Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 233: 5. Berliner Gespräche - Kirchliches Sonderarbeitsrecht

Evange­li­sche Theologie, kirchliches Arbeits­recht und der neue Klärungs­be­darf zum Tendenz­schutz

In der Diskussion um das kirchliche Sonderarbeitsrecht kommt dem Begriff der „Dienstgemeinschaft“ eine zentrale Stellung zu. Als Ausfluss des religiösen Selbstverständnisses stellt er in der kirchlichen Argumentation die Begründung dafür dar, warum die Anwendung des „normalen“ deutschen Arbeitsrechts-Regimes für sie nicht in Frage komme. Die theologische wie historische Herleitung des Begriffs hinterfragt der folgende Beitrag, der sich kritisch mit den Sonderrechten der Kirchen auseinandersetzt.

In der Bundesrepublik Deutschland sind – anders als sonst in Europa – die Kirchen sehr große Arbeitgeber. Für ihre ca. 1,4 Millionen Beschäftigten haben sie ein eigenes Arbeitsrecht kodifiziert. In anderen Staaten wäre dies nicht möglich. Die arbeitsrechtlichen Normen, die sie gesetzt haben, weichen in wesentlichen Punkten vom staatlichen Arbeitsrecht ab, und zwar zulasten der ArbeitnehmerInnen. Die Kirchen selbst sagen, ihr Arbeitsrecht sei kirchlich-religiös fundiert und verleihe einer christlichen „Dienstgemeinschaft“ Ausdruck. Für Außenstehende dürfte überraschend sein, dass dieses Wort gar nicht originär theologisch ist. Begriffsgeschichtlich ist es wesentlich auf das Arbeitsrecht des NS-Staats zurückzuführen. Als in Westdeutschland in der Nachkriegszeit das Sonderrecht der Kirchen aufgebaut wurde, geschah dies ohne Beteiligung der Theologie. Die Theologie hat sich überhaupt erst sehr spät, nach 2000, intensiver mit dem Begriff der Dienstgemeinschaft beschäftigt. Neuerdings äußern sich TheologInnen verstärkt zum kirchlichen Arbeitsrecht – zumeist so, dass sie es trotz all seiner Schwächen verteidigen. Stattdessen sind substanzielle Veränderungen geboten. Der Reformbedarf zeigt sich beispielhaft, wenn man sich mit der Frage des Tendenzschutzes beschäftigt. Der hier vorliegende Beitrag unterstreicht, dass der Gesetzgeber an diesem Punkt ansetzen sollte, um überfällige Reformen in Gang zu bringen und der Sonderrolle der Kirchen im Arbeitsrecht ein Ende zu setzen.

