstitutionell bezeichnet. Meine Damen und Herren, das kirchliche Selbstbestimmungsrecht ist auch am 27. November 2020 aktuell gültiges Verfassungsrecht der Bundesrepublik Deutschland. Wir sollten aus Sicht aller Religionsgemeinschaften froh sein, dass es diese Form der Religionsfreiheit gibt.

Gegenüber dem Europäischen Gerichtshof hat das Bundesarbeitsgericht in seiner Entscheidung vom 28.10.2018 noch kräftig etwas drauf gesetzt: Danach kann die Kirche keine Kirchenzugehörigkeit bei den Mitarbeitern fordern, wenn eine berufliche Funktion weisungsgebunden in ein Organisationsgefüge eingebunden ist. Ja, das gilt für nahezu alle beruflichen Funktionen. Auch der Vorsitzende des Rates der evangelischen Kirche in Deutschland, Heinrich Bedford-Strohm, ist gegenüber dem Rat der EKD weisungsgebunden. Die FAZ hat das zugespitzt als „Pulverisierung des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts“ gewertet. Dagegen wendet sich unsere Verfassungsbeschwerde. Kirche muss Kirche bleiben können und darf nicht auf kaltem Weg säkularisiert werden – auch nicht durch die staatlichen Gerichte.

Lassen Sie mich noch einen Blick auf andere Bereiche werfen. Mein Kollege, der Verdi-Justiziar Jens Schubert, erklärt öffentlich, dass es eine Selbstverständlichkeit ist, dass ich für eine berufliche Tätigkeit bei Verdi auch Mitglied sein muss. Es wäre zweitens kein kluger Plan, sich als überzeugter Sozialdemokrat in der CDU-Bundeszentrale zu bewerben oder umgekehrt als überzeugter Christdemokrat in der SPD-Zentrale. Eine Freundin von mir ist im Management einer großen gesetzlichen Krankenversicherung tätig. Wenn die sich privat versichern würde, verliert sie ihren Job. Daran wird kein oder höchstens wenig Anstoß genommen, aber die Religionsgemeinschaften, die von der Verfassung eine besondere Stellung zugewiesen bekommen, haben diese Zumutung des EuGH und insbesondere des Bundesarbeitsgerichts erhalten.

Lüders: Herr Frey, erlauben Sie mir eine Nachfrage. Die von Ihnen genannten Beispiele – etwa aus den Gewerkschaften –waren ja typische Beispiele des Tendenzschutzes. Dieser Tendenzschutz, den es auch in weltlichen Unternehmen gibt, der wäre für Sie nicht ausreichend?

Fey: Wir sind Religionsgemeinschaft, wir sind Kirche. Das ist etwas Anderes als Weltanschauung. Das differenziert unsere Verfassung auch zu Recht. Wegen der transzendenten Dimension, wegen des Glaubens wäre für uns Tendenzschutz unpassend. Er hat eben nicht die Dimension, die ich angesprochen habe.

Lüders: Herr Stein, können Sie noch einmal erläutern, um welche Tätigkeit es im Fall Egenberger ging? Zugespitzt gefragt: Konnten Sie die transzendente Seite der Arbeit erkennen?

Stein: Frau Egenberger wollte eine Aufgabe wahrnehmen, die mit Verkündigung nichts zu tun hatte. Insofern ist das ein gutes Beispiel zur Abgrenzung einer verkündigungsnahen und einer verkündigungsfernen Tätigkeit. Wieso die evangelische Kirche für sich in Anspruch nimmt, auch bei verkündigungsfernen Tätigkeiten besondere Loyalitätsanforderung zu stellen oder eine Kirchenzugehörigkeit einzufordern, ist die große Frage. Die katholische Kirche ist da interessanterweise weiter, weil sie ausdrücklich differenziert zwischen verkündigungsnah und verkündigungsfern, was aus meiner Sicht schon mal ein großer Fortschritt ist.

Im Übrigen ist mehrfach die Rede davon gewesen, dass die EKD Verfassungsbeschwerde eingelegt hätte. Das ist aber gar nicht der Fall. Die Verfassungsbeschwerde ist eingelegt worden vom evangelischen Werk für Diakonie und Entwicklung e.V., von einem eingetragenen Verein. Das hat aus juristischer Sich weitreichende Konsequenzen; das führt nämlich dazu, dass die ohnehin unbegründete Verfassungsbeschwerde auch unzulässig ist. Warum? Die Verfassungsbeschwerde des Vereins argumentiert mit zwei Gesichtspunkten: Zum einen mit der Ultra-vires-Rüge und zum anderen mit einer Identitätsverletzung des Grundgesetzes.

„Ultra-vires“ stützt sich auf das Recht zur demokratischen Teilhabe aus Artikel 38 des Grundgesetzes. Eine juristische Person, wie die Beschwerdeführerin, kann sich aber gar nicht auf dieses Recht berufen. Träger des Rechts aus Artikel 38 GG sind die wahlberechtigten Staatsangehörigen und die politischen Parteien, nicht aber ein Verein. Im Übrigen ist die Ultra-vires-Rüge auch unbegründet, weil es an einer offensichtlichen Kompetenzüberschreitung im Sinne einer nicht mehr vertretbaren und damit willkürlichen Auslegung des Unionsrechts durch den EuGH fehlt. Selbst wenn man für das Egenberger-Urteil eine offensichtliche Kompetenzüberschreitung bejahen wollte, würde das nicht zu der nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zusätzlich erforderlichen, substantiellen Kompetenzverschiebung zu Lasten der Mitgliedsstaaten führen.

Wie argumentiert der Verein? Er sagt: Die Kompetenzüberschreitung des EuGH liege darin, dass die Union keine Kompetenz für ein eigenes Religionsverfassungsrecht, ein EU-Kirchenrecht habe. Der Europäische Gerichtshof hat nun aber überhaupt kein eigenes Religionsrecht mit Statusfragen und Institutionsgarantie geschaffen. Er hat vielmehr im Bereich der der EU in Artikel 19 AEUV ausdrücklich zugewiesenen Kompetenz für den Bereich Diskriminierung entschieden. Und wie wir alle wissen, ist das Unionsrecht eine Querschnittsmaterie, die Einfluss auf die unterschiedlichsten Teilgebiete innerstaatlichen Rechts hat. Der EuGH nimmt durchgehend keine Rücksicht auf vermeintlich nicht von den Unionskompetenzen erfasste Rechtsgebiete. Der EuGH hat insbesondere die Grundfreiheiten flächendeckend durchgesetzt – selbst in den ganz offensichtlich nicht in den Zuständigkeitsbereich der Union fallenden Rechtsgebieten wie den Streitkräften der Mitgliedsstaaten.ii

Es ist auch wenig überzeugend, das gesamte kirchliche Arbeitsrecht dem nach Artikel 17 AEUV geschützten Status zuzuordnen. Schon vom Wortlaut her macht das wenig Sinn. „Status“ ist weniger als alles. Bei „Status“ geht es um die grundlegenden Organisationsmodelle der Zuordnungen von Staat und Religionsgemeinschaft: Trennung, Kooperation, Staatskirche. Artikel 17 AEUV begründet ein Abwägungsgebot, dass den Unionsgesetzgeber verpflichtet, den Status der Kirchen beim Erlass von Sekundärrechtsakten in besonderer Weise Rechnung zu tragen. Und genau das ist mit Artikel 4 Absatz 2 der Richtlinie 2000/78/EG geschehen – in geradezu vorbildlicher Weise. Der deutsche Gesetzgeber hat das mit § 9 AGG – wenn auch unzureichend – übernommen. Den Kirchen sind hier Sonderrechte eingeräumt worden. Sie dürfen anders als ein normaler Arbeitgeber besondere Loyalitätspflichten statuieren.

Dann ist argumentiert worden mit der Ausweitung, der horizontalen Anwendung, von Artikel 21 der Grundrechtecharta. Abgesehen vom Diskriminierungsgrund, nämlich Religion statt Alter, stimmt das Urteil im Egenberger-Verfahren vollständig mit den Urteilen Mangoldiii und Kücükdeveciiv überein. Aufgrund des umfassenden Diskriminierungsverbots und der Vergleichbarkeit der Fallkonstellation kann von etwas strukturell Neuem oder einer willkürlichen Auslegung im Fall Egenberger nicht die Rede sein. Es fehlt auch eine substantielle Kompetenzverschiebung zu Lasten der Mitgliedsstaaten. Vertrauensschutz ist eine rechtsstaatliche und grundrechtliche Kategorie, keine der Kompetenzverteilung zwischen den Trägern öffentlicher Gewalt. Der Staat legt auch, anders als Herr Fey es insinuiert hat, keineswegs ohne Rücksicht auf das theologische Selbstverständnis fest, was für das Ethos erforderlich ist. Richtig ist vielmehr, dass die Religionsgemeinschaften nach wie vor ihr Ethos uneingeschränkt selbst festlegen, dass sie aber bei der Durchsetzung ihres Ethos im Geltungsbereich der staatlichen Rechtsordnung den Grenzen des staatlichen Rechts unterliegen.