Das kirchliche Arbeits­recht – ein Konstrukt der Nachkriegs­zeit

Das Sonderarbeitsrecht der Kirchen ist im westdeutschen Nachkriegsstaat entstanden. Den kirchlich Beschäftigten – Pflegekräften, ÄrztInnen, MitarbeiterInnen in Kindertagesstätten und Angehörigen weiterer Berufsgruppen – gibt es Normen vor, die ihre Glaubensüberzeugung, zum Teil auch ihre Lebensführung betreffen. Eigentlich hatten die Kirchen für ihre öffentlichen Dienstleistungen überhaupt nur Kirchenmitglieder beschäftigen wollen. Bis heute verbietet das kirchliche Arbeitsrecht einen Kirchenaustritt. Im katholischen Bereich drohen noch immer Schwierigkeiten, sofern ArbeitnehmerInnen eine gleichgeschlechtliche Lebensform praktizieren (vgl. Geismann 2020).
Solche Sachverhalte sind dem individuellen Arbeitsrecht der Kirchen zuzuordnen. Daneben ist ihr kollektives Arbeitsrecht von Belang. Auf seiner Basis ist in kirchlich getragenen Einrichtungen – Krankenhäusern, Kindertagesstätten, Pflegeeinrichtungen usw. – kein Betriebsrat vorhanden. In aller Regel führen die Kirchen bis heute keine Tarifverhandlungen mit Gewerkschaften. Kategorisch untersagen sie ihren Beschäftigten das Recht auf Arbeitsstreik. Zwar haben sie als Ersatz für die betriebliche Mitbestimmung und für Betriebsräte zeitverzögert ein eigenes System der Mitarbeitervertretung geschaffen bzw. es schaffen müssen. Im Vergleich zum generell geltenden Arbeitsrecht ist diese kirchliche Architektur für die Arbeitnehmerseite jedoch nachteilig. Die Einzelprobleme sind in der juristischen Literatur oder von Gewerkschaftsseite (z.B. ver.di Bundesverwaltung 2020) immer wieder dargestellt worden.
Die Weichenstellung für die Entstehung des deutschen kirchlichen Arbeitsrechts erfolgte im Jahr 1952. Nach 1945 hatten die westlichen Siegermächte die Gewerkschaften, die der NS-Staat verboten hatte, wieder in ihre Rechte eingesetzt. Hieran anknüpfend musste der westdeutsche Nachkriegsstaat entsprechende gesetzliche Regelungen schaffen. Im Jahr 1952 wurde das Betriebsverfassungsgesetz beschlossen, dass die Mitbestimmung von ArbeitnehmerInnen und die Betätigung von Gewerkschaften regelte. Die Kirchen – federführend war die evangelische Kirche – wollten für ihren eigenen Bereich den „fremden“ Einfluss von Gewerkschaften verhindern. Nachdem Spitzenrepräsentanten der evangelischen Kirche bei Bundeskanzler Adenauer und weiteren Politikern interveniert hatten, wurden sie von den Bestimmungen des Betriebsverfassungsgesetzes (BetrVerfG) ausgenommen. Diese Freistellung ist in das Gesetz selbst hineingeschrieben worden; sie findet sich in § 118 Absatz 2 BetrVerfG.
Die damaligen Vorgänge sind umfassend dokumentiert. Im Ergebnis ist festzuhalten, dass die Herausnahme der Kirchen aus dem Gesetz des Jahres 1952, die schon damals äußerst umstritten war, keineswegs spezifisch oder vorrangig theologisch begründet war. Vielmehr ging es nach heutigem kirchengeschichtlichem Forschungsstand darum, dass die Kirche sich „vor allem für den Erhalt der eigenen Institution mit ihren Privilegien“ einsetzte (Smolarski 2019, zit. bei Kreß 2019/2020: 13).
Trotzdem behaupten die Kirchen heute, ihr Sonderstatus im Arbeitsrecht sei genuin religiös fundiert. Kirchliche Unternehmen seien als christliche Dienstgemeinschaft zu verstehen. Die theologischen Vorstellungen, die die Kirchen hiermit verbänden, müsse der Staat vollumfänglich hinnehmen. Denn der Staat habe ihr korporatives Selbstbestimmungsrecht zu respektieren, das ihnen durch Artikel 140 Grundgesetz in Verbindung mit Artikel 137 Absatz 3 der Weimarer Reichsverfassung garantiert werde.[1] Nachfolgend wird die verfassungsrechtliche Debatte ausgeklammert und geistesgeschichtlich angesprochen, wie der Begriff der „Dienstgemeinschaft“ einzuschätzen ist, den die Kirchen für ihr Sonderarbeitsrecht inzwischen als den Schlüssel- und Legitimationsbegriff schlechthin herausstellen.

„Dienst­ge­mein­schaft“– eine theolo­gi­sche Idee?