Das zweite Thema ist die Identitätsrüge. Auch die ist von vornherein unzulässig. Warum? Nach der bisherigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts beschränkt sie sich auf die elementaren Garantien der demokratischen Mitwirkung aus Artikel 38 GG und der Menschenwürde aus Artikel 1 GG. Zu Artikel 38 GG habe ich schon etwas gesagt. Auf die Menschenwürde kann sich der Verein als juristische Person nicht berufen. Inhaber der Würde ist ausschließlich der Mensch als natürliche Person. Die Identitätsrüge ist aber auch unbegründet. Der Identitätsschutz ist auf Artikel 79 Absatz 3 GG und die verfassungsrechtlichen Grundstrukturen beschränkt. Zu diesen Grundstrukturen kann man die prinzipielle Geltung des Selbstverwaltungsrechts der Religionsgemeinschaften rechnen, nicht aber seine konkrete Ausgestaltung im kirchlichen Arbeitsrecht. Auch unter dem Grundgesetz hat sich im Umgang mit dem Selbstbestimmungsrecht und der speziellen Schranke des für alle geltenden Gesetzes ein Abwägungsprogramm durchgesetzt. Das ist allgemein anerkannt. Zur Verfassungsidentität des Grundgesetzes gehört im Übrigen auch ein umfassender Justizgewährungsanspruch. Die Konzeption einer kirchlichen Dienstgemeinschaft macht die Gewährung eines effektiven staatlichen Rechtsschutzes aber faktisch unmöglich.

Letztlich stehen beim kirchlichen Arbeitsrecht zwei verfassungsrechtliche Grundanforderungen von gleichrangiger Bedeutung in einem Spannungsverhältnis: Das Selbstverwaltungsrecht der Religionsgemeinschaften verlangt eine Zurücknahme der staatlichen Kontrolle, der Justizgewährungsanspruch fordert eine möglichst umfassende Kontrolle auch solcher Entscheidungen durch die staatlichen Gerichte. Die Ansätze des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, des Bundesverfassungsgerichts und des Europäischen Gerichtshofs tragen beiden Anliegen Rechnung. Der EGMR nimmt seine Kontrollrechte im Bereich des staatlichen Religionsrechts wegen der unterschiedlichen mitgliedsstaatlichen Traditionen sehr zurück. Das Bundesverfassungsgericht hat der Position der Religionsgemeinschaften einen Vorrang vor den entgegenstehenden individuellen Grundrechtspositionen eingeräumt, während der EUGH seine Antidiskriminierungsrechtsprechung fortsetzt. Die von drei Gerichten herangezogene Abwägung folgt denselben Grundstrukturen, setzt allerdings bei der Kontrolldichte unterschiedliche Akzente. Über die Akzentsetzung mag man streiten. Aber die Annahme, hier würde die Grenze der Verfassungsidentität des Grundgesetzes überschritten, ist angesichts der Übereinstimmung mit den Grundstrukturen sehr fernliegend.

Lüders: Vielen Dank, Herr Stein. Herr Waldhoff, der Kirchenklausel scheint eine zentrale Rolle zuzukommen bei der Frage, wie weit die Gerichte in die Kirchenarbeitsverhältnisse reinschauen dürfen. Woher kommt diese Klausel, welchen Stellenwert hat sie in der Grundrechteordnung und wie hat der sich vielleicht auch verändert? Im Chat wurde schon angemerkt, wie aus der Selbstverwaltung und der Selbstorganisation eine Frage der Selbstbestimmung wurde.

Waldhoff: Ja, das kann ich gerne machen. Ich würde meine Beobachtungen in vier Punkte unterteilen, um etwas Struktur reinzubringen. Erstens: Die Position des Bundesverfassungsgerichts in seiner Entscheidung in Sachen „Chefarzt“, also die Entscheidung vom Oktober 2014, kann nur verstanden werden als Ausdruck der Religionsfreundlichkeit des Religionsverfassungsrechts des Grundgesetzes, das als historischer Kompromiss 1919 und 1949 auch in der Gegenwart weiter konkretisiert und fortentwickelt wird. In der Logik dieses deutschen Religionsverfassungsrechts ist die Entscheidung meines Erachtens folgerichtig. Das kann man ganz kurz erklären: Als Ausgangspunkt haben wir eine Trennung von Staat und Kirche, von Staat und Religion. Das ist Artikel 137 Absatz 1 der Weimarer Reichsverfassung: „Es besteht keine Staatskirche“. Wenn der Staat aber gleichzeitig Religionsfreiheit gewährleisten will – und das will er aus gutem Grund –, dann bedeutet das, der Individualrechtsschutz läuft hier bei uns über Artikel 4 Grundgesetz und der kollektive Schutz von Religionsfreiheit, also von Religionsgemeinschaften selbst, über den Artikel 137 Absatz 3 Weimarer Reichsverfassung (WRV), über den wir hier diskutieren. Daneben gibt es noch Privilegierungen von Kirchen durch den Körperschaftsstatus, das wäre Artikel 137 Absatz 5 WRV, aber das ist hier nicht Thema.

Wie geht das Bundesverfassungsgericht mit diesem Artikel 137 der Weimarer Reichsverfassung, der ja unstrittig voll gültiges Verfassungsrecht ist, um? Früher hätte man gesagt: Es gibt eine kirchliche, religiöse Sphäre einerseits und eine staatliche Sphäre andererseits. In diese kirchliche, religiöse Sphäre darf staatlicherseits überhaupt nicht eingegriffen werden, und auf der anderen Seite ist der Staat mehr oder weniger frei. Das hat man aus gutem Grund im Laufe der Jahrzehnte in der Karlsruher Rechtsprechung aufgegeben. Jetzt findet eine Verhältnismäßigkeitsabwägung zwischen dem kirchlichen Selbstbestimmungsrecht einerseits und den „allgemeinen Gesetzen“, so die Formulierung in Artikel 137 Absatz 3 WRV, andererseits statt. Das hat das Bundesverfassungsgericht bei der Entscheidung im Oktober 2014 auch gemacht – und zwar in einem zweistufigen Test, was nicht unwichtig ist. Auf der ersten Stufe fragt das Gericht: Was gehört zum kirchlichen Selbstverständnis? Das sollen die Kirchen und Religionsgemeinschaften autonom bestimmen und das Gericht macht nur eine Plausibilitätsprüfung. Ich würde Herrn Stein auch gleich widersprechen. In der Rechtssache Egenberger sagt die evangelische Kirche, was ich sehr gut nachvollziehen kann: Natürlich gehört diese Beschäftigung zum Verkündigungsauftrag der Kirche. Wenn die Kirche auf UN-Ebene bei Rassismus und Diskriminierungsdebatten mitwirkt, ist sie doch nur dadurch legitimiert, dass sie das aus ihrer spezifisch kirchlichen Position heraus macht; sonst gibt es überhaupt keinen Grund, dass sie sich Kirchen da beteiligen. Man möchte ja legitimer Weise gerade diese Positionen einbringen. Wenn ein Richter des Bundesarbeitsgerichts sagt: Ich entscheide, was Verkündigung ist und was nicht, ist das ein eklatanter Eingriff des Staates in das Selbstverständnis der Religionsgemeinschaft und gegebenenfalls auch von einzelnen Angehörigen dieser Religionsgemeinschaft. Das kann der Staat in einem doppelten Sinne nicht: Er kann es nicht, weil er, um es mal deutlich zu sagen, keine Ahnung hat, weil er kein ausgebildeter Theologe ist, kein Pfarrer, Imam oder Geistlicher. Und er kann es nicht, weil er es rechtlich nicht darf, weil das Staatskirchenrecht, das Religionsverfassungsrecht das nicht vorsieht. Die hinter der Rechtsprechung stehende Idee der christlichen Dienstgemeinschaft, über die man sicher diskutieren kann, ist eine sehr radikale Idee, weil sie – wenn ich es mal polemisch sage – „von der Putzfrau bis zum Bischof“ im Prinzip alle gleichbehandelt. Das muss man nicht gut finden, es ist aber eine klare Ansage. Und das Bundesverfassungsgericht würde immer sagen: Das gehört zum kirchlichen Selbstverständnis.

Es wurde schon darauf hingewiesen, dass die katholische Seite durch die Anpassung ihrer internen arbeitsrechtlichen Regelungen das kirchliche Arbeitsrecht, konkret etwa die Loyalitätsobliegenheiten inzwischen gelockert hat. Erneut plakativ: Die Putzfrau muss sich jetzt nicht in gleicher Weise an die Regeln halten wie der Bischof. Mir hat ein katholischer Bischof gesagt: Das liegt nicht zuletzt darin begründet, dass man mit diesen harten Anforderungen in bestimmten Bereichen und Regionen kaum noch Personal bekommt; aber das ist Sache der Kirche, ob sie es macht oder nicht.

Zweitens: Der „Skandal“ an den beiden EuGH-Judikaten, also Egenberger und Chefarzt, liegt meines Erachtens darin, dass die Kirchen- oder Religionsklausel, also der Artikel 17 AEUV, in ihrer Bedeutung schlicht ignoriert wird. Ursprünglich hatte die Europäische Union mit Kirchen oder Religionen gar nichts im Sinn – musste sie auch nicht. Die seinerzeitige Europäische Gemeinschaft war in der Sache ein gemeinsamer Binnenmarkt, Religions- oder Kirchenfragen kamen immer nur im Gewande von konkreten Wirtschaftsfragen auf den EU-Gesetzgeber oder auf den EuGH zu. Etwa: Darf ein Auswahlverfahren für Beamte der Kommission an einem jüdischen Feiertag stattfinden? Oder es ging darum, ob Pfarrer und Priester vom Sonntagsarbeitsverbot befreit sind; oder – um eine weiteres Beispiel zu bringen – ob, wenn Gottesdienste im Rundfunkt oder Fernsehen übertragen werden, das durch Werbepausen unterbrochen werden darf oder nicht. Das waren immer nur Sekundärfragen, weil für den eigentlichen Kern des Ganzen – Kirchen und Religion – die EU keine Zuständigkeit hatte und auch nicht hat. Dass sich die Union hier zurückhält, ist sehr klug. Denn wir haben noch 27 Mitgliedsstaaten, die völlig unterschiedliche Grundverhältnisse von Staat und Religion haben: von Staatskirchen in Griechenland bis zu streng laizistischen Systemen wie in Frankreich. Die meisten EU Mitgliedsstaaten haben ein mittleres Kooperationsmodell: im Grundsatz Trennung, aber doch zahlreiche Verflechtungen zwischen Staat und Religion, wie sie auch das Grundgesetz kennt. Dass man dies achten muss, soll die EU funktionieren, versteht sich eigentlich von selbst. Der Kirchenartikel hat hierbei einen doppelten Inhalt. Besonders wichtig ist, dass das institutionelle Grundverhältnis zwischen Staat und Religion Sache der Mitgliedsstaaten bleibt und bei der Rechtsanwendung entsprechend zu beachten ist. Wobei ich in leichter Akzentverschiebung zu Herrn Stein auch sagen würde: „Status“ kann nach Entfaltung dieses Hintergrunds des Artikels sinnvollerweise nicht nur die reine Organisationsfrage sein (Gibt es einen Körperschaftsstatus oder nicht?), sondern meint das institutionelle Grundverhältnis zwischen Staat und Kirche insgesamt und dessen Absicherung. Daneben wird noch ein Dialog mit Kirchen, Religions- und auch Weltanschauungsgemeinschaften installiert, der zumindest als Absage an ein strikt laizistisches Modell à la Française verstanden werden kann. Dieser wichtige Religionsartikel gerät in den beiden EuGH-Entscheidungen in einer Randnotiz zu einem belanglosen Programmsatz, der dann folgerichtig keinen juristischen Wert besitzt. Mit der Aktivierung dieser Klausel möchte ich nicht die Kirchen in einen rechtsfreien Raum stellen, sondern ein privilegiertes, starkes Abwägungselement in die Abwägung einbringen – durchaus ergebnisoffen. Das ist aber in diesen Entscheidungen letztlich nicht geschehen. Damit verbunden ist ein Problem auch hinsichtlich der Akzeptanz der EU, weil Kirchen- bzw. Religionsfragen viele EU-Bürger bewegen, und die Akzeptanz der EU und des Europäischen Gerichtshofes durch solche Entscheidungen noch weiter abzusinken droht. Dass man das viel intelligenter machen kann, zeigt die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in Straßburg. Der berücksichtigt relativ deutlich – und meistens durchaus überzeugend – im Rahmen einer margin of appreciation den mitgliedsstaatlichen Gestaltungsspielraum innerhalb des Grundverhältnisses von Staat und Religion; was dort angesichts von 47 Mitgliedsstaaten besonders wichtig ist, man denke nur daran, dass dort auch die Türkei Mitgliedstaat ist.

Dritte Bemerkung: Unabhängig von dem bisher Gesagten stellt sich die Frage, warum eigentlich Bundesverfassungsgericht und Europäischer Gerichtshof in diesen Fragen so unterschiedlich agieren. Ich würde folgende Erkenntnis gern zur Diskussion stellen: Liegt der Grund in einer unterschiedlichen Ausprägungsrichtung der zugrundeliegenden Rechtsordnung, also der europäischen Rechtsordnung einerseits und dem deutschen Recht, insbesondere dem deutschen Religionsverfassungsrecht andererseits? Das deutsche Recht „tickt“, wenn ich das mal etwas salopp so sagen darf, deutlich institutionell. Wir nehmen die Kirchen und Religionen als Kollektive wahr, die einen Status haben. Das ist dem deutschen Recht insgesamt eigen. Wir nehmen auch Rundfunk als Rundfunkanstalten wahr. Wir nehmen politische Parteien als institutionalisierte Einheiten wahr. Das Europarecht denkt demgegenüber funktional: Es fragt nach Diskriminierungen. Es möchte einen gemeinsamen Markt oder Binnenmarkt gewährleisten, der dann auch abgesichert wird – arbeitsrechtlich, sozialrechtlich und in sonstigen Facetten. Es gehört gleichsam zur „DNA“ des Europäischen Gerichtshofs, dass er in Kategorien des Antidiskriminierungsschutzes agiert. Das kommt ursprünglich gar nicht aus einer gesellschaftspolitischen Richtung – Frauendiskriminierung, Minderheitendiskriminierung oder ähnliches –, sondern es geht um Diskriminierung im Binnenmarkt, um ein pointiert wirtschaftsliberales Diskriminierungsverbot. Das hat zur Folge, dass auch EuGH-Richterinnen und -Richter, die weltanschaulich sowie gesellschaftspolitisch vielleicht ganz anders argumentieren und agieren würden, hier – wenn es um Diskriminierungsfragen geht – fast immer der Antidiskriminierungsseite den Vorzug geben. Herr Stein hat die EuGH-Urteile Mangold bzw. Honeywell erwähnt: die halte ich für krasse Fehlurteile. Dort wäre der richtige Anlass für ein Eingreifen des Bundesverfassungsgerichts gewesen, um den EuGH zur Rede zu stellen. In diesen Entscheidungen wurde behauptet, dass es gemeinsame Überzeugungen der Verfassungsordnungen der Mitgliedsstaaten gebe hinsichtlich der Altersdiskriminierung; das war jedoch seinerzeit nachweislich nicht der Fall.

Vierter und letzter Punkt: Der hier behandelte Konflikt ist auch ein Institutionenkonflikt zwischen dem deutschen Bundesverfassungsgericht einerseits und dem Europäischen Gerichtshof andererseits in der Frage: Wer hat das letzte Wort? Die wirklich spannende Frage ist ja die, wie das Bundesverfassungsgericht jetzt in dem erneut anhängigen Fall Egenberger entscheiden wird nach dem EZB-Urteil vom Frühjahr 2020 und den daraus resultierenden Eskalationen. Das damit ein schon innermitgliedsstaatlich höchst umstrittener Fall zum Prüfstein in der Machtprobe zwischen Karlsruhe und Luxemburg wird, finde ich eher unglücklich. Der EuGH missachtet in seiner Rechtsprechung mitgliedsstaatliche Essentiale, die im Lissabon-Urteil des Bundesverfassungsgerichts völlig zu Recht als Bestandteil der nationalen Identität verortet wurden. Denken Sie mal an die Laicité in Frankreich – das gehört unbestritten zum Selbstverständnis der französischen Republik und ist nicht bloß eine technische Regelung, die man so oder so machen kann. Ähnlich sehe ich das mit dem Selbstbestimmungsrecht der Religionsgemeinschaften bei uns auch. Deshalb ist es mehr als verständlich, wenn das Bundesverfassungsgericht sich dagegen wehrt. Der wichtige Hintergrund ist freilich, dass in einem so komplexen Gefüge wie der EU solche Letztentscheidungsverfahren meines Erachtens in der Schwebe bleiben sollten. Insofern halte ich das EZB-Urteil vom Frühjahr in der Sache für richtig, im Ton freilich für überpointiert und problematisch. Für die anstehende Karlsruher Entscheidung würde ich mir in der Sache ein kritisches und im Tonfall moderates Urteil wünschen.

Lüders: Vielen Dank! Ich habe nur eine kurze Rückfrage an Herrn Stein. Herr Waldhoff hatte gerade den Sachverhalt angesprochen. Ich habe gelernt, dass der Sachverhalt bei Jurist*innen immer am Anfang steht und es ganz wichtig ist, den möglichst genau zu fassen. Deswegen meine Frage: Ging es im Fall Egenberger um eine Positionserarbeitung für die Diakonie? Da haben Sie, Herr Stein, glaube ich, eine andere Auffassung?