Im Jahr 2011 erließ die Synode der Evangelischen Kirche ihr Arbeitsrechtsregelungsgrundsätzegesetz, dem zufolge alle Beschäftigten in kirchlich getragenen Einrichtungen – übrigens auch diejenigen, die gar keine Kirchenmitglieder sind – am „Sendungsauftrag der Kirche“ mitwirken und einen „aus dem Glauben erwachsenen Dienst am Mitmenschen„leisten. Aufgrund dessen, dass alle Beschäftigten „geschwisterlich“ eine Dienstgemeinschaft unter Christus bilden, sei beispielsweise kein Arbeitsstreik zulässig. Denn ein Streik „unterbreche“ oder „suspendiere“ die Nächstenliebe und die hierdurch realisierte Heilsverkündigung, die in kirchlich getragenen Einrichtungen in Permanenz ausgeübt würden und nie „ausgesetzt“ werden dürften (so z.B. auch Robbers 2009: 43, 46, 103).
Nun ist im Jahr 2020 zum Begriff der Dienstgemeinschaft eine erhellende kritische Diskussion in Gang gebracht worden. Vier Autoren – drei Sozialpfarrer und ein Sozialwissenschaftler, die langjährig in der Evangelischen Kirche von Westfalen tätig gewesen waren – forderten die westfälische Kirchenleitung auf, durch „Beschlussfassungen zu bewirken, dass der Begriff ‚Dienstgemeinschaft‘ in Kirche und Diakonie aufgegeben wird und aus allen einschlägigen Gesetzen, Verlautbarungen und offiziellen Äußerungen in Kirche und Diakonie entfernt wird “ Der Begriff stelle für die Kirche „eine nicht tragbare Hypothek“ dar (Belitz u.a. 2020),[2] denn er entstamme dem Arbeitsrecht des NS-Staates. In ihrer kurzen Schrift – wenn man so will: einer Streitschrift – berufen sich die vier Autoren auf einschlägige akademische Literatur, die dies aufgearbeitet hat. Rechtsgeschichtlich nennen sie insbesondere das „Gesetz zur Ordnung der Arbeit in öffentlichen Betrieben und Verwaltungen„vom 23.3.1934 als wichtigen Ursprung des Begriffs.
In der Tat: Das NS-Gesetz wollte 1938 in der Arbeitswelt des Deutschen Reiches „eine Dienstgemeinschaft im Sinne der nationalsozialistischen Weltanschauung“ etablieren. Die aus der Weimarer Republik stammenden Tarifverträge sollten abgelöst, stattdessen sollten staatlich erlassene Entgeltordnungen eingeführt werden. Die Kirchen und ihre Wohlfahrtsverbände „Innere Mission“ (evang.) und „Caritas“ (kathol.) haben den NS-Begriff sowie die mit ihm verbundenen Vorstellungen in den 1930er Jahren schnell übernommen. Mit der Dienstgemeinschaft in ihrer völkischen und kirchlichen Dimension befasste sich im Jahr 1940 sodann eine juristische Dissertation. Ihr Autor, Werner Kalisch, meldete sich erneut 1952 in der Zeitschrift für Evangelisches Kirchenrecht zu Wort und empfahl den Kirchen, den Terminus weiterhin, jetzt im Sinn der Gemeinschaft unter Christus, zu verwenden.
An solche Vorgänge erinnerten die vier Autoren 2020 in ihrer Streitschrift. Zugleich zeichneten sie nach, dass sich die Theologie erst seit Neuerem in die Debatte einbringt. Dabei haben Theologen versucht, das Wort für die Kirche zu rehabilitieren, indem sie es nachträglich in eine Verbindung mit der Barmer Theologischen Erklärung aus dem Jahr 1934 brachten. In der Barmer Erklärung hatte sich ein kleinerer Teil der evangelischen Kirche, die Bekennende Kirche, gegen die Deutschen Christen und gegen die Vereinnahmung der Kirche durch den NS-Staat zur Wehr gesetzt. Allerdings findet sich der Begriff „Dienstgemeinschaft“ in der Barmer Erklärung nicht, die sich ohnehin nicht für kirchliche Dienstverhältnisse und für Fragen der Arbeitswelt, der Sozialordnung oder der Demokratie interessierte.
Der Text „Verhängnisvolle Dienstgemeinschaft“ fand 2020 in den Medien einige Resonanz. Bei den Kirchen stieß er ins Leere. Stimmen aus der Theologie kritisierten die Streitschrift, indem sie sagten, das Wort „Dienstgemeinschaft“ sei doch schon vor 1934 bekannt gewesen. Es lasse sich zumindest vereinzelt seit dem 19. Jahrhundert in unterschiedlichen Kontexten nachweisen. So sei aus dem Jahr 1803 die Dienstgemeinschaft von Lehnsherr und Vasall, aus dem Jahr 1827 die Dienstgemeinschaft von Kapitän und Schiffsbesatzung oder aus dem Jahr 1840 die Idee einer Dienstgemeinschaft mit Christus beim Abendmahl belegbar (Beese 2020).