Stein: Darüber mag man streiten, aber vernünftigerweise sprechen die besseren Argumente dafür, dass die konkrete Tätigkeit von Frau Egenberger gar nichts mit Verkündigung zu tun hatte. Wenn man aber nicht auf die konkrete Tätigkeit abstellt, dann findet alles, was die Kirche macht, im Rahmen der Dienstgemeinschaft statt. Deswegen hat dann alles, auch wenn der Gärtner Rosen schneidet und der Handwerker die Heizung einstellt, etwas mit der Verkündigung des christlichen Glaubens zu tun. Wenn man dagegen vom geltenden Recht ausgeht, dann landet man bei der konkreten Tätigkeit – wie in der Richtlinie 2000/78/EG festgelegt ist. Da kommt man nur wieder raus, wenn man sagt, schon das ist verfassungswidrig. Das müsste man dann begründen. Aber wie sollte man ansonsten die Grenzen ziehen? Herr Fey hat erwähnt, dass die Kirche in ihrem Handeln an Plausibilität und Willkürfreiheit gebunden ist. Andere Kirchenvertreter räumen ein, dass Kirchen selbstverständlich an den Gleichbehandlungssatz gebunden sind. Auch Herr Thüsing räumt ein, dass der ordre public für die Kirchen gilt. Ich will jetzt nicht polemisch sein und mit sexuellem Missbrauch kommen; aber im Wesentlichen akzeptieren die Kirchen ja auch das Strafgesetzbuch, also dass große Teile der allgemeinen Gesetze für sie gelten. Eigenartigerweise hakt es nur beim Diskriminierungsverbot. Das müsste erklärt werden.

Lüders: Frau Egenberger ist heute Zuhörerin unserer Veranstaltung. Sie hat im Chat dazu Stellung genommen. Es ging bei dieser Arbeitsstelle nicht darum, eine Position der Diakonie zu erarbeiten oder zu vertreten, sondern es ging um eine sogenannte Parallelberichterstattung. Dabei findet auf UN-Ebene regelmäßig ein Monitoring von Menschenrechtsstandards statt. Zu den jeweiligen Staatenberichten werden parallel sogenannte Schatten- oder Parallelberichte erstellt, die von der Zivilgesellschaft, von NGOs gemeinschaftlich verfasst werden und deren Positionen wiedergeben. Die Erstellung eines solchen Schattenberichts sollte koordiniert werden – ausdrücklich kein Bericht für die Diakonie, sondern für ein ganzes Konzert von NGOs. Das war die konkrete Tätigkeit, um die es in der Ausschreibung ging. Aber ich will endlich Frau von Ungern-Sternberg zu Wort kommen zu lassen. An Sie die Frage: Sie kennen die europäische Perspektive, die Religionsfreiheit in anderen Ländern. Welchen Stellenwert hat denn das Kirchenprivileg im europäischen Vergleich? Ist das eine deutsche Besonderheit, die eine besondere Antwort auf europäischer Ebene verlangt? Stimmt der Vorwurf, dass der EuGH hier über nationale Besonderheiten hinweggeht und dieses Privileg in seinen Urteilen mehr oder weniger missachtet?

Ungern-Sternberg: Herzlichen Dank. Lassen Sie mich eine allgemeine Vorbemerkung machen. Es ist so, dass ich ja zwei Communities angehöre, den Religionsverfassungsrechtlern und den Europarechtlern. Die Religionsverfassungsrechtler, die lange eine abgeschiedene deutsche Community waren, erleben jetzt das, was andere Gemeinschaften schon seit langem erleben: dass überstaatliches Recht in Gestalt des Europarechts, und zuvor auch schon in Gestalt der europäischen Menschenrechtskonvention sich auf ihre nationale Rechtsmaterie auswirkt. Das ist ein allgemeiner Prozess der Europäisierung, der Teilangleichung, mit dem sich auch schon die Steuerrechtler, die Zivilrechtler, die Strafrechtler abfinden mussten. Aus dieser Perspektive wird das deutsche Staatskirchenrecht europäisch überformt. Daraus lässt sich dann die teilweise sehr kriegerische Rhetorik erklären, weil man das gleich in den großen Kontext Bundesverfassungsgericht – EuGH einstellt, der ja noch viele andere Facetten hat.

Wenn man jetzt auf die Egenberger- und Chefarzt-Entscheidungen des EuGH schaut, kann man natürlich sagen: Das ist ein totaler Bruch mit dem, was wir aus Deutschland bisher kennen. Man kann aber auch sagen: Was hat der EuGH gemacht? Er hat im Fall Egenberger eine Vorschrift, den Artikel 4 Absatz 2 der Antidiskriminierungsrichtlinie, so ausgelegt, wie er dort steht und nicht wie er kirchenfreundlich seitens Deutschlands bei den Verhandlungen gemeint war. Er hat gesagt: Da steht, dass bestimmte Anforderungen für die Ausübung einer Tätigkeit eine wesentliche, rechtmäßige und gerechtfertigte berufliche Anforderung angesichts des Ethos der Kirchen darstellen müssen. Da hat der EuGH gesagt: Das überprüfe ich voll. Das ist in der Tat nicht von allen Beteiligten des Gesetzgebungsprozesses so gemeint gewesen, vor allem nicht von Deutschland; aber dadurch, dass die Formulierung so ausdrücklich in der Richtlinie steht, kann es keinen verwundern, dass der EuGH sie so versteht und auch justiziabel macht.

Wenn man Egenberger weiterliest, sieht man, dass der EuGH da vieles offenlässt und dafür ist, dass das Selbstbestimmungsrecht der Kirchen natürlich auch beinhaltet, dass sie in gewissen Schlüsselpositionen die Religionszugehörigkeit verlangen können. Der EuGH sagt nämlich, es muss abgewogen werden. Es muss einerseits das Selbstbestimmungsrecht und andererseits das Recht auf Nichtdiskriminierung in einen Ausgleich gebracht werden. Das ist Aufgabe des nationalen Gerichts. Wenn man den „schwarzen Peter“ für das Ergebnis jemandem zuschieben will, dann dem Bundesarbeitsgericht. Deshalb glaube ich auch, dass diese europarechtlichen Streitigkeiten vor dem Bundesverfassungsgericht gar nicht so zielführend sind. Ich sehe das genau wie Herr Stein: Die Identitätskontrolle und die Ultra-vires-Kontrolle sind für besonders krasse Fälle gemacht. Zielführender als eine Erörterung dieser Maßstäbe wäre eine materiell-rechtliche Abwägung. Das Bundesverfassungsgericht könnte sagen: In diesem konkreten Fall überwiegt das Selbstbestimmungsrecht der Kirchen, Punkt. Das wurde durch die bundesarbeitsgerichtliche Entscheidung nicht hinreichend respektiert und deshalb ist die bundesarbeitsgerichtliche Entscheidung verfassungs- bzw. europarechtswidrig.

Wenn man den EuGH kritisieren will, hat man dafür eher Grund bei der Chefarzt-Entscheidung. Denn der EuGH sieht die Kombination aus einer bestimmten Tätigkeit – Chefarzt, also einer in erster Linie medizinisch-ärztlichen Tätigkeit – und einem gewissen Loyalitätserfordernis, was die Lebensführung betrifft, skeptisch. Das ist ein inhaltlicher Punkt, der den allgemeinen Tendenzschutz von dem kirchlichen Selbstbestimmungsrecht unterscheidet: Nämlich dass man Kirchen traditionell zubilligt, auch an die Lebensführung bestimmte Anforderungen zu stellen, sofern sie das plausibel machen. Natürlich kann es plausibel sein, dass jemand seine Lebensführung an religiösen Vorgaben ausrichten soll, auch wenn das mit der ganz konkreten Tätigkeit als Chefarzt nicht in unmittelbarem Zusammenhang steht, sondern mit seiner Stellung in einem Betrieb, mit der Glaubwürdigkeit dieses kirchlichen Hauses und so weiter. Das hat der EuGH recht lapidar in der Chefarzt-Entscheidung verneint. Also kurz und knackig: der „Schwarze Peter“ ist aus Sicht der Kirchen gar nicht beim EuGH, sondern beim BAG zu suchen.

Noch ein weiterer Punkt: Wie ist das eigentlich zu erklären, dass der EuGH – Herr Waldhoff hat die These gebracht – eher funktional, auf die Integration bezogen zugunsten der Diskriminierungsrechte argumentiert, und dass in Deutschland eher zugunsten der anderen Seite, der Religionsgemeinschaften entschieden wird? Natürlich kann man über institutionelle Gründe mutmaßen, etwa dass der EuGH im französischsprachigen Raum liegt. Luxemburg und Frankreich sind stark am EuGH vertreten, die Gerichtssprache ist Französisch, die Ausbildung der dort arbeitenden Juristinnen und Juristen ist von ihrer jeweiligen Rechtsordnung geprägt. Aber neben dieser vielleicht doch etwas weit hergeholten Deutung möchte ich darauf hinweisen, dass in der Tat das Antidiskriminierungsrecht die DNA des Europarechts, des Unionsrechts darstellt – zunächst zur Errichtung des Binnenmarktes und dann auch zum Schutz von Arbeitnehmern und Verbrauchern. Ich möchte aber auch darauf hinweisen, dass es auch weitere Materien gibt, die der EuGH in letzter Zeit sehr viel stärker in den Vordergrund stellt, beispielsweise den Datenschutz. Aber zu Grunde liegt dem die Entscheidung des EU-Gesetzgebers mit der Datenschutzgrundverordnung oder den Antidiskriminierungsrichtlinien, die klare Regeln für bestimmte Bereiche und insbesondere das Arbeitsrecht verbindlich vorgeben.

Was jetzt die Sonderstellung Deutschlands betrifft: Natürlich ist Deutschland ein Staat mit einer Rechtsordnung, die das Verhältnis von Staat und Kirche bzw. Religionsgemeinschaften doch deutlich anders ausgestaltet hat als anderswo. Das ist sicherlich auch Folge des frühen Umgangs mit dem Problem der konfessionellen Spaltung und der engen Verflechtung von Landesherrschaft und Kirche. Ich glaube aber, dass man diesen alten Bestand durchaus modern, also freiheitsfreundlicher auch mit Blick auf die schützenswerten Belange der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer auslegen kann. Wichtig ist, dass man beides zu einem verhältnismäßigen Ausgleich bringt, und das kann man auch mit der Rechtsprechung des EuGH.

Lüders: Recht vielen Dank für ihre europäische Perspektive. Herr Fey, ich würde gerne zu Ihnen zurückkommen. Es tauchte jetzt hier die Frage auf, warum die EKD so anders auf das Chefarzt-Urteil reagiert hat als die Katholische Kirche. Warum haben Sie die zweite Entscheidung des BAG nicht akzeptiert oder Ihre Dienstordnung angepasst? Und gleich noch eine zweite Frage hinterher: Deutschland hat in den letzten Jahren einige religionspolitische Debatten von sehr heftiger Intensität erlebt. Was passiert, wenn andere Religionsgemeinschaften Ihren Weg gehen, wenn sie auch das Kirchenprivileg ziehen und uns dann mit Herausforderungen konfrontieren, die möglicherweise auch für Sie ein Problem darstellen? Haben Sie dazu schon einen Ansatz gebildet?

Fey: Warum haben wir das getan? Es geht ja nicht um zwei Monatsgehälter, meine Damen und Herren, das ist Ihnen ja auch allen evident. Es geht darum, dass wir sichern müssen, dass kirchliche Einrichtungen kirchliche Einrichtungen bleiben. Eine kirchliche Kindertagesstätte darf keine normale Kindertagesstätte sein, sondern muss eine kirchliche Kindertagesstätte sein. Gleiches gilt für ein kirchliches Krankenhaus. Dazu braucht es die engagierte Mitarbeit von Christinnen und Christen in einem entsprechenden Umfang. Und wir müssen uns gegen diese Zwangssäkularisierung durch die kalte Küche zu Wehr setzen.

Frau Ungern-Sternberg, ich stimme Ihnen völlig zu, dass das Problematische in erster Linie vom Bundesarbeitsgericht gekommen ist; nämlich das, was vom BAG überschießend auf die Entscheidung des EuGH noch draufgesetzt worden ist. Und da ist meine gute Hoffnung, dass das Bundesverfassungsgericht das wieder abräumt. Das in der Verfassungsbeschwerde an der ein oder anderen Stelle etwas stark formuliert ist, kann ich gerne konzedieren, aber das ist auch nicht ungewöhnlich.

Wenn ich auf ein paar andere Aspekte noch kurz eingehen darf: Angesprochen wurde der Begriff der Dienstgemeinschaft. Dienstgemeinschaft erkläre ich gerne in einfachen Worten so: Wie heißt es auf dem Cadillac der Blues Brothers? „Unterwegs im Auftrag des Herrn.“ Das ist die Begründung für die Dienstgemeinschaft. Alles, was unsere Mitarbeiter machen – sei es der Putzmann oder die Chefärztin – dient dem kirchlichen Auftrag, sonst müssten wir es nicht erledigen. Wo Kirche drauf steht, muss auch Kirche drin sein. Das erwarten unsere Kirchenglieder aber auch viele andere, die unsere Angebote nutzen. Um die Sicherung dieses kirchlichen Charakters geht es.

Ein weiterer Punkt, den ich aus den Chats herausgreife: Die Kirchen könnten nicht im Namen der Subsidiarität weltliche kommunale Aufgaben an sich ziehen. Meine Damen und Herren, das tun wir gar nicht, sondern der Staat und die Kommunen treten regelmäßig an uns heran und sagen: Wir haben bestimmte Probleme im Bereich des Sozial- und Gesundheitswesens – Kirche und Diakonie, mach Du das doch bitte als kirchliche Aufgabe. So herum ist der Weg.

Lüders: Vielen Dank Herr Fey. Ich würde die Frage der Subsidiarität weitergeben an den Verfassungsrechtler, vielleicht mit einer Erweiterung. Als Sozialwissenschaftler interessiert mich, wie das Recht zu bestimmten sozialen Situationen, zu einem bestimmten sozialen Wandel passt. In dieser Hinsicht stellt sich mir das Problem der Subsidiarität so dar: Wir haben auf der einen Seite ein unheimliches Aufwachsen, eine unheimliche Zunahme der kirchlichen Wohltätigkeitsbetriebe im weitesten Sinne. Caritas und Diakonie sind in manchen Bereichen Marktführer. Gleichzeitig sinken die Mitgliederzahlen der beiden Kirchen, weswegen sie aus pragmatischen Überlegungen in Betracht ziehen müssen, für bestimmte Aufgaben auch Nichtmitglieder einzustellen. Die Antwort von Seiten des Verfassungsgerichts dagegen lautet: wir stärken das Kirchenprivileg, wir machen aus dem Selbstverwaltungs- ein Selbstbestimmungsrecht, um das wir eine weite Mauer ziehen, wo kein Gericht reinschauen darf. Passt diese juristische Entwicklung eigentlich mit der sozialen Entwicklung der Kirchen zusammen? Wäre da nicht eine andere Antwort gefragt?

Waldhoff: Zu dem Subsidiaritätsprinzip hat ja schon Frau Frings gesprochen und gesagt, dass sei verfassungskräftig. Das stimmt übrigens nicht. Es ist vorherrschende Meinung, dass das kein Verfassungsprinzip ist. Die Subsidiarität hat aber im Sozialrecht folgenden Sinn, der zunächst einmal gar nichts mit Kirche und Religion zu tun hat: Es handelt sich um ein außenpluralistisches Modell, dass der Staat bei Leistungen nah am Menschen – Krankenhaus, Altenpflege, Kindergarten oder was immer man sich vorstellen mag – die Gesellschaft stark beteiligt und der Staat nur subsidiär tätig werden soll. Das betrifft aber nicht nur die Kirchen. Auch die Arbeiterwohlfahrt, die ja nun wirklich nicht besonders religiös oder kirchlich ist, unterhält Kindergärten und Altenheime. Im Sozialrecht ist das Subsidiaritätsprinzip daher ein Modell des Außenpluralismus, das in Deutschland eine lange Tradition hat, sich bewährt hat und das ich sehr gut finde.

Zur Plausibilisierung ein weiteres Beispiel: Ich bin als Hochschullehrer ja der Universität tätig. Die dortigen Begabtenförderungswerke macht der Staat nicht selbst, sondern er gibt den politischen Parteien, den Stiftungen, den Kirchen, dem Cusanuswerk, dem evangelischen Studienwerk Haus Villigst, inzwischen auch Islam und Judentum solche Gelder, die nach deren Kriterien zur Förderung besonders begabter Studierender verteilt werden. Auch die Gewerkschaften haben solche Töpfe, dort ist es die Hanns-Böckler-Stiftung. Mit diesem Modell des Außenpluralismus will der Staat die Kräfte der Zivilgesellschaft beteiligen – und da sind die Kirchen neben anderen natürlich wichtige Kräfte. Das im Sozialbereich die Kirchen so stark engagiert sind, hat auch historische Gründe, weil in Mitteleuropa ursprünglich Krankenhäuser im Wesentlichen christliche Krankenhäuser waren, ebenso wie Altenpflege christliche Altenpflege war. Das muss heute nicht mehr so sein. Außer in sehr wenigen ländlichen Gebieten, wo es wirklich eine Monopolsituation geben mag, weil es eben nur das evangelische oder nur das katholische Altersheim gibt, ist in Großstädten diese Pluralität abgebildet. Ob da wirklich ein Aufwuchs der christlichen Sozialbetriebe stattfand, weiß ich nicht. Sie sind stark geblieben, obwohl die Kirchen eher schwächer geworden sind; der Mitgliederverlust lässt sich nicht wegdiskutieren, Glaubwürdigkeitsverluste lassen sich auch nicht wegdiskutieren. Der von mir sonst nicht so geschätzte ehemalige Kölner Kardinal Joachim Meisner hat einmal gesagt, er würde auch mit Sorge sehen, dass dieser „große soziale Mantel“ um „das Gerippe der Kirche vielleicht etwas zu sehr herumschlottere“, die innere Substanz diesen großen Mantel vielleicht nicht mehr ausfüllen könne – und das wäre ein Problem. Wenn ich schließlich mal etwas Positives zu dieser EuGH-Rechtsprechung, die ich ja deutlich kritisiert habe, sagen darf: Für die Kirchen hat sie vielleicht den heilsamen Effekt, dass insofern ein Nachdenk-Prozess in Gang kommt, was eigentlich aus Sicht der Kirchen sinnvoll zu tun ist oder nicht. Nur: Wenn das kein Kulturkampf werden soll, müssen das die Kirchen autonom selbst entscheiden. Ich vertraue auf die Intelligenz der Kirchen, dass da auch die richtigen Schlussfolgerungen gezogen werden, und die Anpassung der Dienstverordnung auf katholischer Seite deute ich als so ein Zeichen. Aber der Staat soll und darf das nicht erzwingen, schon gar nicht die EU. Das müssen die Kirchen selbst erkennen.