Solche Hinweise stellen indessen nur eine Verlegenheitsauskunft dar und ändern nichts daran, dass das Wort eine NS-Konnotation besitzt, die von den Kirchen bis heute bagatellisiert wird. Sozialgeschichtlich und -politisch ist vor allem ein weiterer Aspekt wichtig. In den 1950er Jahren behielten die Kirchen jene Stoßrichtung bei, die dem Wort in der NS-Zeit zu eigen gewesen war: die Ausgrenzung der Gewerkschaften. Im Jahr 1952 war es für die Kirchen der springende Punkt gewesen, Gewerkschaften weiterhin aus ihren Einrichtungen herauszuhalten und mit ihnen keine Tarifverhandlungen führen zu müssen. D.h., der Sache nach waren die Kirchen an der im NS-Staat verankerten antigewerkschaftlichen Spitze des Wortes interessiert.
Heute: Exklusiver Sonderstatus der Kirchen oder „normaler“ Tendenzschutz?
Derzeit geraten in der Bundesrepublik die Kirchen als Arbeitgeber in die Defensive. Sie können Krankenhäuser, Kindertagesstätten, Pflegeeinrichtungen und sonstige Einrichtungen, die von ihnen getragen werden, überhaupt nur noch beibehalten, indem sie ArbeitnehmerInnen einstellen, die keine Kirchenmitglieder sind. Dies war in der Logik der „Dienstgemeinschaft“ eigentlich nicht gewollt, im Gegenteil. Bedrückend ist, dass sogar noch heute bei Einstellungsgesprächen auf BewerberInnen Druck ausgeübt wird, in die Kirche einzutreten.
Immerhin schaffen mittlerweile Gerichte Abhilfe. Im Jahr 2018 hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) zwei Urteile verkündet, die die Rechte der Beschäftigten gestärkt haben.[3] Die Kirchen haben gegen die Urteile des Europäischen Gerichtshofs vehement protestiert. Die evangelische Diakonie wandte sich gegen das sie betreffende Urteil („Fall Egenberger“) an das Bundesverfassungsgericht, indem sie gegen die Judikatur des Bundesarbeitsgerichts und des Europäischen Gerichtshofs Verfassungsbeschwerde einlegte. Hiermit versucht sie, den status quo des von ihr gesetzten Arbeitsrechts zu konservieren. Nach Stand der Dinge, jedenfalls ausweislich vorliegender juristischer Stellungnahmen, ist ihr Gang nach Karlsruhe zum Scheitern verurteilt. Überdies haben in der Bundesrepublik Deutschland Arbeitsgerichte bereits Urteile ausgesprochen, die den Vorgaben des Europäischen Gerichtshofs entsprechen. So hat das Arbeitsgericht Karlsruhe im Jahr 2020 einer Frau Entschädigung zuerkannt, weil die Kirche nicht belegen konnte, warum für die ausgeschriebene Sekretariatsstelle die Kirchenmitgliedschaft sachlich erforderlich sei (hierzu Kreß 2020b). Das Landesarbeitsgericht Stuttgart hat im Jahr 2021 bestätigt, das ein in einer evangelischen Kindertagesstätte beschäftigter Koch nicht gekündigt werden durfte, nur weil er aus der Kirche ausgetreten war (LTO-Redaktion 2021).
So bahnbrechend solche Gerichtsurteile sind, ist letztlich doch der Gesetzgeber gefordert. Viele Jahre lang hat er zu den Dilemmata des kirchlichen Arbeitsrechts geschwiegen. Konkret bietet sich an, § 118 Absatz 2 des Betriebsverfassungsgesetzes aufzuheben – also jenen Paragrafen, der die Kirchen im Jahr 1952 von Bestimmungen des Arbeitsrechts der Bundesrepublik Deutschland befreit und ihnen einen exklusiven Sonderstatus eingeräumt hatte. Nach der Streichung würde für sie dann § 118 Absatz 1 BetrVerfG gelten, nämlich der normale Tendenzschutz, den der Gesetzgeber generell Unternehmen mit „politischen, koalitionspolitischen, konfessionellen, karitativen, erzieherischen, wissenschaftlichen oder künstlerischen“ Zielen einräumt. Auf dieser Basis könnten kirchlich getragene Unternehmen weiterhin im Sinn ihres religiösen Ethos tätig sein. Aber sie könnten nicht mehr wie bislang in die Rechte von ArbeitnehmerInnen einschneiden. Insbesondere wäre es für sie nicht mehr möglich, sich im kollektiven Arbeitsrecht aus dem staatlich geltenden System der Mitbestimmung auszugrenzen und Tarifverhandlungen mit Gewerkschaften zu verweigern.
Sicherlich: Inzwischen übernehmen die Kirchen oft – sei es auch mit Abstrichen und zeitverzögert – die Ergebnisse von Tarifverhandlungen. Unverändert verwehren sie ihren Beschäftigten aber, sich aktiv, notfalls auch mit Arbeitsniederlegungen dafür einsetzen zu dürfen. Hierdurch verschaffen sie sich selbst Wettbewerbsvorteile und entmündigen ihre Beschäftigten dazu, Trittbrettfahrer der Tarifverhandlungen sein zu müssen, die die Gewerkschaften mit den sonstigen „weltlichen“ Arbeitgebern aushandeln. Die weltlichen ArbeitnehmerInnen – ärztliches Personal, Pflegekräfte, MitarbeiterInnen in Kindertagesstätten – verleihen der gewerkschaftlichen Verhandlungsposition unter Umständen mithilfe eines Arbeitsstreiks ihre Durchschlagskraft. Die von der Kirche Beschäftigten dürfen sich solchen Maßnahmen aufgrund des kirchlichen Arbeitsrechts nicht anschließen. Sie werden von der Kirche zur Passivität und zur Doppelmoral genötigt – ein Dilemma, das auch von den innerkirchlichen Mitarbeitervertretungen kritisiert wird.
Es ist noch aus anderen Gründen geboten, den fraglichen § 118 Absatz 2 BetrVerfG zu streichen: Es kommt nicht selten vor, dass Einrichtungen im Gesundheits- und Sozialwesen den Träger wechseln. Wenn zum Beispiel – wie 2016 im Saarland – eine kommunal getragene Klinik in kirchliche Trägerschaft überführt wird, gilt für die Beschäftigten künftig das kirchliche Arbeitsrecht. In der Konsequenz heißt dies, dass ein arbeits- und funktionsfähiger Betriebsrat aufgelöst werden muss. Soziostrukturell und im Blick auf die Wahrung der Interessen der Beschäftigten ist dies nicht akzeptabel.
Wie dringlich der politische Handlungsbedarf geworden ist, macht überdies ein sehr befremdlicher Vorgang vom Februar 2021 deutlich. Theoretisch herrscht in der Bundesrepublik Deutschland breiter Konsens, dass die Arbeitsbedingungen und die Entlohnung im Bereich der Pflege verbessert werden müssen. Ein Weg, dies zu erreichen, besteht darin, dass die Tarifparteien sich auf ein Lohnniveau einigen, das nicht unterschritten werden darf; das zuständige Ministerium kann dies dann zum Flächentarif erklären. Auf diese Weise könnten zumindest Lohndumping und Ausbeutung verhindert werden. Nun sind die Kirchen aufgrund des von ihnen beanspruchten „Selbstbestimmungsrechts“ und ihres arbeitsrechtlichen Sonderstatus keine Tarifpartner. Zu ihren Gunsten wurde rechtlich eigens eine Konstruktion geschaffen, der gemäß das zuständige Ministerium trotzdem einen Tarif für verbindlich erklären kann: und zwar dann, wenn zusätzlich die Kirchen als Nichttarifpartner zustimmen. Zweifelhaft ist, ob diese Privilegierung der Kirchen verfassungsrechtlich haltbar ist (Erfurter Kommentar 2021: Rn. 6). Doch nun der Paukenschlag: Die katholische Caritas hat am 25.2.2021 einem soeben ausgehandelten Mindesttarif für die Pflege ihre Zustimmung verweigert; die evangelische Diakonie agierte in ihrem Windschatten genauso. Vonseiten der Caritas war zu hören, man fürchte, der kirchliche Sonderweg, der „Dritte Weg“ mit seinem System der Dienstgemeinschaft könne unter Druck geraten. Die Süddeutsche Zeitung bezeichnete die kirchliche Haltung zutreffend als „in höchstem Maße egoistisch“ (SZ v. 26.2.2021), da sie für Hunderttausende Pflegekräfte schwere Nachteile erzeugt. Der Vorgang belegt, dass der Gesetzgeber aktiv werden und er die im Jahr 1952 geschaffene arbeitsrechtliche Sonder- und Ausnahmestellung der Kirchen aufheben sollte, die sich sozialpolitisch als kontraproduktiv erwiesen hat.
Ganz anders, nämlich völlig gegenteilig, äußern sich zurzeit Stimmen aus den Kirchen und aus der Theologie. Sie fordern sogar, den Kirchen für die von ihnen getragenen Einrichtungen neue, zusätzliche Sonderrechte einzuräumen. Der Anlass ist die aktuelle biomedizinisch-rechtspolitische Debatte zur Sterbehilfe bzw. zur Suizidhilfe.