Lüders: Frau Ungern-Sternberg, über Ihre rechtsvergleichenden Untersuchungen zur Religionsfreiheit habe ich gelesen, dass diese Sie zu der Erkenntnis geführt hätten, dass die formale Gestaltung des Religionsverfassungsrechts in den Ländern, so verschieden sie auch sein mag, sich auf den Erhalt funktionierender Strukturen praktisch kaum auswirken. Wäre deshalb aus Ihrer Sicht im Umgang mit diesen Rechtstiteln etwas mehr Gelassenheit denkbar, ohne dass die Kirchen befürchten müssen, dass sie dadurch an Bedeutung verlieren?

Ungern-Sternberg: Ich kann nochmal kurz zu dem Rechtsvergleich Stellung nehmen. Historisch ist die Situation in Europa sehr, sehr divers. Aber wir haben schon seit geraumer Zeit durch die Menschenrechtskonvention Mindeststandards, sowohl für das Individualrecht als auch für das Kollektivrecht Religionsfreiheit. Das bedeutet auch, dass in laizistischen Staaten wie Frankreich oder früher der Türkei gewisse Freiheitsrechte gewährt werden müssen. Das heißt aber auch, dass dort, wo man das Staatskirchentum bewahrt hat wie teilweise in Skandinavien oder im Vereinigten Königreich, dass man da auch die anderen Religionen mit gewissen Gleichheitsrechten versehen muss. Hierbei scheint mir ein moderner Trend zu sein, dass man nicht mehr unhinterfragt Behauptungen oder Handlungen von Kirchen akzeptiert, sondern die rechtliche Überprüfbarkeit einfordert. Das war im Bereich der europäischen Menschenrechtskonvention schon Thema, zum Beispiel beim innerkirchlichen Rechtsschutz von im Dienst der evangelischen Kirche stehenden Pfarrern gegen ihre Ruhestandversetzung. Hier hat der EGMR ein Mindestmaß an Zugang zum Gericht aber auch eine Rechtfertigung von kirchlichen Maßnahmen eingefordert. Das ist vielleicht auch ein äußerer Anstoß für einen Reformprozess in der Kirche.

Um nochmal ein anderes Beispiel zu erwähnen: Wenn Sie eine katholische Theologieprofessur haben wollen und ein Nihil obstat, also die Freigabe aus Rom, erwarten, können teilweise Jahre ins Land gehen, ohne dass Sie wissen, wie der Verfahrensstand ist. Das kann man in einem Rechtstaat nicht einfach hinnehmen. Da bin ich anderer Auffassung als Herr Waldhoff. Auch wenn wir uns im Bereich des kirchlichen Arbeitsverhältnisses bewegen, ist es schwierig zu sagen, da muss der Anstoß von den Kirchen kommen. Und die Universität ist ja ein weltlicher Arbeitgeber. Deshalb würde ich die Entwicklung einer stärkeren rechtsstaatlichen Überformung positiv sehen. Ich würde den Konflikt aber auch nicht zu einem neuen Showdown der großen Gerichte EuGH und Bundesverfassungsgericht hochjazzen wollen. Ich glaube, dass sich die Kirche darauf einlassen kann, jetzt noch einmal genau die Bereiche zu definieren, wo sie aus ihrem Selbstverständnis heraus erwartet, dass ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter einer Konfession angehören und auch danach leben müssen. Das ist doch ein heilsamer Prozess.

Lüders: Herr Stein, was könnte der Gesetzgeber tun, um diese Situation zu entschärfen oder auch zu klären. Sehen Sie da Handlungsmöglichkeiten?

Stein: Das Land Berlin hat gerade eine Bundesratsinitiative auf den Weg gebracht zur Novellierung des AGG. Das AGG muss in der Tat auf Vordermann gebracht werden. Es müssen die Teile, die im Widerspruch zum Europarecht stehen, begradigt werden. Das alleinige Abstellen auf das Ethos ohne Tätigkeit ist ein Ding der Unmöglichkeit. Dann muss dringend etwas getan werden, um dem AGG mehr praktische Relevanz zu verleihen – das bedeutet Verbandsklagerecht für die Antidiskriminierungsverbände. Ich finde das überaus charmant. Die Verbände müssen das Recht haben, stellvertretend gerichtlich aktiv zu werden. Als das AGG eingeführt wurde, befürchtete man, dass eine Klagewelle Deutschland überschwemmen würde. Nichts von dem ist eingetreten. Es gibt ein paar exotische Ausreißer, doch das spielt quantitativ überhaupt keine Rolle. Das Gesetz führt ein Schattendasein. Das wird der sozialen Situation nicht gerecht. Es hilft kaum denjenigen, die besonders exponiert sind, weil sie geschieden sind, weil sie homosexuell sind, weil sie in gleichgeschlechtlichen Partnerschaften leben. Für die ist es noch immer bitter. Und da zu sagen: Dass sollen die Kirchen mal alleine machen, finde ich etwas waghalsig. Sie regeln es eben nicht allein.

Ich finde es auch schwierig zu sagen: Was darauf steht, muss auch drin sein; in einem christlichen Krankenhaus muss der kirchliche Charakter erkennbar sein. Aber wie sieht denn die Realität aus? Wo kommt der kirchliche Charakter in einem Krankenhaus zum Tragen? Herrscht da weniger Effizienzdruck aus ökonomischen Gründen? Ist der Personalschlüssel besser? Ist die Vergütung besser oder beteiligen sich kirchliche Einrichtungen am tariflichen Unterbietungswettbewerb? Stellen kirchliche Krankenhäuser nicht im großen Stil nichtkirchliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ein, weil es einfach anders gar nicht geht, weil der Arbeitsmarkt gar nichts anderes hergibt? Also entweder ist es möglich, ein christliches Krankenhaus mit nichtkirchlichen Mitarbeitern zu bewerkstelligen oder nicht? Da besteht ein erheblicher Bedarf, sich von ideologischen Gerüsten zu verabschieden und sich zu modernisieren.

Lüders: Welche Möglichkeiten hätte denn der Gesetzgeber, in das Kirchenarbeitsrecht generell einzusteigen; also nicht dem Bundesverfassungsgericht und dem EuGH die Frage zu überlassen, wie weit zum Beispiel eine gerichtliche Prüf- und Abwägungspflicht für die kirchlichen Arbeitsverhältnisse reicht?

Stein: Aus meiner Sicht braucht er das nicht. Das ist Aufgabe der Rechtsprechung und das kann die Rechtsprechung auch leisten. Das ist ein Prozess, der nicht erst durch den Europäischen Gerichtshof in Gang gekommen ist. Dem gingen ja Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in Straßburg voraus, z.B. die Siebenhaar-Entscheidungv. Da hat der EGMR eine Entscheidung aus der Arbeitsgerichtsbarkeit nach Deutschland zurückverwiesen und das nationale Gericht angewiesen, für eine Verhältnismäßigkeitsprüfung zu sorgen. Es ist normal, dass die verschiedenen Akteure in einem solchen Mehr-Ebenen-System ihre Optionen ausloten und sich entwickeln. Der Prozess ist im Gange und er wird Konturen gewinnen. Ohne ihn geht es aber nicht.

Lüders: Die Frage nach der Dienstgemeinschaft wurde schon mehrfach angesprochen. Dazu wurde im Chat angemerkt, dass das aus Beschäftigtensicht eine untertarifliche Entlohnung im Vergleich zu den öffentlichen Tarifverträgen bedeutet, und dass es bestimmte Einschränkungen bei den Arbeitnehmerrechten gibt. Herr Fey, wie passt das zu dem transzendentalen Bild der Arbeit, was Sie uns am Anfang vorgestellt haben?