Neue Sonder­rechte für die Kirchen? Theolo­gi­sche Voten zur Sterbehilfe

Dabei geht es darum, dass eine kleine Anzahl von Menschen angesichts ihres Krankheitsschicksals und ihres Leidens einen eigenverantworteten Suizid in Betracht zieht und zu diesem Zweck eine Ärztin / einen Arzt oder auch eine Sterbehilfeorganisation um Unterstützung bitten möchte. Im Jahr 2015 hat der Deutsche Bundestag in das Strafgesetzbuch einen neuen § 217 eingefügt, der eine solche Suizidbeihilfe faktisch unterbunden hatte. Die Kirchen hatten auf das Gesetz großen Einfluss genommen. Es entsprach sehr weitgehend den Vorstellungen, die besonders die evangelische Kirche vorgetragen hatte. Am 26.2.2020 wurde das Gesetz vom Bundesverfassungsgericht aufgehoben. Das Gericht betonte die Persönlichkeitsrechte und das Selbstbestimmungsrecht, die jedem einzelnen Menschen grundrechtlich zustehen.
Seitdem wird diskutiert, ob der Bundestag erneut ein Gesetz zur Suizidhilfe verabschieden soll und – falls man dies bejaht – wie das Gesetz auszugestalten ist. Zu Beginn des Jahres 2021 trugen TheologInnen in der Öffentlichkeit hierzu eine irrlichternde Debatte aus. Drei TheologInnen (Reiner Anselm, Ulrich Lilie, Isolde Karle) äußerten sich am 11.1.2021 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung dahingehend, evangelisch getragene Einrichtungen sollten die heutige Realität, d.h. die Akzeptanz von Suizidhilfe in der Gesellschaft, nicht länger verleugnen. Hierin ist ihnen zweifellos Recht zu geben. In ihrem Artikel werteten sie dann aber „die“ Sterbehilfeorganisationen pauschal ab und meinten, die evangelische Kirche selbst sei eine bessere Alternative. Kirchlich getragene Einrichtungen sollten ihrerseits zu aktiven „Anbietern“ von Suizidbeihilfe werden.
Mit ihrem Vorstoß wollten die drei TheologInnen offenbar das herkömmliche kirchliche Nein zur Suizidhilfe in Vergessenheit geraten lassen. Kirchlich und theologisch wurde ihnen sofort heftig widersprochen. Dies erfolgte u.a. am 25.1.2021 in der Frankfurter Allgemeinen. Die beiden Theologen Peter Dabrock und Wolfgang Huber stellten das individuelle Selbstbestimmungsrecht im modernen menschenrechtlichen Sinn erneut in Abrede, und zwar besonders schroff in Anbetracht des Umgangs mit menschlichem Leben und der Selbsttötung. Denn das Leben sei von Gott geschaffen worden. Andere Voten aus Theologie und Kirche schlossen sich an (Körtner 2021). Zwei Forderungen der Kirche kristallisieren sich heraus. Zum einen: Falls der Bundestag tatsächlich ein Gesetz mit Rahmenvorgaben zur Suizidhilfe beschließen sollte, solle er für die Kirchen eine „Schutzklausel“ einfügen und sie davon freistellen, Suizidhilfe in den von ihr getragenen Einrichtungen dulden zu müssen. Zum anderen: Wenn die Kirchen künftig Verträge mit Menschen abschließen, die in ihre Einrichtungen einziehen möchten, solle eine Verbotsklausel eingefügt werden. Die Klausel soll den BewohnerInnen von kirchlich getragenen Pflegeeinrichtungen verwehren, in dem von ihnen gemieteten Raum z.B. einen Arzt um Suizidhilfe zu bitten.
Diese beiden kirchlich-theologischen Forderungen sind entschieden zu kritisieren. Die erste Forderung versucht, den Pfad des Jahres 1952 nochmals zu verfestigen und für die Kirchen weitere Ausnahmeklauseln zu erwirken. Im Jahr 1952 waren sie von betrieblicher Mitbestimmung und Tarifverhandlungen befreit worden. Danach wurde ihnen z.B. im Jahr 2006 durch § 9 des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes zugestanden, ArbeitnehmerInnen aus religiösen Gründen diskriminieren zu dürfen. Im Jahr 2020 blieben die Kirchen von den Vorgaben des geplanten Anti-Lobbyregistergesetzes befreit (zutreffend kritisch Schwanitz 2020). Und nun soll ihnen künftig per Gesetz gestattet werden, sich über das Selbstbestimmungsrecht von PatientInnen oder Pflegebedürftigen hinwegsetzen zu dürfen, das vom Bundesverfassungsgesetz in seinem Suizidhilfe-Urteil vom 26.2.2020 für unhintergehbar erklärt worden ist. Diese kirchliche Forderung ist schon allein deshalb unhaltbar, weil sie individuelle Grundrechte beiseiteschiebt.
Das Gleiche gilt für den zweiten Vorschlag. Er empfiehlt, in die individuell abzuschließenden Bewohnerverträge eine Bestimmung einzufügen, die es BewohnerInnen kirchlicher Einrichtungen untersagt, Suizidhilfe in Anspruch zu nehmen. Schon im Jahre 2005 hatte der Bundesgerichtshof entschieden – damals bezogen auf Patientenverfügungen –, dass Heimverträge die Inanspruchnahme des Selbstbestimmungsrechts nicht verwehren dürfen (Bundesgerichtshof 2005). Es kommt hinzu, dass die Wohn- und Teilhabegesetze der Bundesländer sämtliche Heime dazu verpflichten, die Würde der BewohnerInnen zu achten. Zur Menschenwürde gehört die Würde des Sterbens hinzu, so wie sie sich aus der Sicht des Betroffenen selbst darstellt. Gegebenenfalls läuft dies für einzelne Menschen darauf hinaus, Suizidhilfe zu erbitten. Darüber hinaus greift die mittelbare Drittwirkung von Grundrechten. Für den Abschluss von Heimverträgen reklamieren die Kirchen juristisch für sich die Privatautonomie. Trotzdem sind sie nicht befugt, sich über die Persönlichkeitsrechte und die individuellen Selbstbestimmungsrechte von Menschen hinwegzusetzen.[4]

Ein skeptisches Fazit

Inzwischen ist deutlich geworden, dass die Kirchen nicht bereit sind, von sich aus auf ihren Sonderstatus im Arbeitsrecht und auf ihre Privilegien zu verzichten. In dieser Hinsicht ist eine äußerst skeptische Bilanz zu ziehen. In der Theologie finden sich nur wenige Äußerungen, die dieses Beharren der Kirchen substanziell kritisieren. Zu den wenigen Ausnahmen gehört die Schrift „Verhängnisvolle Dienstgemeinschaft“. Stattdessen herrscht in der Theologie einschließlich der akademischen Theologie die Tendenz vor, den in der Tat verhängnisvollen Begriff der Dienstgemeinschaft verspätet „retten“ zu wollen und auf einer eng gefassten Kirchlichkeit von Caritas oder Diakonie zu beharren – obwohl es sich bei den von ihnen im Gesundheits- und Sozialwesen erbrachten Dienstleistungen um öffentliche, weltliche Tätigkeiten handelt und obwohl die kirchlich getragenen Einrichtungen weitestgehend mit öffentlichen Mitteln refinanziert werden.
Die notwendigen Reformen werden von außen angestoßen werden müssen. Bislang waren es oft die Gerichte, die Modifikationen des kirchlichen Arbeitsrechts veranlassten. Eigentlich wäre aber der Gesetzgeber am Zuge. Er sollte sein Schweigen beenden, die Rechte der ArbeitnehmerInnen sichern und auch im Arbeitsrecht die Einheit der Rechtsordnung herstellen. Den Ursprung der arbeitsrechtlichen Sonderstellung der Kirchen bildete es, dass es ihnen 1952 gelang, sich durch die Ausnahmeklausel in § 118 Absatz 2 des Gesetzes aus dem Betriebsverfassungsgesetz herausnehmen zu lassen. Als Ansatzpunkt für heutige Reformen liegt es nahe, dass der Gesetzgeber diese fast 70 Jahre alte, nicht mehr zeitgemäße Ausnahmeklausel streicht.