Fey: Man muss zunächst einmal sehen, dass die katholische Kirche mit ihrer Caritas und die evangelische Kirche mit ihrer Diakonie im Sozial- und Gesundheitswesen aus Sicht der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter die höchsten Tarife hat. Deswegen beteiligen wir uns auch nicht an tariflichen Unterbietungswettbewerben – im Gegenteil, wir setzen uns nachhaltig mit der katholischen Kirche dafür ein, dass bei allgemeinverbindlichen Entgelten und anderen Dingen im Pflegebereich unsere höheren Tarife unangetastet bleiben. Innerhalb der verfassten Kirchen, also der Landeskirchen, der Kirchengemeinden et cetera werden die Tarife des öffentlichen Dienstes TVD und TVL mit Aufbesserungen zu Gunsten der Mitarbeiterschaft bezahlt und die tariflichen Leistungen in Caritas und Diakonie sind signifikant über allen sonstigen Bezahlungssystemen. Von daher ist das schlicht unzutreffend.

Wenn ich noch kurz auf die Frage nach dem Gesetzgeber eingehen kann: Natürlich kann der Gesetzgeber am AGG rumschleifen, aber er kommt nicht um die Verfassung herum. Deswegen bin ich mir sicher, dass der Gesetzgeber die verfassungsrechtliche Situation der Kirchen grundsätzlich beachten wird.

Lüders: Sie sind jetzt vor allem auf die Tarife eingegangen. Wie sieht es mit der Interessenvertretung der Beschäftigten aus?

Fey: Vielen Dank für die Erinnerung, das hatte ich vergessen. Wir haben das vor drei Jahren wissenschaftlich untersuchen lassen. In der Diakonie haben wir in 88 Prozent aller betriebsratsfähigen Einrichtungen tatsächlich auch kirchliche Betriebsräte. Bei uns heißt das nur Mitarbeitervertretung. 88 Prozent. In der restlichen Arbeitswelt ist man bei etwa 50 Prozent.

Lüders: Wenn man sich Artikel 137 Absatz 3 der Weimarer Reichsverfassung durchliest, dann steht da erst einmal nichts vom Arbeitsrecht. Die Kirchenklausel kann sich ja auf alles Mögliche erstrecken. Wo könnten sich Kirchen oder Religionsgemeinschaften aus der allgemeinen Rechtsordnung noch herausziehen mit Verweis auf die Kirchenklausel – demnächst vielleicht aus der Datenschutz-Grundverordnung oder dem Binnenmarkt, weil die auch irgendwelche religiösen Inhalte berühren?

Ungern-Sternberg: Ich möchte dazu kurz zwei Dinge sagen. Erstens: Es gibt den Vorrang des Unionsrechts. Das heißt: Wenn der deutsche Gesetzgeber etwas beschließt, muss er sich im Rahmen des Unionsrechts bewegen. Selbst wenn das deutsche Verfassungsrecht in Gestalt einer bundesverfassungsgerichtlichen Entscheidung ein bisschen etwas anderes sagt, ist der Vorrang des Unionsrechts das Entscheidende. Im Übrigen möchte ich dem Eindruck entgegentreten, dass wir jetzt einen Trend zu immer mehr rechtsfreien Räumen für die Kirche beobachten. Das Gegenteil ist der Fall. Es gibt natürlich die etablierte Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, aber wie wir sehen, wird sie von zwei Stellen auf europäischer Ebene relativiert. Dahinter wird man nicht zurückkommen. Das gilt natürlich auch für den Datenschutz. Es gibt jetzt beispielsweise eine Entscheidung des EuGH, wonach sich auch die Zeugen Jehovas bei der Haus-zu-Haus-Missionierung an den Datenschutz halten müssen. Natürlich gibt es wohlerworbene Rechtspositionen, die solche Praktiken bisher stützen; aber der Trend geht in eine andere Richtung. Jedenfalls ist das meine Wahrnehmung.

Waldhoff: Die Kirchenautonomie ist in der Weimarer Reichsverfassung so formuliert, dass sie im Rahmen der allgemeinen Gesetze gewährleistet wird. Was sind diese allgemeinen Gesetze? Es sind nicht Gesetze, die sich speziell an Kirchen richten, die sind unzulässig. Da gibt es wahrscheinlich auch großen Konsens, dass das wenig sinnvoll wäre. Sondern es sind die Gesetze, die sich an die Allgemeinheit richten. Das führt dann zu einer Abwägung. Ein Gesetz, wo es zum Beispiel keine Extrawürste für Kirchen gibt und auch nicht geben darf, ist das Strafgesetzbuch. Das normiert ein ethisches Minimum, an das sich alle halten müssen, und das gilt für die Kirchen genauso wie für private oder andere Akteure. Nur bei den Sachen, die das kirchliche Selbstverständnis betreffen, kommt es zu dieser Abwägung, die wir eben skizziert haben.

Stein: Ich finde es spannend – und ich meine das nicht polemisch: Wie wollen sie denn begründen, dass gerade das Verbot einer sachlich nicht gerechtfertigten Diskriminierung, die in einem allgemeinen Gesetz, im EU-Vertrag, niedergelegt ist, und die, wie es im Lissaboner Vertrag heißt, zu den Grundwerten aller Mitgliedsstaaten der EU zählt, wie dass eine Sonderrolle einnehmen und für Kirchen nicht akzeptabel sein kann.

Waldhoff: Ich habe nicht gesagt, dass das für Kirchen nicht akzeptabel ist, sondern dass wir das Selbstverständnis der Kirchen berücksichtigen müssen. Sie sagen, dass Diskriminierungsverbot sei allgemein konsentiert – die Kirchen konsentieren das eben für den Kern ihrer Tätigkeiten nicht. Es gibt die allgemeine Einschätzung, dass in der katholischen Kirche Frauen keine Priesterinnen werden können. Das ist ja eine noch viel größere Ungleichbehandlung als wir in der Sache Egenberger und Chefarzt verhandelt haben. Aber niemand würde bestreiten, dass das zum Proprium einer Religionsgemeinschaft gehören darf. Man muss das ja nicht richtig finden. Aber zum Proprium einer Religionsgemeinschaft darf es gehören, dass sie die im weltlichen Bereich sachlich gerechtfertigten Diskriminierungsregeln für den geistlichen Bereich gerade nicht anerkennt. Keine Kirche oder Religionsgemeinschaft würde hinsichtlich ihrer Lehren den Verfassungstest bestehen, weder das Judentum, das Christentum noch der Islam.

Stein: Für den geistlichen Bereich ist das ja unstrittig. Jetzt wollen Sie der Kirche aber das Recht zubilligen, gerichtlich nicht überprüfbar zu definieren, wie weit der geistliche Bereich geht. Damit hört der Justizgewährungsanspruch auf.

Waldhoff: Nein, wenn Sie die Entscheidung von 2014 richtig lesen, dann ist es so, dass das Gericht im Ausgangspunkt das Selbstverständnis von Kirche und Religion ernst nimmt. Dann folgen die Tests: auf der ersten Stufe ein Plausibilitätstest – ist das irgendwie nachvollziehbar, dass das was mit Religion zu tun hat? Auf der zweiten Stufe dann der eigentliche Abwägungstest. Die Kirchen sind nicht eximiert. Das Gericht überprüft das, aber mit einem gewissen Prä, einer gewissen Grundsympathie für das Selbstverständnis.

Lüders: Das überrascht mich jetzt insofern, als es beim Chefarztfall offensichtlich auf Seiten der Kirche eine Ungleichbehandlung gab. Da wurde mit zweierlei Maß gemessen, weil im gleichen Krankenhaus auch nicht-christliche Ärzte angestellt waren – womit der Träger offenbar kein Problem hatte.

Waldhoff: Das gehört doch zum Proprium, Menschen unterschiedlich zu behandeln. Nach katholischer Lehre dürfen Andersgläubige nicht zum Abendmahl gehen. Das ist eine dramatische Ungleichbehandlung, aber es würde doch niemand auf den Gedanken kommen, dass es deshalb unzulässig ist. Herrn Stein stört – und das kann ich zumindest nachvollziehen –, dass die Kirchen sagen, dass nicht nur der enge geistliche Bereich – also Gottesdienst mit Eucharistie und Wortverkündung – geschützt ist, sondern dass nach jahrhundertealtem Selbstverständnis auch die Caritas, also die Sozialarbeit dazu gehört. Es ist aber historisch und soziologisch völlig unstrittig, dass das so war. Man kann jetzt sagen: Das passt uns nicht mehr, weil es in diesen Bereichen heute primär „weltlich“ zugeht. Aber natürlich kann die Kirche aus ihrem Selbstverständnis heraus das Gegenteil vertreten.

Lüders: Ich würde die Frage der Finanzierung dieser kirchennahen Leistungen noch einmal aufgreifen. Vieles davon wird eigentlich nicht von den Kirchen selbst finanziert. Sollte das nicht auch bei der Frage, welcher Rechtsordnung diese Beschäftigungsverhältnisse unterliegen, eine Rolle spielen?