Prof. Dr. Hartmut Kreß Jahrgang 1954, habilitierte 1989 und war von 1993 bis 2000 Professor für Systematische Theologie mit Schwerpunkt Ethik in der Theologischen Fakultät Kiel; von 2000 bis zu seiner Emeritierung (2019) hatte er eine Professor für Systematische Theologie, insbesondere Ethik, in der Evang.-Theol. Fakultät der Universität Bonn, Abt. Sozialethik. Derzeit ist er Lehrbeauftragter an der Juristischen Fakultät der Universität Düsseldorf. Seine Arbeiten behandeln Grundlagen und Anwendungsfragen der Ethik, insbesondere Medizinethik, Rechtsethik, Religions- und Weltanschauungsrecht.

Literatur

Beese, Dieter 2020: Veritable Option. Der Begriff Dienstgemeinschaft ist kein genuin nationalsozialistischer Begriff, in: zeitzeichen Jg. 21, H. 8, S. 21
Belitz, Wolfgang u.a. 2020: Verhängnisvolle Dienstgemeinschaft
Bundesgerichtshof 2005: Beschluss vom 8.6.2005, Az. XII ZR 177/03
Erfurter Kommentar zum Arbeitsrecht 21. Aufl. 2021: Arbeitnehmerentsendegesetz § 7a
Geismann, Anne 2020: Gleichgeschlechtliche Ehe und kirchliches Arbeitsverhältnis, Tübingen
Körtner, Ulrich 2021: Dem Leben dienen – bis zuletzt, online abrufbar unter
https://zeitzeichen.net/index.php/node/8835 Kreß, Hartmut 2019/2020: Gutachten – ethisch-rechtlich – zur Verfassungsbeschwerde des Ev. Werks für Diakonie und Entwicklung e.V. gegen das Urteil des BAG vom 25.10.2018 und gegen das Urteil des EuGH vom 17.4.2018, abgeschlossen am 3.9.2019, redaktionell überarbeitet am 21.9.2020, abrufbar unter
https://weltanschauungsrecht.de/kirchliches-arbeitsrecht-gutachten-verfassungsbeschwerde-diakonie Kreß, Hartmut 2020a: „Verhängnisvolle Dienstgemeinschaft“. Eingabe an die evangelische Kirche, 24.5.2020, abrufbar unter
https://weltanschauungsrecht.de/meldung/Eingabe-Kirche-Trennung-Begriff-Dienstgemeinschaft Kreß, Hartmut 2020b: ArbG Karlsruhe: Entschädigungsanspruch nach AGG aufgrund Benachteiligung wegen Religion, Anmerkung zum Urteil, 13.11.2020, abrufbar unter
https://weltanschauungsrecht.de/meldung/arbeitsgericht-karlsruhe-entschaedigung-nach-agg LTO-Redaktion 2021: Kündigung wegen Kirchaustritts unwirksam, abrufbar unter
https://www.lto.de/recht/nachrichten/n/lag-stuttgart-4sa27-20-kuendigung-koch-evangelische-kita-kirchanaustritt-unwirksam/ Robbers, Gerhard 2009: Streikrecht in der Kirche
Schwanitz, Rolf 2020: Lobbyregister-Gesetz sollte auch für Kirchen und Islamverbände gelten, abrufbar unter https://weltanschauungsrecht.de/meldung/lobbyregister-gesetz-fuer-kirchen-islamverbaende ver.di Bundesverwaltung 2020: Kirchliche Mitbestimmung im Vergleich

Anmerkungen:

[1] Zur ausführlichen Diskussion der verfassungshistorischen und rechtlichen Probleme dieser Annahme s. Schlink und Möllers in diesem Heft; s. hierzu auch Kreß 2019/2020.
[2] Hierzu auch Kreß 2020a sowie Kluthe in diesem Heft.
[3] Dazu ausführlich der Beitrag von Frings sowie die Diskussion in Panel 1 in diesem Heft.
[4] Zu dieser Frage tauschte sich der Verfasser dieses Beitrags mit dem Münchner Rechtsanwalt Wolfgang Putz aus, der als Prozessvertreter die Entscheidung des Bundesgerichtshofs aus dem Jahr 2005 bewirkt hatte. Der Kürze halber bezeichnete Putz die Kirchen als Tendenzbetrieb und schrieb: „ich sehe es als verfassungswidrig an, wenn Tendenzbetriebe in ihren Einrichtungen die Realisierung von Grundrechten durch ihre Bewohner ausschließen wollen“ (briefliche Äußerung vom 23.2.2021, zitiert
mit Einwilligung von W. Putz).

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