Waldhoff: Es ist richtig, dass kirchliche Einrichtungen aus dem Sozialbereich oder die kirchliche Studienförderung zu einem ganz überwiegenden Teil aus staatlichen Geldern oder Geldern der Sozialversicherung finanziert werden und nur ein kleiner Eigenanteil von der jeweiligen Organisation getragen wird. In der Tat kann man dann fragen: Was ist daran noch kirchlich? Aber das ist ja gerade der Witz dieses außenpluralistischen Modells, dass der Staat sagt: Wir möchten diese verschiedenen gesellschaftlichen, intermediären Gewalten einbinden. Die sollen dann auch ihr Proprium einbringen. Um noch mal auf das Beispiel der Begabtenförderung zurückzukommen: Ein gewerkschaftliches Proprium bei der Studienförderung etwa ist, dass vor allem Arbeiterkinder gefördert werden. Das würde wahrscheinlich die Friedrich-Naumann-Stiftung so nicht machen. Und das katholische Cusanuswerk fördert grundsätzlich nur Studierende katholischen Glaubens. Wenn das auf alle außenpluralistischen Träger bezogen hinreichend plural ist – das ist natürlich die Voraussetzung – handelt es sich um ein Verteilungsmodell, das der Staat im Sozialbereich so praktizieren kann. Jetzt zu sagen, weil 95 Prozent des Geldes in kirchlichen Krankenhäusern gar nicht von den Kirchen kommt, deshalb die kirchlichen Krankenhäuser abzuschaffen, wäre eine Abkehr vom bewährten außenpluralen Modell.

Lüders: Es gibt ja auch nichtkirchliche Träger wie die Arbeiterwohlfahrt. Wenn die Krankenhäuser oder Altenheime betreiben, gelten für sie ja auch keine Sonderrechte. Müssten dann für die Kirche oder kirchennahe Werke nicht die gleichen Regeln wie für die Arbeiterwohlfahrt gelten?

Waldhoff: Der Staat würde auch bei der Arbeiterwohlfahrt erwarten, dass sie ihr spezifisches Profil einbringt und ihre spezifischen Interessen durchsetzt. Freilich ist die Arbeiterwohlfahrt nicht so privilegiert wie die Kirchen. Die Kirchen sind nach unserer Verfassungsordnung schon deutlich, im historischen wie im aktuellen Vergleich, privilegiert. Das ist und war bewusste Entscheidung des Verfassungsgebers. Das kann man auch wieder ändern, steht jetzt aber nicht oben auf der Tagesordnung und würde nicht ersichtliche verfassungsändernde Mehrheiten erfordern. Wenn man das außenpluralistische Modell will, dann ist es nur sinnvoll, wenn der jeweilige Träger die Dinge nach jeweils seinen Vorstellungen im Rahmen der allgemeinen Gesetze regeln kann. Wie weit das in der Praxis funktioniert und wie weit sich ein kirchliches Krankenhaus von einem weltlichen unterscheidet, ist eine schwierige Frage. Allzu optimistisch bin ich da ehrlich gesagt auch nicht. Nur weil da ein Kreuz im Krankenzimmer hängt, passiert da erst einmal nichts Anderes. Aber diese „Privilegien“ dienen dazu, ein christliches Profil zu ermöglichen.

Lüders: Ich würde gerne noch eine Frage aus dem Chat aufgreifen: Inwiefern ist das Kirchenprivileg übertragbar auf andere Religionsgemeinschaften?

Fey: Erstmal zum Ökonomischen: Natürlich werden unsere Einrichtungen in der Diakonie weitgehend durch staatliche Kostenträger wie die Sozialversicherungsträger finanziert. Das ist aber im Bereich des Deutschen Roten Kreuzes, der Arbeiterwohlfahrt, den Samaritern ganz genauso. Natürlich stellen wir aber auch Dinge zur Verfügung, seien es Grundstücke, seien es Gebäude. Wir finanzieren die Krankenhausseelsorge zum Beispiel und anderes mehr. Im Bereich der Kindertagesstätten kommt aus kirchlichen Mitteln mehr als in anderen Bereichen. Wir haben da keine Sonderstellung, höchstens ein besonderes staatskirchliches System.

Es ist ja auf die völlig unterschiedliche Situation in den Mitgliedsstaaten der EU hingewiesen worden. Geschützt sind alle Religionsgemeinschaften durch die Verfassung, geschützt sind auch unsere kleineren ökumenischen Partner. Wir haben das Phänomen, dass wir weltweit einzigartig groß sind – nach der Zahl der Beschäftigten. Das geht auf das Prinzip der Kirchensteuer und die Subsidiarität zurück. Aber, meine Damen und Herren: unser Staatskirchenrecht hat keine quantitative Dimension. Es gilt für eine Kirche mit vielen Beschäftigten genauso wie für eine kleine Religionsgemeinschaft mit wenigen Beschäftigten.

Ungern-Sternberg: Der Anspruch, dass man kirchliche Krankenhäuser oder Sozialeinrichtungen mit Privilegien ausstattet, wird natürlich brüchiger, je mehr die hiermit verbundene Vorstellung, dass dies mit besonderem religiösen Ethos einhergeht, nicht mehr der Wirklichkeit entspricht. Da klaffen die Wahrnehmungen auseinander. Wenn man mit den Trägergesellschaften spricht, sind die immer sehr stolz, wie friedlich es da zugeht und wie sehr man in den Einrichtungen das Christsein ermöglicht und fördert. Wenn man andererseits hier im Chat die Erfahrung der untertariflich oder der outgesourceten Beschäftigten ansieht, ist es in der Realität doch häufig so, dass dem enormen Konkurrenz- und Wettbewerbsdruck nachgegeben wird – auch in kirchlichen Einrichtungen. Das ist ein politisches Problem.e

Ein zweites politisches Problem ist, wenn kirchliche Krankenhäuser quasi ein Monopol haben und man sich nicht wirklich aussuchen kann, ob man in einem kirchlichen oder weltlichen Haus Karriere als Kardiologe macht. Auch das ist ein politisches Problem. Dann müsste man überlegen, alternative Krankenhäuser staatlich zu fördern. Und natürlich gilt das Selbstbestimmungsrecht aus Artikel 137 Absatz 3 auch für religiöse Einrichtungen jenseits der großen Kirchen.

Zum anderen ging es ja auch darum, ob die Kirchen jetzt lauter Sonderrechte haben und etwa beim Datenschutz außen vor sind. Mit der Vorschrift des Artikel 191 DSGVO habe ich mich zwar bislang noch nicht intensiv beschäftigt, aber sie bestätigt noch einmal, dass auch die Kirchen dem Datenschutz unterworfen sind. Es besteht allerdings die Möglichkeit, dass sie ihre alten Datenschutzvorschriften beibehalten, wenn sie sich im Einklang mit der Datenschutzgrundverordnung befinden und dass sie selbstverständlich auch einer Aufsicht unterstehen, möglicherweise einer besonderen Aufsicht. Dass man für bestimmte Bereiche unterschiedliche datenschutzrechtliche Verwaltungsmodelle einrichtet, ist keine Besonderheit und vor allem keine Exemtion von diesem Rechtsregime. Daran würde ich festhalten. Es gibt Bereiche, wo man sich gar nicht auf gemeinsame Datenschutzgrundsätze in der Datenschutzgrundverordnung geeinigt hat, wie Justiz, Polizei und Sicherheit. Diese Bereiche sind so sensibel, dass wollen die Staaten – abgesehen von Mindestanforderungen in einer Datenschutzrichtlinie – selbst bestimmen. Bei den Kirchen dagegen hat man gesagt, man nimmt da Rücksicht auf die gewachsenen Besonderheiten, aber sie sind grundsätzlich diesem Datenschutzregime unterworfen. Das ist für die Einheitlichkeit des Datenschutzes ein großer Erfolg.

Lüders: Damit kommen wir zum Ende. Ich danke den vier Podienteilnehmer*innen herzlich für diese engagierte Diskussion, ganz besonders Ihnen, Herr Fey, dass sie sich den teilweise unangenehmen Fragen gestellt haben. Und ich danke allen Zuhörer*innen und Zuschauer*innen und allen, die sich an der Diskussion im Chat beteiligt haben. Ihnen allen noch einen schönen Abend.

iZu den Verfahrensabläufen und den Urteilsnachweisen s. den Beitrag von Frings in diesem Heft.

iiDas bezieht sich auf das Verfahren Tanja Kreil ./. Bundesrepublik Deutschland: Urteil des Europäischen Gerichtshofes v. 11.01.2000 – C-285/98 (=Sammlung der Rechtsprechung 2000 Seite I-69).

iiiMangold ./. Helm – EuGH: Urteil v. 22.11.2005 – C-144/04.

ivEuGH, Urteil v. 19.10.2010 – C-555/07; NJW 2010, 427 (AP Richtlinie 2000/78/EG Nr. 14).

vSiebenhaar ./. Deutschland – Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte v. 3.2.2011 (Individualbeschwerde Nr. 18136/02).

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